Ludwig Tieck (Hrsg.), Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften (Berlin: Reimer
1821), Vorrede, LVI-LXI
Kleinere politische Schriften, Michael Kohlhaas
Im Anhang dieser Schauspiele finden sich einige schöne Gesänge aus dieser Periode.
Kleist ging nach Oesterreich und wollte durch Journale und Flugschriften auf die Stimmung
der Deutschen zur Belebung ihres Muthes und ihrer Einigkeit wirken. Im Manuscript ist mir
eine Einleitung zu einem Journal mitgetheilt worden, welches Kleist
herausgeben wollte, ferner ein Anruf mit der Ueberschrift; Was gilt es in diesem
Kriege? Unter diesen Papieren findet sich ferner ein Lehrbuch der
französischen Journalistik, in 27 Paragraphen, in welchem mit Geist das
Lügensystem der damaligen französischen Zeitungsblätter erklärt wird. Ein
Katechismus der Deutschen abgefaßt nach dem Spanischen für Kinder und Alte, in sechszehn
Kapiteln, soll in der Kürze sagen, was Deutschland und Vaterland sei, wie es
zertrümmert worden, wer der Feind desselben sei, wie es wieder hergestellt werden könne,
wer den <LVII:> Krieg begonnen, u. s. w. Diese Versuche sind geistvoll und
man sieht, wie sehr es dem Verfasser Ernst war. Der Herausgeber war lange unentschlossen,
ob er diese Manuscripte, die nur zwei oder drei Bogen füllen würden, nicht ebenfalls
mittheilen sollte, er hat sie aber doch nach reiflicher Ueberlegung zurück behalten, weil
sie zu sehr für den Augenblick geschrieben sind, und es keines solchen Dokuments bedarf,
um etwa zu zeigen, mit welchem edlen Sinn der Dichter sein Vaterland geliebt habe.
Auch einige satyrische Briefe finden sich, die ebenfalls
für dieses Journal bestimmt waren, z. B. Brief eines rheinländischen
Officiers an seinen Freund. Er will, ob er gleich gegen die Deutschen ficht dennoch
ein guter Patriot sein. 2) Brief eines jungen märkischen Landfräuleins an ihren
Onkel. Sie will einen französischen Capitain heirathen, der vorzüglich auf die
Herausgabe ihres Vermögens dringt. 3) Schreiben eines Bürgermeisters in einer
Festung an einen Unterbeamten.4) Brief eines politischen Pescherä
über einen Nürnberger Zeitungsartikel. <LVIII:>
Dieser Krieg hatte den Verfasser wieder auf lange Zeit von seinen
Studien entfernt und sein Gemüth noch mehr verstimmt. Er lebte dann wieder in Berlin und
gab hier 1810 und 1811 seine gesammelten Erzählungen heraus, denen er noch
einige neue hinzufügte.
Die erste von diesen, Michael Kohlhaas, ist ohne Zweifel
die merkwürdigste, und wenn man sieht, mit welcher Festigkeit die Gestalten gezeichnet,
wie richtig und wahr ein Ergebniß und ein Gefühl sich aus dem andern nothwendig
entwickelt, wie sicher der Erzähler Schritt vor Schritt fortgeht, so wird man fast
versucht, zu glauben, daß diese Art der Darstellung dem Verfasser noch mehr zusage, und
daß er hier sein Talent noch glänzender entfalten könne, als im Drama. Wir sehn hier
wieder, wie in der Form eines Prozesses, das Unglück und die Schuld eines merkwürdigen
Mannes vor unsern Augen entfaltet; wenige Darsteller verstehn es so, wie Kleist, unser
Herz bis auf den tiefsten Grund zu erschüttern, sobald er es will, und eben dadurch, weil
er so geflissentlich und mit Bewußtsein der weichlichen Sentimentalität aus dem Wege
geht. Der Beleidigte und Beschädigte wird unglücklich, und durch sein Elend <LIX:>
und das lebhafte Gefühl seines Rechtes ein Verbrecher, bis er durch den verehrten Luther
von seiner Bahn zurückgerufen wird, und es durch diesen erhält, daß man seine Klage,
die man zurück gewiesen, vernimmt, daß er sich stellen darf, und in Dresden nur durch
Zufall und Unheil, an welchem er wieder völlig unschuldig ist, zum zweitenmal sein
Schicksal verschlimmert sieht. Es ist nicht nöthig, auf die meisterhafte Hand aufmerksam
zu machen, die uns vom Prinzen und Luther, bis zum geringsten Knecht alles so lebendig vor
das Auge führt, als wenn wir die Dinge selbst erlebt hätten.
Der Erzähler ist von der wirklichen Geschichte, sei es
geflissentlich, sei es auch Unkenntniß, merklich abgewichen. Dies ist nicht so sehr zu
tadeln, da sein Zweck und die musterhafte Frische der Farben dies rechtfertigen können,
als daß er zugleich in einer nicht so gar fern liegenden Begebenheit die nothwendige
Umgebung, die der Leser nicht vergessen kann, zu sehr verlegt hat. Er vergißt, daß
Wittenberg, und nicht Dresden, die Residenz der sächsischen Kurfürsten war; Dresden
schildert er uns ganz nach seiner jetzigen Gestalt, da die Altstadt, damals so gut wie
nicht existirte, <LX:> und was soll man zu dem Kurfürsten selber sagen, dessen
Schilderung mit S. 160. beginnt, und der uns als ein romantischer, verliebter und
seltsamer Phantast aufgeführt wird, da es doch nur Friedrich der Weise, oder der
Standhafte sein können, die in den Umfang dieser Erzählung passen? Durch diese
Uebereilung (vorsätzlicher Plan und bewußte Absicht ist es gewiß nicht) verliert diese
treffliche Erzählung ihr eigentliches Costum, ihre Sitte und Umgebung, die sie noch weit
mehr heben würden, wenn der Dichter sich die Zeit genommen hätte, sich etwas genauer in
jene Jahre zurück zu versetzen.
Dieser Mangel an wahrer Lokalität hat noch die Folge, daß der
Dichter, nachdem er uns durch Wahrheit und Natur so lange angezogen hat, von
Seite 160 an uns noch auf 50 Seiten durch eine phantastische Traumwelt führt,
die sich mit der vorigen, die wir durch ihn so genau haben kennen lernen, gar nicht
vereinbaren will. Diese wunderbare Zigeunerinn, die nachher die verstorbene Gattinn des
Kohlhaas ist, dieser geheimnißvolle Zettel, diese gespenstische Gestalten, der kranke,
halb wahnsinnige, am Ende in Verkleidung auftretende Kurfürst, alle diese schwachen, zum
Theil <LXI:> charakterlosen Schilderungen, die dennoch mit der Anmaßung auftreten,
daß sie höher, als die vorher gezeichnete wirkliche Welt wollen gehalten werden, daß
sie uns ihr geheimnißreiches Wesen, das sich in wenig genug auflöst, wie die Aerzte des
gemeinen Haufens, so theuer wie möglich verkaufen wollen, diese grauende Achtung, die der
Verfasser plötzlich selber vor den Geschöpfen seiner Phantasie empfindet, alles dies
erinnert an so manches schwache Produkt unserer Tage und an die gewöhnten Bedürfnisse
der Lesewelt, daß wir uns nicht ohne eine gewisse Wehmuth davon überzeugen, daß selbst
so hervorragende Autoren, wie Kleist (der sonst nichts mit diesen Krankheiten des Tages
gemein hat), dennoch der Zeit, die sie hervor gerufen hat, ihren Tribut abtragen müssen.
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