Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil.
Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885])
(Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, XXVII-XXXI
Pariser Reise
Viel länger, als es in ihrem Plane stand, verweilten die beiden Reisenden in Dresden.
Endlich nach einem Ausfluge nach Moritzburg, Pillnitz, Tharand, Freiberg, Teplitz,
Lowositz und Aussig, entschlossen sie sich zur Weiterreise. Der Abschied
von den Freundinnen war wehmütig. Die eine der Schwestern von Schlieben weinte aus vollem
Herzen; ohne Zweifel war es Karoline, die obendrein den Reisenden Empfehlungen und Grüße
an ihren Bräutigam Lohse mitgab. Da die Reisenden mit eigenen Pferden zu fahren vorzogen,
was das Beste war, was man damals bei dem schlechten Stand der Posten und Wege thun
konnte, so hatte Einsiedel ein gutes Gespann für sie gekauft, das der aus Berlin
mitgebrachte Diener Johann, den ihnen Karl v. Zenge abgetreten, trefflich
zu führen übernahm. So zogen sie denn ihre Straße weiter, wie die alten Ritter
von Burg zu Burg wandernd und überall gar ein freundliches Wort mit den
Leuten wechselnd; denn sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, in jeder Stadt die
Würdigsten, die Lehrer der Menschheit aufzusuchen. In Leipzig
schloß sich Kleist mit besonderer Zuneigung an den alten Professor der Mathematik und
Physik Hindenburg an, und Ulrike wohnte einer öffentlichen Vorlesung des
Physiologen und Philosophen Platner bei der Verabredung mit diesem
gemäß in Mannskleidern, um Störungen zu vermeiden. In Halle wurde der
Mathematiker Klügel, in Göttingen wurden Blumenbach,
Weisberg u. a. aufgesucht. Zu Halberstadt fand Kleist in dem
alten Gleim einen der rührendsten und interessantesten Greise,
der die Verwandten seines verehrten Christian Ewald v. Kleist herzlich willkommen
hieß und ihnen die bekannte Anekdote, wie er einst den Freund durch einen Scherz des
Zufalls zum Dichter gemacht, mit leicht zu erratender Wirkung erzählte. Der Alte
fürchtete, Kleist würde in Frankreich ein Franzose werden, aber unser Poet versprach
ihm, als Deutscher zurückzukommen. Dann ging die Fahrt ins Harzland hinein.
In Wernigerode fanden beide an der Stolbergschen Familie großes
Wohlgefallen; bei Goslar fuhren sie in den Rammelsberg und
wanderten am 31. Mai von Ilsenburg aus auf den Brocken, den
Kleist in früheren Jahren schon einmal mit Rühle bestiegen hatte. In Göttingen
wurde, indessen das Herz weint, ein Ball mitgemacht; über Kassel
ging es nach Frankfurt am Main, nachdem sie zuvor in dem Städtchen Butzbach
durch eine Unart ihrer Pferde in Lebensgefahr geraten waren. In Rödelheim
fand Kleist einen Menschen, den er fast den besten nennen möchte, doch giebt
er über dessen Person keinen Aufschluß; in Mainz gings zu Schiffe den
Rhein hinab eine Gegend wie ein <XXVIII:> Dichtertraum. Der
alte deutsche Strom schien ihm ein Ebenbild oder Vorbild zu sein. Am ersten Tage kamen sie
bis Koblenz, am zweiten, wo sie bis Köln reisen wollten, mußten
sie des Sturmes wegen in einem trierschen Dorfe landen; um 11 Uhr in der Nacht
schifften sie sich wieder ein, aber der Sturm brach wieder so heftig los, daß die
Schiffer das Fahrzeug nicht lenken konnten und die ganze Gesellschaft in Schrecken gesetzt
wurde. Ach, schreibt er der Braut, es ist nichts ekelhafter als diese
Furcht vor dem Tode. Das Leben ist das einzige Eigenthum, das nur dann etwas werth ist,
wenn wir es nicht achten. Verächtlich ist es, wenn wir es nicht leicht fallen lassen
können, und nur der kann es zu großen Zwecken nützen, der es leicht und freudig
wegwerfen könnte. Wer es mit Sorgfalt liebt, moralisch todt ist er schon; denn seine
höchste Lebenskraft, es opfern zu können, modert, indessen er es pflegt. Und
doch, o, wie unbegreiflich ist der Wille, der über uns waltet!
