Heinrich
Zschokke, Eine Selbstschau. 2 Bde. (Aarau: Sauerländer 1842), Bd. 1 (Das Schicksal
und der Mensch) (a:) 204-206; (b:) 217
Schweizer Aufenthalt, Der zerbrochne Krug
<a:>
Beginnender
Gemüthsfrieden.
Unter zahlreichen, lieben Bekannten, deren
Umgang den Winter mir verschönte, befanden sich
zwei junge Männer meines Alters, denen ich mich am liebsten hingab. Sie athmeten fast
einzig für die Kunst des Schönen, für Poesie, Literatur und schriftstellerische Glorie.
Der eine von ihnen, Ludwig Wieland, Sohn des Dichters, gefiel mir durch Humor
und sarkastischen Witz, den ein Mienenspiel begleitete, welches auch Milzsüchtige zum
Lachen getrieben hätte. Verwandter fühlt ich mich dem andern, wegen seines
gemüthlichen, zuweilen schwärmerischen, träumerischen Wesens, worin sich immerdar der
reinste Seelenadel offenbarte. Es war Heinrich von Kleist\1\. Beide gewahrten in mir einen wahren Hyperboräer, der von der
neuesten poetischen Schule Deutschlands kein Wort wußte. Göthe hieß ihr
Abgott; nach ihm standen Schlegel und Tiek am höchsten, von denen
ich bisher kaum mehr, als den Namen, kannte. Sie machten mirs zur Todsünde, als ich
ehrlich bekannte, daß ich Göthes Kunstgewandtheit und Talentgröße mit
Bewunderung anstaunen, aber Schillern mehr, denn bewundern, daß ich ihn
lieben müsse, weil sein Sang, naturwahr, aus der Tiefe deutschen Gemüthes, begeisternd
ans Herz der Hörer, nicht nur ans kunstrichternde Ohr, schlage. Wieland
wollte sogar den Sänger des Oberon, seinen Vater, nicht mehr Dichter heißen. Das gab
unter uns manchen ergötzlichen Streit. <205:>
Zuweilen theilten wir uns auch freigebig von eignen poetischen
Schöpfungen mit, was natürlich zu neckischen Glossen und Witzspielen den ergiebigsten
Stoff lieferte. Als uns Kleist eines Tages sein Trauerspiel Die Familie
Schroffenstein vorlas, ward im letzten Akt das allseitige Gelächter der
Zuhörerschaft, wie auch des Dichters, so stürmisch und endlos, daß, bis zu seiner
letzten Mordscene zu gelangen, Unmöglichkeit wurde. Wir vereinten uns auch, wie Virgils
Hirten, zum poetischen Wettkampf. In meinem Zimmer hing ein französischer Kupferstich, la cruche cassée.
In den Figuren desselben glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter
mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge, und einen großnasigen Richter zu erkennen.
Für Wieland sollte dies Aufgabe zu einer Satyre,
für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden.
Kleists zerbrochner Krug hat den Preis davongetragen.
Kleist verlebte noch einen schönen Sommer
an den Ufern des Thuner-Sees, wo er ein kleines Landhaus gemiethet hatte\2\, bis er <205:> mit seiner Schwester, die er nach Genua begleiten sollte, im Herbst die Schweiz
verließ.
<b:>
Einsamkeit und Liebe.
- Der Frühling des Jahres 1802 war erschienen. Ich sehnte mich
recht sehr nach jener Abgeschiedenheit vom Weltgetümmel, die mich einst in Reichenau
beglückt hatte. Doch, nach Graubünden zurück, lockte mich einstweilen noch kein
Gelüst. Denn dort waren nun beide kämpfenden Parteien, Sieger wie Besiegte, während der
Staatsumwälzungen und Empörungen, und Kriege zwischen Franzosen, Österreichern, Russen,
dem gemeinschaftlichen Unglück unterlegen; jede nun tief gebeugt, und jede der andern die
Schuld der allgemeinen Zerstörung beimessend. Durft ich da ein freundliches Gesicht
erwarten? Ich zog vor, mich in einer anmuthigen Landschaft des Kantons Aargau
anzukaufen, wo ich unbekannt wohnen, und dem wilden, aber fruchtlosen Gezänke politischer
Faktionen fern stehen könnte. Noch einmal, beim Abschiede,
bat ich den guten Reding, im Einverständniß mit den einsichtsvollsten und
redlichsten Häuptern jeder Partei, Versöhnung Aller zu versuchen, und durch Ausgleichung
ihrer gegenseitigen Forderungen, gegenseitiges Vertrauen und innern Frieden des
Vaterlandes herzustellen. Allerdings fand ich selber die Aufgabe schwierig; er sie
unmöglich. Er wähnte sich auf den Willen des ganzen Schweizervolks stützen zu können,
den er nicht kannte.
