Ludwig Tieck (Hrsg.), Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften (Berlin: Reimer
1821), Vorrede, LXX-LXXIV
Prinz Friedrich von Homburg, Tiecks Haltung zu Kleist
Nun folgt die Scene, die, wenn man nicht ganz mit dem Dichter einverstanden ist, bei
vielen wegen ihrer Kühnheit Erstaunen, wo nicht Unwillen erregen wird. Kleist, der es
immer liebte, auch das Ungeheure und Gräßliche nicht zu verhüllen, hat hier als ächter
Dichter, ohne uns durch Fingerzeige und Reflexionen den innerlichen Zusammenhang zu
erklären, die Sache für sich selbst <LXXI:> reden lassen, es ist seine Absicht,
und muß es sein, daß diese Scene erschrecken soll, und deshalb nannte ich sie kühn.
Unter so vielen hergebrachten Angewöhnungen der Bühnenwelt ist auch die, daß die
Todesfurcht unter keiner Bedingung in ihrer ganzen Gräßlichkeit in edlen Gemüthern
erwachen darf. Kleist aber, der ohne Zweifel das Leben nicht zu hoch achtete, oder den Tod
feige fürchtete, läßt seinen Helden, von diesem Schrecken ergriffen und vernichtet, in
Gegenwart seiner Geliebten, auf die er zugleich unedel verzichtet, wie ein Sklave um sein
Leben betteln. Derselbe wilde Traum, der ihn in seinem Wahne über Alexander und Cäsar
erhob, wirft ihn nun, da seine Zauber brechen, unter den gemeinsten Knecht hinab. Dies
erschüttert, vernichtet Natalien mit ihm, und mit dem Gefühl von der Armseligkeit des
Höchsten und Herrlichsten tritt sie knieend vor ihren Oheim, um für den zu bitten, der
vor kurzem noch das Ideal ihrer Phantasie war, und von dem nun aller Schmuck der
Menschheit so abgefallen ist, daß er nichts mehr als nur das nackte Leben des Thieres mit
seinen Wünschen noch umfassen kann. Diese Scene ist wahrhaft erschütternd, denn wir
beweinen in ihr das Loos der Menschheit selbst. <LXXII:> Der Fürst sagt ihm Gnade
zu, Natalie selbst überbringt ihm den Brief, und an diesem erwacht erst der Prinz und
findet sich, die Welt und Wahrheit wieder. Der Wahn verläßt ihn, und er reift am Gefühl
des Rechtes schnell zum Mann und Helden, da er vorher auch in seiner Tapferkeit nur
Traumgestalt war. Im fünften Akt, da die Theilnahme, die indeß immer gewachsen ist, auf
den höchsten Punkt führt und das Werk krönt, erscheint der Churfürst in seiner
höchsten Würde; Kottwitz als Freund des Prinzen spricht die herzlichsten Worte, der
Prinz selbst erhebt sich über sich und alle Schwächen der Menschheit, und das Ganze
schließt nach der großen Erschütterung lieblich und wundersam, wie es begonnen hatte.
Bei dieser glücklichen Vollendung des Ganzen, ist es dem Dichter kein Vorwurf, daß er
hie und da von der Wahrheit der Geschichte abgewichen ist, und selbst aus seinem Helden
einen Jüngling gemacht hat, der damals schon ein bejahrter Mann war.
Sehn wir nun auf die ganze Laufbahn des Dichters zurück, so können wir sagen, daß er
sich <LXXIII:> zum größten Vortheil von den meisten seiner Zeitgenossen
auszeichnet, daß er, wenn er auch den Stoff, den er erwählt, nach der Art beugte und
ummodelte, die ihm und seiner Gesinnung zusagte, er dennoch fast nie Wahrheit und Natur
seinen Gewohnheiten und Gelüsten aufopferte; was er zu seinen Dichtungen ergriff, stellte
sich freilich sogleich in seiner Lieblingsform vor ihn, aber innerhalb dieses gegebenen
Umkreises machte er dann sehr ernste und mühsame Studien nach der Natur, und schob nicht
Nebelgebilde statt der Wirklichkeit unter. Wenn er also auch nicht von der freiesten Höhe
die Kunst übersah und beherrschte (was nur den Auserwähltesten vergönnt ist), so war er auf
eine Weise, die zu loben ist, ein großartiger Manierist, wenn man diesen Ausdruck, nach
den obigen Erklärungen, richtig versteht. Seine Bahn war noch nicht zu Ende, und sein
letztes Werk, welches zugleich sein bestes ist, berechtigt zu der Erwartung, daß er noch
weit mehr hätte leisten können.
Meine große Achtung, meine Vorliebe für die poetischen Hervorbringungen dieses edlen
Charakters haben mich bewogen, diesen Nachlaß her- <LXXIV:> auszugeben. Ich hoffe,
man soll mich keiner zu großen Partheilichkeit für ihn beschuldigen, so wie die Freunde
seiner Muse mich nicht anklagen werden, seinen Werth nicht anerkannt zu haben. Vielleicht
gewinnt er jetzt die Theilnahme für seine Arbeiten, die er bei seinem Leben nicht finden
konnte.
Wäre ich mehr unterstützt worden, so hätte ich gern umständlicher das Leben dieses
trefflichen und unglücklichen Mannes erzählt, jetzt muß ich fürchten, daß selbst in
dem Wenigen, das ich gegeben habe, sich manche Unrichtigkeiten finden. So wird mein
Versuch hoffentlich doch die Veranlassung sein, diese zu berichtigen.
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