Ludwig Tieck (Hrsg.), Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften (Berlin: Reimer
1821), Vorrede, XXIX-XXXV
Die Familie Schroffenstein
Es bleibt mir nun noch übrig, von den Werken des Dichters einiges zu sagen.
Die Familie Schroffenstein erschien, ohne den Namen des
Dichters, schon 1803 im Druck, und ist wahrscheinlich schon 1801 geschrieben worden.
Dieses Trauerspiel ist als der erste Versuch eines jungen Dichters in mehr als einer
Hinsicht sehr merkwürdig. Das Stück enthält nicht, wie es so häufig der Fall bei
ersten Schauspielen ist, ein unbestimmtes Schwärmen jugendlicher Gefühle und lyrische
Ausbrüche einer ungewissen Begeisterung, sondern ein finsterer Gegenstand, Haß,
Mißtrauen, Rache, wird uns deutlich und mit der größten Bestimmtheit hingestellt, das
Für und Wider im Verlauf der Begebenheit dialektisch entwickelt, und die handelnden
Personen treten ganz plastisch und wirklich nahe vor unser Auge. Die Liebe des Ottokar und
der Agnes ist neu und originell gemahlt; auch diese Charaktere, besonders das Mädchen,
sind mit der größten Bestimmtheit gezeichnet, und diese kindliche Naivität, diese offne
Wahrheit, die zarte Hingebung leihen ihr einen rührenden Reiz, der noch selten so
naturgemäß in Dichtern <XXX:> erschienen war. Zwei nah verwandte Geschlechter
mißtrauen sich, nachdem sie einen Erbvertrag errichtet haben. In der einen Familie ist
der Mann Rupert der wilde und hassende Charakter, die Frau ist mild und weich, und der
Sohn Ottokar folgt nur aus Glauben an seinen Vater dem Racheplan gegen das Haus
Sylvesters. Den zweiten Sohn Ruperts hat man todt gefunden, die scheinbaren Mörder,
Dienstleute Sylvesters, neben ihm; der eine ist sogleich erschlagen worden, den andern hat
man unter Martern hingerichtet, indem er, wie die Familie glaubt, weil sie es glauben
will, auf Sylvester ausgesagt hat. Am Leichnam des Kindes empfangen alle das Abendmal und
schwören Rache. Mit dieser Scene, die wohl bei einer Aufführung anstössig ausfallen
dürfte, eröffnet sich das Stück. Jeronimus, ein Verwandter, zweifelt; er wird durch
Ottokar, noch mehr aber durch einen alten Kirchenvogt von der Wahrheit des Mordes
überzeugt, und er eilt mit dem abgesandten Herold nach Sylvesters Schloß, um diesem,
dessen Tochter er liebte, die Freundschaft aufzukündigen. Ottokar erfährt indeß von
einem natürlichen Sohn seines Vaters, daß dieser Jüngling, Johann, ebenfalls Agnes im
Gebirge <XXXI:> kennen gelernt habe; beide lieben sie. Sylvester, der trefflichste
Charakter des Stücks, der von dem Tode im Hause Ruperts noch keine Kunde hat, verweist
mit edler Männlichkeit seiner Frau, Gertrud, den Argwohn gegen Rupert: sie ist nach Art
der schwachen Weiber nur leichtgläubig, ohne Charakter, nicht arg, und darum schwankend
und bald dieser, bald jener Meinung folgend. Die Lage der Dinge, die Gesinnung der
Personen wird in trefflichen Gegensätzen klar. Der Herold kömmt, die Fehde anzusagen;
der unschuldige Sylvester begreift anfangs selbst nicht, wovon die Rede sei; als er es
faßt, will er im Gefühl seiner Reinheit sogleich zu seinem Feinde hinüber. Jeronimus
tritt ein, und redet zu ihm mit so beschimpfendem Zorne, daß er ohnmächtig
niederstürzt. So schließt der erste Akt, in welchem sich, man möchte sagen, mit
Meisterhand, vollkommen genügend die Handlung ankündigt, vorbereitet und verwickelt.
Im zweiten Aufzug eine naive und liebliche Scene im Gebirge, zwischen
Ottokar und Agnes, der Tochter Sylvesters; der eifersüchtige Johann ist ihnen
nachgeschlichen, und entzweit sich vorsätzlich und beleidigend mit seinem Bruder.