dieses räthselhafte Ding, das wir besitzen, wir wissen nicht von wem, das uns fortführt,
wir wissen nicht wohin, noch ob wir darüber schalten dürfen, eine Habe, die nichts werth
ist, wenn sie uns etwas werth ist, ein Ding wie ein Widerspruch, flach und tief, öde und
reich, würdig und verächtlich, vieldeutig und unergründlich, ein Ding, das Jeder
wegwerfen möchte wie ein unverständiges Buch; sind wir nicht durch ein Naturgesetz
gezwungen, es zu lieben? Wir müssen vor der Vernichtung beben, die doch nicht so qualvoll
sein kann wie oft das Dasein, und indessen Mancher das traurige Geschenk des Lebens
beweint, muß er es durch Essen und Trinken ernähren und die Flamme vor dem Erlöschen
hüten, die ihn weder erleuchtet noch erwärmt.
Überhaupt war seine Stimmung
auf dieser ganzen Reise fast ununterbrochen eine sehr unglückliche. Bald vernachlässigte
er sein Tagebuch, weil ihm vor allem Schreiben ekelt. Er schreibt auch nicht
an die Seinigen, und seine Briefe an die Braut sind kurz und selten. Sie verlangt von der
Geschichte seines Inneren etwas zu wissen, aber er scheut das geschriebene Wort, weil es
ewig ist, und deutet nur dunkel an, daß er sein wahres Ziel ahnt. Auch die Gesellschaft
der extravaganten, energischen Schwester war ihm kein Trost. Ich kann Ulrike Alles
mittheilen, klagt er der Braut, nur nicht was mir das Theuerste ist. Du
glaubst auch nicht, wie ihr lustiges, zu allem Abenteuerlichen aufgewecktes Wesen gegen
mein Bedürfniß absticht
Ich ehre Ulrike ganz unbeschreiblich, sie trägt in
ihrer Seele Alles was achtungswürdig und bewunderswerth ist; Vieles mag sie besitzen,
Vieles geben können, aber es läßt sich, wie Göthe sagt, nicht an ihrem Busen
ruhen. Und Karolinen v. Schlieben klagt er: Ich wäre auf dieser einsamen
Reise, die ich mit meiner Schwester machte, sehr glücklich gewesen, wenn
wenn Ach, liebe Freundin, Ulrike ist ein edles, weises,
vortreffliches, großmüthiges Mädchen, und ich müßte von allem diesen nichts sein,
wenn ich das nicht fühlen wollte. Aber so viel sie auch besitzen, so viel sie
auch geben kann, an ihrem Busen läßt <XXIX:> sich doch nicht ruhen Sie
ist eine weibliche Heldenseele, die von ihrem Geschlechte nichts hat, als die Hüften, ein
Mädchen, das orthographisch schreibt und handelt, nach dem Takte spielt und
denkt Doch still davon. Auch der leiseste Tadel ist zu bitter für ein
Wesen, das keinen Fehler hat, als diesen, zu groß zu sein für ihr Geschlecht.\1\
Von Mannheim
reisten sie Mitte Juni nach Straßburg. Sie beabsichtigten jetzt, nach der
Schweiz und von dort aus nach Paris zu gehen, aber man erzählte ihnen so viel von der
Pracht der Friedensfeste, die, dem ewigen Frieden von Luneville zu Ehren, am
14. Juli gefeiert werden sollten, daß sie sich entschlossen, direkt der
französischen Hauptstadt entgegenzustreben. Jetzt durften sie aber keinen Tag mehr
verlieren, um zur rechten Zeit hinzukommen. Am 20. Juni verließen sie Straßburg. In
