Ludwig Tieck (Hrsg.), Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften (Berlin: Reimer
1821), Vorrede, XLIV-L
Der zerbrochne Krug, Penthesilea, Das
Käthchen von Heilbronn
Ein viel erfreulicheres und originelleres Werk ist der zerbrochene Krug,
der zwar erst 1811 im Druck erschien, aber schon im Jahre 1806 gedichtet war. Aus einer
Kleinigkeit so ein Gewebe heraus zu spinnen, das sich vor unsern Augen bald mehr und mehr
verwickelt, bald wieder schnell zu lösen scheint, so lebendig, stets neu, alle Figuren
wahr, alles die höchste Theilnahme erregend, so daß man das Unbedeutende der Sache
selbst vergißt und sie uns eben so wichtig, wie den streitenden Partheien erscheint, ist
meisterhaft: der Gedanke, daß sich der Richter, der der Delinquent zugleich ist, durch
seine Anstrengungen in den Beweis gegen sich hinein examinirt, ist eben so glücklich als
neu. Die Sprache ist charakteristisch und sie sowohl wie die Jambe in diesem ächt
niederländischen Gemälde so gebraucht, wie ich nicht glaube, daß es im Deutschen schon
geschehn sei. Jede Schilderung und Erzählung steht farbig und sichtlich vor uns, und das
Für und Wider, das <XLV:> Hin- und Herschwanken des Gegenstandes, der ein Prozeß
selbst ist, ist von der Hand eines Virtuosen, und man fühlt, daß der Verfasser, der sich
schon gewöhnt hatte, seine Fabeln in diese Form zu bringen, hier ganz mit Sicherheit wie
in seinem Eigenthume schaltet. Dies launige Werk, das fast ohne Inhalt ist, hat doch
beinah die Länge eines gewöhnlichen Schauspiels, und darum ist die hinzugefügte
Variante nicht zu billigen, die es noch mehr ausdehnt. Hie und da folgt der Dichter seiner
Angewöhnung zu sehr, daß sich die Personen einzelne Worte vom Munde wegfangen, schnell
in Frage und Antwort ein kurzes Mißverständniß wie in Zerstreuung fortsetzen, und doch
nur zum Schein einen Dialog führen. Dies, mäßig angebracht, kann im Komischen, wie im
Ernste, von Wirkung sein, aber es ist bei Kleist zu sehr Manier geworden, und müßte in
der Aufführung den Schauspieler seine Rolle sehr erschweren. Erfreulich ist diese Geburt
der Laune, aber ich habe immer gezweifelt, ob dieses Lustspiel für das Theater geeignet
sei. Man machte in Weimar den Versuch, und das Stück mißfiel; man hatte zwar, weil die
Zuschauer es einmal so gewohnt sind, den Schwank in zwei oder drei Akte <XLVI:>
getheilt, und da nun, nach dem wieder aufgezogenen Vorhang, die Sache noch ganz auf
demselben Punkte stand, wie vorher, so mußten die Zuschauer sich unangenehm überrascht
fühlen. Man giebt in Hamburg seit einiger Zeit dies Lustspiel, und es soll gefallen; man
hat es wahrscheinlich abgekürzt.
Nur ein wahrhaft dichterisches Gemüth, wie unser Autor, konnte den
bizarren, ungeheuren Plan und den Charakter der Penthesilea fassen und
entwerfen, und nur seine Energie, wenn sie einmal das völlig Unnatürliche und jenseit
aller Wahrheit liegende ergriffen hatte, konnte den Muth und die Ausdauer behalten, dieses
seltsame Ungeheuer mit so vielem Schmuck ächter Poesie, mit solchen Zügen ächter und
schöner Menschlichkeit, mit so manchem rührenden Verse, so oft wiederkehrenden großen
Gesinnungen zu zieren und auszustatten. Sieht man nur auf Sprache und Vers, auf
glänzende, so vollendete Schilderungen, daß wir die Sache selbst im klarsten Licht vor
unsern Augen sehen, auf Kühnheit der Bilder und Gleichnisse (wo sich freilich einigemal
das Widrigste neben das Schöne stellt), so wird man versucht zu glauben, daß der
Verfasser des Schrof- <XLVII:> fenstein in seiner Kunst außerordentlich
vorgeschritten sei; betrachtet man aber die eigentliche Bildung des Werkes, geht man von
den einzelnen Theilen zum Ganzen, so muß man sich gestehn, wenn auch der Schluß der
Penthesilea eben so übertrieben energisch, wie der des Schroffenstein schwach und ohne
alle Kraft ist, daß der Dichter im Wesentlichen einen bedeutenden Rückschritt gemacht
habe. Wieder wird uns die Begebenheit wie in der Form eines Prozesses, mit dem auf- und
abschwankenden Für und Wider vorgetragen, erst, daß wir nur begreifen, worauf es
ankommt, und als sich dies Räthsel löst, der Wechsel der Begebenheit selbst, daß
Penthesilea glaubt, sie sei die Siegerinn, indem sie die Besiegte ist. Dieses Gedicht ist
merkwürdig, um zu sehen, wohin selbst ein ächtes Dichtertalent geführt wird, wenn es
sich gelüsten läßt, sich das Unmögliche zur Aufgabe zu setzen, und in dem, was jenseit
der Natur liegt, etwas höheres als die Natur sehn zu wollen. Bei allem aber, was sich
diesem Werke mit Recht vorwerfen läßt, könnte seine Armuth noch manchen der neueren
Dichter reich machen.
