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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Ludwig Tieck (Hrsg.), Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften (Berlin: Reimer 1821), Vorrede, LXI-LXVI

Charakterisierung der Erzählungen, „Prinz Friedrich von Homburg“


Die Marquise von O. Diese Erzählung ist auf einer sonderbaren Bedingung gegründet, wenn man diese zugegeben hat, ist sie trefflich und in großen Zügen durchgeführt.
Das Erdbeben in Chili ist eine Skizze, in wenigen Strichen gezeichnet, die eine Meisterhand verrathen.
Die Verlobung in St. Domingo. Der Verfasser hat eine Vorliebe für tragische und <LXII:> schreckliche Begebenheiten. Aber in diesen furchtbaren Gegenständen sieht man im Mittelpunkt eine reine und unschuldige Menschheit, die lächelnd durch die Finsternisse uns anblickt. Die Gewalt dieses Gemäldes ergriff einen jungen, zu früh verschiedenen Dichter, der es als einen ersten Versuch auf die Bühne brachte. Er hat aber in der Wahrheit, Wirkung, und der Richtigkeit der Motive den Erzähler nicht erreicht.
Das Bettelweib von Locarno, eine kurze, gespenstische Anekdote.
Der Findling. In dieser verwickelten Geschichte, deren Held nur Widerwillen erregt, erkennt man die großartige Manier des Verfassers nicht wieder. Die Erfindung ist gesucht und unnatürlich, die dargestellten Verhältnisse sind mehr peinigend als ergreifend. Man wird versucht, diese Darstellung als durchaus manirirt und modern zu bezeichnen. Trotz der Anstrengung des Erzählers bringt er keine tragische Wirkung hervor.
Die Legende: die heilige Cäcilia ist um so schöner vorgetragen, hier sind die Bilder, die uns der Verfasser mahlt, um so eindringlicher.
Der Zweikampf, welcher diese Sammlung beschließt, hat viele treffliche Züge, aber der son- <LXIII:> derbare Prozeß, der uns wieder hier vorgeführt wird, und der sich nur durch eine Art von Wunder entwickelt und aufklärt, interessirt uns nicht so, daß wir oft und gern zu dieser Erzählung zurückkehren sollten.
Das letzte Werk des Dichters, und welches hier mit der Hermannsschlacht zum erstenmal im Druck erscheint, war der Prinz Friedrich von Homburg. In keiner seiner Dichtungen hat der Verfasser so klar und rein die ganze Fülle seines Geistes abgespiegelt, keines seiner Schauspiele rundet sich so ab und befriedigt so alle Erwartungen, die es erregt. Man sieht hier keine Verstimmung der Seele, nichts Gewaltthätiges, kein Zug, keine Scene isolirt, auch geschieht in keinem früheren Stück dem Drama so Genüge. Aus diesem Werke mußte man mit Recht die größten Hoffnungen schöpfen, daß in Kleist ein neuer Genius unsre Bühne betreten würde. Friedrich der zweite erzählt in seinen Memoires de Brandebourg, daß der große Kurfürst nach der Schlacht von Fehrbellin geäußert habe, man könne nach der Strenge den Prinzen von Homburg vor ein Kriegsgericht stellen, doch sei es ferne von ihm, einen Mann, der so tapfer zum Siege mitgewirkt, auf diese <LXIV:> Weise zu behandeln. Auf diese kurz hingeworfene Nachricht faßt der Dichter die Sache so, als wenn den Kurfürst in der That dieses Kriegesgericht hätte sprechen lassen, welches dem Prinzen den Tod zuerkannt habe. Die wichtige große Frage, was Subordination sei, ob sie in einzelnen Fällen nicht verletzt werden dürfe, wird vor uns in Handlung, in Form eines großen dramatischen Prozesses entwickelt. Alles wird in den mannigfaltigen Situationen, durch das verletzte Gefühl des Prinzen, durch die Umstände selbst, durch die Freunde des Verurtheilten auf eine würdige Art ausgesprochen, und immer durch den großgezeichneten Charakter des Kurfürsten mit wenigen Worten zur Ruhe gewiesen. Der Prinz selbst erkennt nach einer großen Erschütterung sein Unrecht, er weiht sich dem Vaterlande und dem verletzten Recht, und die freie Begnadigung des väterlichen Fürsten, die er sich weder durch Drohung, Ueberredung noch Ueberraschung ablisten ließ, beruhigt und befriedigt jedes Gefühl.
Der Charakter des Kurfürsten ist ein Meisterwerk, und bekundet schon für sich allein den gereiften Dichter. Nur wenigen ist es gelungen, so überzeugend Majestät hinzustellen, in der sich <LXV:> Ernst, Kraft und Milde vereinigt, in jedem Momente groß und edel, und immer menschlich, ohne je in die leeren Reden und Bilder zu verfallen, mit denen schwächere Dichter so oft die Charaktere ihrer Fürsten ausmahlen wollen. Für dieses treffliche Portrait allein muß das Vaterland dem Dichter dankbar sein. In diesem großen Sinne ist aber das Werk selbst durchaus ein ächt vaterländisches Gedicht, nicht bloß ein deutsches, so sehr es auch allen Deutschen angehört, sondern vorzüglich noch ein brandenburgisches, ohne sich darum auch nur mit einem Zuge in das kleine, abgeschlossene, provinzielle zu verlieren.

Auf eine solche Weise, wenn der Dichter nicht feindlich und wegwerfend von andern Landesverwandten spricht, ziemt es ihm, wenn er sein Vaterland, die großen Begebenheiten seiner Vorwelt und ihre Charaktere verherrlicht; es ist ein Ruhm für ihn, wenn man auch in seinem Gedichte selbst den Stamm wieder erkennt, in welchem er geboren ist, und dies geschieht in diesem Werke, ohne daß es uns durch angemaßte Vorzüge, durch leere Verschönerungen oder Hyperbeln dazu aufforderte. Dörflinger, der treffliche Kott- <LXVI:> witz, die rührende Erzählung von Froben, die begeisterten Reden Nataliens, dieser tapfere und ruhige Soldatengeist, alles erklärt, rühmt und lobt auf angemessene Weise das theure Vaterland, dessen Sohn zu sein der verkannte Dichter für seinen Ruhm und für sein Glück hielt.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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