Ludwig
Tieck (Hrsg.), Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften
(Berlin: Reimer 1821), Vorrede, XXII-XXIX
Kleists Charakter
Wenn man diese wenigen Bekenntnisse aufmerksam liest, und damit die Empfindung
vereinigt, die uns bei allen Werken des Verfassers mehr oder minder beherrscht, so fühlt
man deutlich, daß das Gemüth des Dichters nicht mit sich einig, daß er weder in der
Wirklichkeit noch in der Kunst das Glück und die Beruhigung finden konnte, die beim
Schaffen unerlaßlich, die, um die Beschwerden und Freuden des Lebens zu tragen, nicht zu entbehren sind. Diese tiefe
Disharmonie, diese grellen Widersprüche, die das Leben zu zerstören drohen, schlafen
wohl in den Gemüthern der meisten Menschen, ja man kann vielleicht sagen, der Mensch und
sein Charakter gehn erst aus ihnen hervor, und um so mehr, wenn ihm die Natur irgend ein
ausgezeichnetes Talent verliehen, ihm eine vorzügliche Stellung in der Gesellschaft
angewiesen hat. Den gewöhnlichen Menschen drücken <XXIII:> und ängsten diese
Widersprüche seines Wesens nicht, oder wenigstens nicht auf lange; die jugendliche
Ungenügsamkeit beschwichtigt sich bald in irgend einem herkömmlichen Beruf, in den
Gewohnheiten der Welt und alltäglicher Beschäftigung und Zerstreuung: dagegen hat die
Jugendgeschichte derer Menschen, die ein innerer Trieb und Enthusiasmus zu den
Wissenschaften führt, vorzüglich der Künstler und Dichter, darum etwas Ausgezeichnetes
und eine große Aehnlichkeit, weil alle mehr oder minder diesen Trübsinn, den die
Widersprüche der gewöhnlichen Welt und die Unbekanntschaft des eigenen Innern erregen,
niederzudämpfen und zu überwinden haben. Das Schicksal sorgt in der Regel dafür, daß
ein edler Leichtsinn tröstend über diese Klippen den Wanderer leitet, oder daß sich die
Krankheiten der Phantasie durch die Phantasie selber heilen, oder daß die hohe
Erscheinung der Natur, oder Religion und Philosophie das Herz beruhigt und es dem
Künstler vergönnt wird, ganz und mit voller Seele seiner Kunst zu leben, so daß er aus
seinem Innern die Welt und ihre Erscheinungen begreift, und wieder das Leben und dessen
Ereignisse sein Gemüth mit immer neuen Gestaltungen erfrischen. Oft aber <XXIV:>
läßt es das Schicksal zu, daß der Geist nie das Genügen findet, im Streben nach dem
Bessern sich abmattet, zwischen Hochmuth und Verzweiflung an sich selbst wechselnd ringt,
und im kalten Verdruß und kränklicher Empfindlichkeit sich und andere nicht mehr
versteht; dies sind die hypochondrischen ängstlichen Wesen, die durch Wissenschaft und
Kunst verlockt, wie Tantalus, an der Quelle des Lebens schmachten. Nur selten zeigt die
Natur die grausame Laune, daß sich Talent, Neigung, Widerspruch und Charakter so mischen
und streitend verwirren, daß das irdische Dasein selbst sich zerstört, aber unter diesen
Seltenern fodern wenige so unser Mitleid, unsre Achtung und Theilnahme auf, wie Heinrich
Kleist.
In einer höchst bewegten Zeit lebend war es seinem starken Herzen
unmöglich, nicht die Bedrängniß der Gegenwart ganz und voll zu fühlen; er war ganz
Deutscher und liebte sein Vaterland, Brandenburg noch inniger, als die übrigen verwandten
Stämme. Aber diese Gegenwart selbst verwandelte sich ihm gleichsam zum Gespenst, so daß
er nicht ruhig das Unglück fest anschauen und mit klarem Auge nach der Zukunft sehn
konnte; so sehr ihn diese Zeit bedrängte, wurde sie doch <XXV:> durch brütende
Trauer mehr in einen ängstenden Traum verwandelt. Die Poesie war diesem finstern Gemüthe
nur auf Augenblicke ein Labsal, keine Heilung, der unglückliche Dichter konnte ihr nicht
leben und sich in ihr beruhigen, die Gegenwart verdunkelte ihren Glanz, und sie selbst war
nicht fähig, ihm die äußere Welt mit milderem Schimmer zu erheitern. Vielleicht waren
seine häufigen schweren Krankheiten vorzüglich Folgen seines zerrütteten Gemüths; man
wird versucht anzunehmen, daß schon von früher Zeit eine dunkle Macht im Geist ihn von
innen heraus zerstört habe.