Von der alten Fabel und der beschränkteren Form wendete sich Kleist
nun zu einer in allen <XLVIII:> neuern Sprachen wiederholten Romanze von der
wundersamen Treu und Ergebenheit eines weiblichen Wesens gegen den Mann, den sie liebt.
Diese alte, oft variirte Sage hat der Dichter von neuem auf seine Weise verwandelt und ein
Gemälde gebildet, so ganz vom reinsten Hauch der Liebe beseelt und erfrischt, so rührend
und bezaubernd, dem Wunder des Märchens und doch zugleich der höchsten Wahrheit so
verschwistert, daß es gewiß als Volksschauspiel immer unter uns leben wird. Der
Charakter dieses Käthchens von Heilbronn und ihres Geliebten, der sein
Gefühl für sie kaum sich gestehn will, ist so zart und kräftig, so rührend und
erschütternd, daß sich wohl nur wenige Gemüther diesen Eindrücken verschließen
können. Jeder neue Gegenstand muß dem dramatischen Dichter eine neue Form liefern, und
Kleist ist deshalb nicht zu tadeln, wenn er dieses Gedicht, welches er ganz als Volkssage
behandelt, nur locker verknüpft, wenn die Theile nicht ängstlich genau zusammengefügt
sind. Diese leichtere Art, die Episoden zuläßt, Charaktere etwas mehr ausmalt, als es,
genau genommen, der Gegenstand erfodern würde, Begebenheiten anreiht, die den Anschein
des Zufälligen haben, verstattet eben <XLIX:> dadurch einen Durchblick in die
große, freie Natur, die die Lieblichkeit des Inhalts selbst noch heimischer und
zauberreicher durch die Contraste machen. Aber es scheint fast, daß der Dichter sich
dennoch mehr von seinen Lieblings-Charakteren, als von dem gereiften Plan des Gedichtes
habe durchdringen lassen, denn die Art wie die Entwickelung geschieht und den Schluß
vorbereitet, ist etwas zu gewaltsam und steht ganz isolirt; der Kaiser, der auf diese Art
das Stück beendiget und in einem Monologe, abgerissen und unbedeutend, seinem Herzen Luft
machen und uns den wahren Zusammenhang erklären muß, erscheint weder zu seinem eigenen
noch zu des Dichters Vortheil, auch wird durch diese Erkennung das herzliche Gefühl des
vermeintlichen Vaters ziemlich verdunkelt; die märchenhafte Häßlichkeit der Kunigunde
ist übertrieben, und für die Phantasie um so unmöglicher, sie sich vorzustellen, um so
mehr der Dichter das widerwärtige und unnatürliche Bild uns nahe bringen will. Dies ist
wieder die Lust, über Natur und Wahrheit hinaus zu gehn. In Ansehung der Visionen, des
Nervenfiebers und des Bleigießens wird man wieder an die kleinliche Catastrophe des
Schroffenstein erinnert, obgleich hier <L:> diese Bedingnisse schon weit außerhalb
dem Schauspiele liegen, und auch geschickter und poetischer benutzt sind, sie stören aber
dennoch, weil sie der Würde und Poesie des Gegenstandes widersprechen, indem der Dichter
diesen Aberglauben roh, und ohne ihn seinem Werke inniger zu verschmelzen, hat auftreten
lassen. Es dürfte eine gewagte Unternehmung sein, diesen wunderbaren duftigen Strauß neu
zu ordnen und zu binden ohne etwas von dem zarten Blumenstaub zu verwischen, und den
frischen Morgenthau zu verschütten.
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