acht Tagen wurde, ohne auszuruhen, der Weg bis Paris, 120 Poststunden, oft
14 Stunden an einem Tage, mit dem Wagen zurückgelegt. In den ersten Julitagen zogen
die Reisenden in Paris ein. Wenn man sich Kleists Stimmung vergegenwärtigt,
so begreift man, daß er, obgleich er mit Scharfsinn und Geist beobachtete, nur die
Nachtseiten, den Untergang und die Zerstörung im Babel an der Seine sah. Er schien keine
Ahnung zu haben, daß diese Affen der Vernunft, wie er die Franzosen nannte,
binnen kurzem die Karte von Europa umgestalten, sein eigenes Vaterland an den Rand des
Abgrunds bringen und die Welt mit ihrem Waffenruhm erfüllen würden. Ein griesgrämiger
aber tief sittlicher Philosoph, spottet er über die frivolen Freuden der Weltstadt und
fragt sich, wozu Rousseau gelebt habe. Ich kann Dir nicht beschreiben, heißt
es in einem Briefe an die Braut, welchen Eindruck der erste Anblick dieser höchsten
Sittenlosigkeit bei der höchsten Wissenschaft auf mich machte. Wohin das Schicksal diese
Nation führen wird? Gott weiß es! Sie ist reifer zum Untergange als irgend
eine andere europäische Nation. Und an die goldene Schwester Luise
schreibt er einen ergötzlichen satirischen Brief, worin Paris sehr übel behandelt wird.
Zu dem täglichen Verkehr der Geschwister, die in der Rue Royer wohnten, gehörte die
Tochter des berühmten Astronomen Lefrançais de Lalande, der um 1751 von der
französischen Akademie zu wissenschaftlichen Zwecken nach Berlin geschickt worden
war, Alexander von Humboldt, der bald darauf nach Deutschland zurückreiste,
und der preußische Gesandte Marquis <XXX:> von Lucchesini\1\; durch die beiden letzteren ward er mit
einigen französischen Gelehrten bekannt. Nur kurze Zeit besuchte er die Vorlesungen.
Die Menschen sprachen mir von Alkalien und Säuren, indessen mir ein allmächtiges
Bedürfniß die Lippen trocknet. Bald mied er auch die Gesellschaft. Er
gestand der Braut, daß er die Wissenschaften ganz aufgegeben. Der Dichter regte sich in
ihm. Ich habe den Lauf meiner Studien plötzlich unterbrochen und werde das
Versäumte hier nachholen; aber nicht mehr blos um der Wahrheit willen, sondern für
einen menschenfreundlicheren Zweck
Ich bedarf Gewißheit und
Sicherheit in der Seele zu dem Schritte, der die ganze Bahn der Zukunft bestimmen soll.
Ich will mich nicht mehr übereilen. Thue ich es noch einmal, so ist es das letzte
Mal. Denn ich verachte alsdann entweder meine Seele oder die Erde, und trenne sie
Ich habe mir in einsamer Stunde ein Ideal ausgearbeitet. Aber ich begreife
nicht, wie ein Dichter hier nennt er das Wort zum
erstenmal! das Kind seiner Liebe einem so rauhen Haufen, wie die
Menschen sind, übergeben kann. Bastard nennen sie es. Dich wollte ich wohl in
das Gewölbe führen, wo ich mein Kind, wie eine vestalische Jungfrau das
ihrige, heimlich aufbewahre bei dem Schein der Lampe. Um diese Zeit mag
er sich gewiß wieder mit Robert Guiskard beschäftigt haben.
