Ludwig Tieck (Hrsg.), Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften (Berlin: Reimer
1821), Vorrede, XXXV-XLIV
Die Familie Schroffenstein
Hier treffen wir nun aber auf den sonderbaren Punkt, wo derselbe Dichter, der alles
so weise bisher durchführte, daß wir ihn recht eigentlich mußten zum dramatischen
berufen glauben, völlig und auf eben so originelle Weise das Drama <XXXVI:> ganz
verläßt, und uns Auflösung und Schluß auf eine Weise anmuthet, als wenn er kaum einen
Begriff vom Schauspiel hätte. Immer ist es gefährlich, dem Zufall einen großen
Spielraum in der Tragödie zu geben, der Dichter muß ihm eine wunderbare Heiligkeit und
bedeutende Seltsamkeit geben können, wenn wir uns seinen Wirkungen nicht ganz ungläubig
entziehn sollen: noch nothwendiger ist dies, wenn die ganze Dichtung auf ihm als dem
Angelpunkt ruht und sich bewegt. Kleist nimmt aber ein Ungefähr, das den Begebenheiten
des Stückes ganz fernab liegt, und vermengt damit einen willkührlichen Aberglauben, der,
weil er allem vorigen zu sehr widerspricht, zu geringfügig, ja ekelhaft erscheint, und
alle die Banden und Klammern plötzlich löst, die der Poet mit so vieler Kunst
geschmiedet und befestigt hatte, so daß wir durch einen einzigen Schlag alle Täuschung
und Theilnahme verlieren und sie auch nicht wieder finden können. Es wird dem Dichter
nichts helfen, wenn er uns etwa sagen will, das sei gerade die tiefste Bedeutung seines
Schauspiels, uns zu zeigen, wie aus Zufall und Aberwitz, wenn Leidenschaft und Verblendung
sich damit vereinen, das größte Unheil und der Unter- <XXXVII:> gang ganzer
Geschlechter leicht entstehn könne, daß es gerade rühren müsse, wenn junge unschuldige
Naturen, die den Wahn nicht getheilt, statt dem Liebesglücke, nur dem Verderben, von
jenen Unholden mit fortgerissen, in die Arme eilen. Denn wird uns eine Lehre, die nur die
höchste Rührung und Erschütterung fassen kann, so mitgetheilt, indem wir kalt bleiben
müssen, so glauben wir dem Poeten so wenig, daß wir uns vielmehr zürnend von seiner
Erfindung abwenden.
Ottokar ist nehmlich zuletzt, da er fast schon an Sylvesters Unschuld
glauben muß, darüber unruhig geworden, daß der Leiche seines jungen Bruders die beiden
kleinen Finger gefehlt haben. Er weiß die Gegend, wo der Leichnam gefunden ist, er will
die Leute, die dort herum wohnen, näher befragen. So tritt er in die Küche armer Leute,
wo ein junges Mädchen eben im Kessel einen Brei rührt und kocht, und dabei einen
Zauberseegen spricht, um ihrer Mutter den Krebs zu heilen. Sie erzählt dem erstaunten
Jüngling, daß sie einen Kindesfinger koche, er stutzt, und auf nähere Erkundigung
erzählt sie, sie und ihre Mutter hätten einen ertrunkenen Knaben gefunden, sich
vergeblich bemüht, ihn wieder zu beleben, und ihm <XXXVIII:> hierauf den kleinen
Finger der linken Hand abgelöst, weil der zum Zauber und Glücke gut sei; als sie sich
entfernt, wären zwei Leute Sylvesters gekommen, die aus demselben Glauben der Leiche den
kleinen Finger der rechten Hand genommen. Sie haben aber nicht
unbegreiflich genug das Unheil gesehn, welches diesen Männern von Rupert
widerfahren ist. Ottokar erkennt nun natürlich den Zusammenhang, er will nach Hause
eilen, findet es aber nöthig, Agnes noch einmal im Gebirge zu sprechen, obgleich der
Abend schon da ist. Er sendet also das nemliche Mädchen zu seiner Geliebten, und setzt
voraus, sie wird dieser glauben und kommen. Dies alles ist unbegreiflich und
willkührlich, um den Schluß herbeizuführen. Rupert sucht indeß Agnes im Gebirge, und
erfährt von dem vorübergehenden Mädchen, daß sie noch in den Wald heute kommen werde.