Ich verließ mit trauriger Ahnung ihn, und bald
darauf Bern. Kleist und Wieland begleiteten mich auf
der Fußwanderung nach Aarau. Wir wählten eben nicht den nächsten Weg. Man
mag sich leicht das ergötzliche Umherfahren der drei jungen Poeten vorstellen, die
überall Paradiese und Wüsten, Göttinnen und Ungeheuer sahn, wo sie kein andres Auge
fand. Es war das Umherschwärmen von Schmetterlingen, die der winterlichen Verpuppung eben
entschlüpft, über Wiesen gaukeln, von jeder Blume gelockt, von keiner gehalten.
<Fußnote S. 204:> \1\ Noch immer den
Deutschen ein Liebling in ihrer Dichterschaar. Er endete beklagenswerth 1811.
<Fußnote S. 205:> \2\ In einem seiner Briefe von Thun, bald nach unsrer
Trennung geschrieben, sagte er unter Anderm: Was mich betrifft, wie die Bauern
schreiben, so bin ich, ernsthaft gesprochen, recht vergnügt, denn ich habe die alte Lust
zur Arbeit wieder bekommen. Wenn Sie mir einmal mit Geßner die Freude Ihres Besuchs
schenken werden, so geben Sie wohl Acht auf ein Haus an der Straße, an dem folgender Vers
steht:
Ich komme, ich weiß nicht, von wo?
Ich bin, ich weiß nicht, was?
Ich fahre, ich weiß nicht wohin?
Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.
Der Vers gefällt mir ungemein, und ich kann ihn nicht ohne Freude denken, wenn ich
spazieren gehe. Und das thu ich oft und weit; denn die Natur hat hier, wie Sie wissen, mit
Geist gearbeitet; und das ist ein erfreuliches Schauspiel für einen armen Kautz aus
Brandenburg, wo, wie Sie auch wissen, die Künstlerin bei der Arbeit eingeschlummert zu
seyn scheint. Jetzt zwar sieht auch hier noch unter den Schneeflocken die Natur, wie eine
achtzigjährige Frau aus; aber man sieht ihr doch an, daß sie in ihrer Jugend schön
gewesen seyn mag. Ihre Gesellschaft vermisse ich hier sehr; denn außer den
Güterverkäufern kenne ich nur Wenige; etwa den Hauptmann von Mülinen und seine
Hofmeister, angenehme Männer. Die Leute glauben hier durchgängig, daß ich verliebt sey;
bis jetzt aber bin ich es aber noch in keine Jungfrau, als etwa höchstens in die, deren
Stirn mir den Abendstrahl der Sonne zurückwirft, wenn ich am Ufer des Sees stehe.
Winter] Kleist erreichte Bern
Ende Dezember 1801
Kupferstich] Le juge ou la chruche
cassée, Jean Jaques Le Veaus Kupferstich nach dem Gemälde von Louis-Philibert
Debucourt (heute im Besitz der Stadt- und Universitätsbibliothek Bern; Abb. in BKA I/3,
422), gehörte wahrscheinlich zu den Blättern, die Zschokke 1795 in Paris erwarb; in der
Selbstschau, 73f., schreibt er zu seinen Pariser Kunsterwerbungen: Ich
verweilte nicht länger in Paris, als eben nöthig, eine auserlesene Sammlung von
Handzeichnungen und Kupferstichen, zum Behuf der künftigen Künstlerwerkstatt,
zusammenzukaufen. Ich bekam solche Schätze wohlfeilen Preises, weil man sie
wahrscheinlich noch wohlfeiler aus geplünderten Schlössern erworben haben mochte. Dann
rief ich Freunden und Bekannten mein Lebewohl, packte ein, und eilte (
) nun den
Schweizergränzen zu, um noch einige demokratische Hirtenländer zu mustern, und mir
vorläufig den bewußten Felsenwinkel zu suchen. cf. >> Heinrich Zschokke, Ausgewählte Schriften 22 (Aarau:
Sauerländer 1825), 5
Satyre] cf. >> Heinrich
Zschokke, Ausgewählte Schriften 22 (Aarau: Sauerländer 1825), 5
Genua] vmtl. Jena
Briefe] Thun, 1. 2. 1802; cf. Eduard v. Bülow, Ueber
Heinrich von Kleists Leben, in: Monatblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung
(November 1846), 512-530
Abschiede] cf. >> Heinrich Zschokke, Eine Selbstschau. Erster Theil: Das
Schicksal und der Mensch (Aarau: Sauerländer 1842). (a:) 204-206; (b:) 217
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