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Ludwig Tieck (Hrsg.), Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften (Berlin: Reimer 1821), Vorrede, LXXIV-LXXVIII

Karl Wilhelm Ferdinand Solger über Kleist


Zum Schluß füge ich noch aus einem Briefe vom 4ten Oktober 1817, das Urtheil eines Mannes über diese Schriften hinzu, dessen Einsicht ich immer weit über die meinige setzte; es rührt von meinem, der Literatur und der Philosophie zu früh verstorbenen Solger her. Er sagt in seinem Briefe:

„Ich gestehe, daß ich anfänglich gegen Kleist das Mißtrauen hatte, welches uns jetzt wohl ge- <LXXV:> gen jeden angehenden, und die Töne der Zeit stark anschlagenden Dichter natürlich ist. In der Penthesilea, im Käthchen von Heilbronn fand ich immer ein sehr hervorstechendes poetisches, aber wenig eigentlich dramatisches Talent. Was ihn mir den Dichtern der Zeit gleich stellte, war der große Werth, den er auf gesuchte Situationen und Effekte, und besonders auf den Gehalt einzelner Charaktere legte, wie auch ein absichtliches Streben, über das Gegebene und Wirkliche hinweg zu gehen, und die eigentliche Handlung in eine fremde, geistige oder wunderbare Welt zu versetzen, kurz ein gewisser Hang zu dem willkührlichen Mystizismus, der am Ende mehr interessant als wahr und tief sein will. Was ihn mir dagegen weit über unsre Dichterlinge erhob, das war sein tiefes und oft erschütterndes Eindringen in das Innerste des menschlichen Gefühls, das er mir nur oft zu hart und roh an das Licht riß, und die außerordentliche energische und plastische Kraft der äußern Darstellung, wovon wir in den Schattenspielen unsrer *** bei allem Bombast so wenig finden. Diese Eigenschaften äußerte er vorzüglich in seinen Erzählungen, welches Fach ich daher für seinen eigentlichen Beruf hielt. Auch zeigte sich <LXXVI:> hier seine Behandlung der Charaktere bedeutender; es schien seine Hauptrichtung, diese ganz aus den Begebenheiten zu entwickeln, welches auch der Erzählung angemessen war; und dieser Hang begünstigte auch seine Neigung zu trüben, tragischen, ja bitteren, zerreißenden Ausgängen. Die Bekanntschaft mit den beiden noch ungedruckten Dramen hat mich nun erst über ihn auf den wahren Standpunkt gesetzt, und meine Achtung für sein Genie unendlich erhöht. Alles, was mir in seinen Anlagen vorher einzeln und abgerissen erschien, vereinigt sich hier, vorzüglich im Prinzen von Homburg, zum schönsten Ganzen, und sein Beruf erscheint mir nun um so entschiedener, je mehr er dem Charakter der Zeit angehört, und nur diesen in seiner edelsten und höchsten Bedeutung darstellt. Auch im Prinzen von Homburg liegt alles im Charakter, auch hier bildet sich dieser vor unseren Augen in den Situationen und durch sie; aber die Wechselwirkung, die Gleichung zwischen beiden Seiten, die zu den höchsten dramatischen Aufgaben gehört, ist vollkommen erreicht. Es schwebt über dem ganzen Sein und Werden des Menschen der ruhige, großartige, dramatische Blick. Der Prinz, dessen Heldenthum uns zuerst <LXXVII:> nur als eine Träumerei erscheint, wiewohl als eine hoffnungs- und ahndungsvolle, wird durch die Begebenheiten niedergeworfen und erhoben, er wird erst durch das Leben, was er ist: ein Mensch in jeder Bedeutung. Ein herrlicher, ächt dramatischer Gedanke, und höchst befriedigend ausgeführt! Am meisten ist die Heiterkeit zu bewundern, die im ganzen Stücke vorherrscht. Sie rührt besonders daher, daß alles in seinem wirklichen, gegenwärtigen Leben aufgefaßt, nichts idealisirt oder mit leeren Redensarten aufstolzirt ist. Daher auch das liebe, heimathliche Gefühl, das uns hindurch begleitet. Welche Wirkung müßten auf ein einigermaaßen fühlendes Publikum Stellen machen, wie die: „Seltsam! Wenn ich der Dey von Tunis wäre, u. s. w.“ – (S. 86.). – Das ist etwas anderes, als die hohle Großsprecherei und alberne Treuherzigkeit, die uns sonst für Patriotismus verkauft wird. Was den Hermann betrifft, so ist das Charakteristische da noch überwiegender, und außerdem die politische Richtung sehr vorherrschend. Dennoch hat das Stück eine sehr dramatische Wirkung, und weil es so sehr aus der Wirklichkeit geschöpft ist, deren Abbild es sein soll, so wirkt es beinah, wie ein historisches. Im Her- <LXXVIII:> mann sieht man fast am meisten, wie es dem wahren Genie des Dichters gegeben war, auch das Kühne und scheinbar Ungeschickte mit Glück zu wagen, eine Gabe, die sich beinah in allen seinen Werken zeigt, und oft glänzend bewährt. – Ich kann nicht ohne Wehmuth Kleists Sachen lesen.“ –

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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