Ottokar, der nach Hause geeilt ist, wird auf Befehl seines Vaters in ein Gefängniß
gesperrt, entspringt aber mit Lebensgefahr aus einem hohen offenen Fenster, da er von
seiner Mutter hört, daß der wüthende Vater der Geliebten im Gebirge auflaure.
Am natürlichsten und nothwendigsten wäre es wohl, daß der Sohn den
aufgebrachten Vater <XXXIX:> aufsuchte, ihm den Vorfall erzählte und so abwartete,
ob die Entdeckung zu Heil oder Unseegen ausschlagen würde. Wir sehn aber Ottokar nun mit
Agnes in der Höhle, Barnaba steht Wache, um zu warnen, wenn die Feinde nahen. Er erzählt
ihr, was er erfahren, in einem wollüstigen, naiven und rührenden Liebesgeschwätz; indem
er von ihrer nahen Hochzeit spricht, zieht er ihr das Oberkleid aus, und legt ihr seine
Kleider an. Diese Stelle, so unnatürlich sie im Schauspiel ist, ist an sich selbst
höchst poetisch, und es ist zu bewundern, mit welcher Reinheit der edle Geist des
Dichters über dieser gefährlichen Klippe schwebt, ohne Aergerniß zu erregen. Agnes,
ganz Liebe, wundert sich kaum über sein Beginnen, sie ist nun als Mann gekleidet und geht
so aus der Höhle, indem Rupert eintritt; Ottokar hat sich indeß in die zurückgelassenen
weiblichen Kleider gehüllt und läßt sich in diesen, sich für Agnes ausgebend, von
seinem wüthenden Vater erstechen. Sylvester zieht mit seinen Reisigen indessen mit
Fackeln vorüber, Rupert entfernt sich, und Agnes wird durch den Zug in die Höhle zurück
geschreckt, Sylvester tritt in diese und ersticht seine Tochter in der Meinung, sie sei
Ottokar. Rupert ist indessen von <XL:> seinen Feinden gefangen genommen, und wird zu
Sylvester geführt, bald folgt die Mutter der Agnes, und der hirnkranke Johann leitet den
blinden Sylvius, den Vater Sylvesters zur Höhle; eine zu schwache Scene, die zu
größerem Nachtheil des Dichters an den Lear erinnert; allgemeine Erkennung des unseligen
Irrthums und Jammern darüber; plötzlich tritt gar noch die alte kranke Ursula, die den
Finger des Knaben hat brauchen wollen, auf und wirft diesen oft besprochenen Finger auf
den Boden, den Eustache auch als den ihres Sohnes erkennt; Rupert und Sylvester versöhnen
sich, und man sieht hier den Romeo in der Erinnerung wieder, doch ist in diesem großen
Werke der Schluß erhebend, da diese Aussöhnung hier nur matt und unbedeutend erscheint.
Diese auffallende Erscheinung, daß in demselben Dichter eine so
großartige Vernunft unmittelbar mit einem ganz kleinlichen, fast kindischen Bestreben im
Widerspruche stehen kann, zwingt uns fast, eine seltsame Disharmonie, eine Krankheit
vielleicht, im Geiste des Dichters anzunehmen. Denn diese Fehler sind nicht die des
Neulings oder der Uebereilung, sondern es ist die Unfähigkeit selbst, diesen Widerspruch
und das <XLI:> völlig Ungeziemende einzusehn. Es ist ein radikaler, unheilbarer
Mangel, von dem sich wohl die Spuren mehr und minder in allen Werken des Dichters
nachweisen lassen, bei seiner Liebe und Kenntniß der Wahrheit und Natur ein plötzliches
grelles Gelüst, beide zu überspringen, und das Leere, Nichtige, dennoch höher als die
Wirklichkeit zu stellen.