Indessen wurde sein
Verhältnis zur Schwester immer unleidlicher. Ulrike scheint sein Dichtergeheimnis in
Paris, wenn nicht schon früher, entdeckt zu haben. Sie billigte es nicht, denn sie
glaubte schwerlich an sein Talent. Der reizbare Kleist setzte ihr seine ganze
Empfindlichkeit entgegen. Es kam zu peinlichen Kämpfen. Man verdarb sich gegenseitig die
Tage und beschloß, sich zu trennen. Ulrike strebte nach Hause zurück; für seinen Teil
wollte und konnte Kleist an eine Heimkehr nicht denken, denn zu Hause hatte man
unerfüllbare Hoffnungen in ihn gesetzt und drohte ihm mit einem Amte. Der Rousseausche
Geist des Widerwillens gegen alle Civilisation und die Sehnsucht nach der einfachen Natur
kamen über ihn. Er sehnte sich nach einem Asyl, wo er als verunglücktes
Genie unerkannt leben und seinen Kohl pflanzen oder ungestört den gnädigen Musen
opfern könnte. Ulrike, die zunächst von dem Plane erfuhr, widersetzte sich ihm. Ahnte
sie, daß sich hinter dem Landmann nur der Poet verstecke? Einmal versichert er seiner
Braut, daß er nur Ruhe vor dem Ehrgeize suche. Weißt Du, was die alten Männer
thun, wenn sie fünfzig Jahre lang um Reichthümer und Ehrenstellen gebuhlt haben? Sie
lassen sich auf einen Herd nieder und bebauen ein Feld. Dann, und dann erst nennen sie
sich weise! Sage mir, könnte man nicht klüger sein und früher dahin gehen,
wohin man am Ende doch soll?
Was meinst Du? Ich habe nur noch etwas Vermögen;
doch wird es hinreichen, mir etwa in der Schweiz einen Bauerhof zu kaufen,
<XXXI:> der mich ernähren kann, wenn ich selbst arbeite. Ich will im
eigentlichen Verstande ein Bauer werden, mit einem etwas wohlklingenderen Worte, ein
Landmann. Was meine Familie und die Welt dagegen einwenden möchte, wird mich
nicht irre führen
Wenn es möglich wäre, daß Deine Begriffe von Glück hier
mit den meinigen zusammenfielen!
Wenn Du mir dieses Opfer bringen könntest!
Deine Erziehung, Deine Seele, Dein ganzes bisheriges Leben ist von der Art, daß es einen
solchen Schritt nicht unmöglich macht.
\1\ Diese Stelle wurde von Bülow
unterdrückt. Aus dem nämlichen Briefe, der uns im Original vorlag, tragen wir noch
folgenden von Bülow gestrichenen Passus zu S. 198 (nach: Pferde) nach, der beweist,
wie unkritisch der Herausgeber mit seinem Material umging: Wir haben sie [die
Pferde] unaufhörlich gebraucht, sie haben uns nie im Stiche gelassen, und wenn wir
14 Stunden an einem Tage gemacht hatten, so brauchten wir sie nur vollauf mit Haber
zu füttern und ein wenig schmeichelnd hinter den Ohren zu kitzeln, so zogen sie uns am
folgenden Tage noch 2 Stunden weiter. In 8 Tagen haben wir ohne auszuruhen von
Straßburg bis Paris 120 Poststunden gemacht Hier nun haben wir sie
verkauft, und nie ist mir das Geld so verächtlich gewesen, als der Preis für diese
Thiere, die wir gleichgültig der Peitsche des Philisters übergeben mußten, nachdem sie
uns mit allen ihren Kräften gedient hatten. Uebrigens war dieser Preis mit 13 franz.
Louisdor circa 87 Thlr., also nur 2 Thaler Verlust.
\1\ Nachmals preußischer Staatsminister,
geborener Italiener, nahm 1806 nach dem Waffenstillstand (Jena), den der König nicht
genehmigte, seinen Abschied, starb 1825 in Florenz.
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