Indessen ist Sylvester aus seiner Ohnmacht erwacht; er <XXXII:> findet auf edle
Weise das Bewußtsein seiner Unschuld wieder, ihn erfaßt aber auch ganz der Schmerz des
Redlichen, der nun erst hört, wie wahrscheinlich die Anklage sei, mit welchem Rechte man
ihn für den Meuchelmörder halten darf. Ein Unglück, welches sich indessen zugetragen
hat, muß den Verdacht der Gegenparthei noch schärfen; denn während seiner
Bewußtlosigkeit hat die Dienerschaft, durch die Beleidigung ihres Herrn in Wuth gesetzt,
den Herold erschlagen. Jeronimus sieht tief gerührt seinen Irrthum ein, er ist ganz für
Sylvester und wünscht nur beide Häuser versöhnt. Er will selbst zu Rupert hinüber,
trifft aber auf die geängstete Agnes, die vor dem sinnverwirrten Johann entflieht, der
ihr einen Dolch hinreicht, um wenigstens von ihrer Hand zu sterben; der Ritter glaubt, so
wie das Mädchen selbst, der Jüngling wolle sie ermorden, und schlägt ihn mit einer
schweren Wunde nieder. Sylvesters Charakter, sein Benehmen in diesen verwirrten Händeln,
alles was er spricht, ist trefflich; eben so lobenswürdig ist der geringere Jeronimus
gezeichnet, alles ist edel gehalten, und wir werden von dem Gegenstande immer lebendiger
angezogen, so wie von der Wahrheit auf das innigste überzeugt. <XXXIII:>
Den dritten Akt eröffnet wieder eine Scene im Gebirge: die jungen
Leute erklären sich ganz gegen einander und eröffnen sich rührend und unbefangen die
Lauterkeit und Liebe ihrer Herzen. Die Kindlichkeit dieser Scene, diese wahre Naivität
ist in hohem Grade rührend, und nur das Hin- und Herfechten über Schuld oder Unschuld
der Väter etwas zu weit getrieben. Jeronimus ist indeß auf Ruperts Schlosse angekommen,
er entdeckt der Mutter die Liebe der Kinder, sie ist erfreut und nimmt sich vor, diese
Liebe, welche alles ausgleichen kann, zu befördern. Der heftige Rupert hat inzwischen die
Ermordung seines Herolds und die Verwundung seines Sohnes erfahren, er nimmt an Jeronimus,
den er als Abgesandten seines Feindes behandelt, Rache, und läßt ihn ebenfalls von
seinen Dienern ermorden. Diese Scenen sind meisterhaft zu nennen: die Theilnahme erreicht
hier den höchsten Grad, alles lebt vor unsern Augen.
Im vierten Akt sehn wir, wie Rupert, der nicht ohne Edelmuth ist, sich
seines Beginnens schämt; dies scheint seiner Frau der günstige Augenblick, für die
nicht unwahrscheinliche Unschuld Sylvesters zu sprechen, so wie ihm die gegenseitige
<XXXIV:> Liebe der Kinder und ihre Zusammenkünfte im Gebirge zu entdecken. Rupert
bricht stumm und eilig auf, und seine Gattin muß fürchten, daß sie das Elend nun auf
den höchsten Grad gesteigert hat, indem sie sich von einer gutmüthigen Rührung hat
übereilen lassen. Sylvester, der die Ermordung Jeronimus tief fühlt, ist nun endlich zur
Fehde entschlossen, und will noch in dieser Nacht das Schloß Ruperts überfallen.
So weit ist in diesem Drama fast alles zu loben. Der Haß, die
gegenseitige Verfolgung der beiden Familien wird vor unsern Augen entschuldigt und
nothwendig: mit großer Geschicklichkeit hat der Dichter wie einen interessanten
verwickelten Prozeß das Thema hin und her geschoben, die beiden Väter sind in gewissem
Sinne unschuldig an den Greueln, besonders der edle Sylvester, und doch gehn vor unsern
Augen aus der Begebenheit selbst so viele Ursachen und Gründe hervor, daß einer den
andern hassen und ihn für einen Bösewicht halten muß; das Gewebe, aus welchem diese
fast unauflösliche Verwirrung sich flicht, ist eben so wenig von der Hand der Intrigue
angezettelt, als durch den Zufall, der so leicht an das Wunder grenzt, angelegt worden.
<XXXV:> Diese Kunst und Wahrheit ist eben so original als dramatisch, weil wir alles
so genau entstehn und nothwendig fortschreiten sahn, leben wir die Sache gleichsam mit,
und der Dichter reizt unsere Erwartung nur dadurch um so mehr, daß er uns bis jetzt bloß
einen Punkt verschwieg, auf welche Weise Ruperts Knabe umgekommen ist, und warum man zwei
Diener Sylvesters bei seinem Leichnam fand. Löst er dieses Räthsel genügend, und zeigt
er uns nun tragisch, wie das Hirngespinst des Argwohns dadurch so schrecklich ist, daß es
durch seine abscheuliche Natur leere Träume in Wirklichkeit verwandeln kann; oder gelingt
es ihm, durch eine letzte und größte Erschütterung die verirrte Leidenschaft zur
Erkenntniß ihres Wahnsinns zu bringen und auf heitere und erhebende Weise alles zu
versöhnen, so müssen wir ihm dankbar den Kranz zuerkennen mit dem Geständniß, daß auf
einem neuen Wege etwas Großes zu unsrer schönsten Befriedigung ausgeführt sei.
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