Bis auf diesen Schluß sind die Charaktere des Stücks (die hier fast
ganz erlöschen) treflich angelegt und ausgeführt, nur der kränkliche Johann widersteht
vom Anbeginn. Die Sprache ist männlich, mannigfaltig und schon sehr ausgearbeitet, und
was um so mehr zu loben ist, keine matte Nachahmung Schillers; eben so wenig hören wir
die Tonart Göthes bedeutungslos wiederholt, wie beides so oft von jungen Dichtern
mit unermüdlicher Geduld geschehn ist, sondern diese Sprechweise gehört unserm Dichter
ganz eigenthümlich; er vermeidet auch hier alles schwankende und unbestimmte, und greift
lieber zu Provinzialismen und hie und da gemeinen Ausdrücken, um nur nicht in die
vornehme Unbedeutendheit und scheinbare Anmuth und Würde zu verfallen. Ein sonderbares
Hinwerfen und Auffangen einzelner Worte, <XLII:> Reden und Fragen, wie ein
Ballspiel, trifft man schon in diesem Stück, in welcher Eigenheit sich der Verfasser in
seinen übrigen Produktionen noch mehr hat gehen lassen.
Der Vers ist ungleich, aber oft vortrefflich, auch sind die Freiheiten, die sich der
Dichter mit ihm nimmt, nicht zu tadeln, doch hat er es nie dahin gebracht, ihn ganz in
seine Gewalt zu bekommen, daß nicht oft Härten uns in den schönsten Stellen eine
Störung verursachten. Ich bin darum bei dieser Anzeige umständlicher gewesen, um für
dieses erste, merkwürdige Produkt des Dichters wieder einige Aufmerksamkeit zu erregen,
weil es fast vergessen ist: es machte auch, als es zuerst erschien, kein Glück, obgleich
Huber, dessen Rezensionen sich meist vor den gewöhnlichen auszeichneten, damals mit
vielem Lobe von diesem jugendlichen ersten Versuche sprach.
Bei der jetzigen Armuth unserer Bühne wäre es ein verdienstliches Werk, wenn ein
Dichter, der das Theater kennt, dieses Schauspiel für die Aufführung bearbeiten wollte;
leicht ist diese Arbeit gewiß nicht, aber einer geschickten Hand doch nicht unmöglich.
<XLIII:>
Es ist zu beklagen, daß mannichfaltige Schicksale es dem Dichter
unmöglich machten, rasch auf der betretenen Bahn fortzuschreiten, daß Verstimmungen der
Seele ihm nur zu oft den Muth zur Arbeit raubten. Es scheint, daß er mehr als Studium
oder Zerstreuung, den Amphytrion des Moliere umgestaltet habe. Ein Versuch, den man, wenn
man unpartheiisch ist, nur eine Verirrung nennen kann. In den komischen Scenen steht der
Deutsche unendlich hinter den Franzosen zurück, dessen Naivität, Witz und leicht
bewegliche Laune bei weitem durch nichts Aehnliches ersetzt ist, die Zier der Sprache und
den Schmuck des Reims noch ungerechnet. Daß Kleist die ernsthaften Figuren des Stücks
anders hat stellen und ihnen eine tiefe, so zu sagen, mystische Bedeutsamkeit geben
wollen, ist eben ein noch größeres Mißverständniß, denn diese Fabel, aufgeschmückt
durch den tollen Spaß des Sosia und Merkur, ihre listigen Händel über das wahre Ich und
den ächten Amphytrion, wird nur möglich, die Hauptfiguren haben nur Sinn, wenn sie, wie
bei Moliere und Plautus, etwas oberflächlich gehalten werden; die ziemlich unbegreifliche
Liebe Jupiters bei Kleist kann uns nicht interessiren, son- <XLIV:> dern nur die
tolle märchenhafte Begebenheit des Stücks; je mehr diese hervor tritt, je besser, um so
eher ertragen wir den Schluß, der immer nur willkührlich und unbefriedigend bei den
Neueren ausfallen kann.
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