Er konnte im Leben die Stelle nicht finden, die ihm zusagte, und die
Phantasie vermogte ihm den Verlust der Wirklichkeit auf keine Weise zu ersetzen. Wenn er
zuletzt auch wohl nicht an seinem Talent verzweifelte, so mußte es ihn doch betrüben und
verstimmen, daß die Welt um ihn so wenige Kunde von seinen Arbeiten nahm. Denn auch darin
ist dieser Dichter unglücklich zu nennen, daß in einer Zeit, in welcher sich nur wenig
Aechtes in unserer Literatur zeigte, er fast unbemerkt blieb, indessen neben ihm Autoren
berühmt wurden, weil sie den krankhaften Bedürfnissen der <XXVI:> Zeit fröhnten
und andre, von denen sich gar nicht angeben läßt, warum ihnen dieser Vorzug wurde.
Sein plötzlicher freiwilliger Tod erschütterte alle seine Freunde,
so wie alle diejenigen, die sein großes Talent und seinen edlen Charakter achteten;
indessen aus dem gemeinen Haufen mancher schadenfroh Märchen glaubte und höhnend
verbreitete, weil der Unverstand nur allzugern das Hohe des Menschen beschmitzt, und in
jedem Einzelnen das zu bekämpfen wähnt, was ihn in manchen dunkeln Stunden ängstigt.
Einige mehr wohlwollende als vorsichtige zu partheiische Freunde wollten diese seltsame
erschreckende That mit Lobpreisungen verherrlichen, und schadeten dadurch dem
Abgeschiedenen, den sie zu erheben suchten. Eine That wie diese steigt, wenn wir sie
vernehmen, mit einem heiligen Erschrecken in unsre Seele; ein tiefes Mitleid läßt lange
kein Urtheil zu, eben so wenig ein bewunderndes, wie ein schnöde verhöhnendes. Was man
aber so häufig erzählt hat, um diese tragische Begebenheit zu einer romantischen Novelle
umzugestalten, ist völlig ungegründet. Keine Leidenschaft der Liebe, kein Drang der
Verhältniße, keine Verzweiflung des Herzens trieben ihn in sein freiwillig erwähltes
Grab. Seit <XXVII:> vielen Jahren hatte sich ein kalter Lebensüberdruß in seiner
Seele festgesetzt; er hatte sein Vaterland, ja Deutschland, und mit diesen höchsten
Gütern sich selber aufgegeben. Eine Frau, die an einem schrecklichen und unheilbaren
Uebel krankte, das ihr einen schmerzhaften Tod unvermeidlich herbeiführte, läßt sich in
trüber Stunde ein Wort, ja einen Schwur von ihm geben, ihr einen Dienst zu leisten,
sobald sie ihn fodern würde. Er verspricht sich der Freundinn, und sie begehrt den Tod
von ihm, da jeder Arzt, seiner Pflicht getreu, ihr Leben so lange als möglich fristet.
Dies Versprechen und das Halten des Wortes ist ohne Zweifel Krankheit des Gemüthes, und
eine Reise, ein wichtiges Geschäft hätten den Unglücklichen gewiß, vielleicht sogar
ein Freund, dem er sich vertraute, über diese schreckliche Minute hinüber geführt. Und
wenn es den Abgeschiedenen vergönnt ist, von den hiesigen Dingen noch zu wissen, mit
welcher Wehmuth und Reue muß sein Geist sich herabgesehnt haben, als seine Freunde und
Brüder für König und Vaterland im edelsten Streit der neuern Tage auf der Ebne von
Lützen standen, für die Sache siegend, der sein irdisches Herz fast zu ungestüm
geschlagen hatte. Daß er in diesem <XXVIII:> Kriege nicht mit siegen oder in ihm
fallen konnte, ist für ihn Strafe genug gewesen, wog sein Vergehen auf, wenn es nach den
Begriffen der meisten ein solches ist, auf das Leben zu früh zu verzichten.
Kurz vor seinem Tode hat er alle seine Papiere vernichtet. Ein langer Aufsatz, der die
Geschichte seines Innern enthielt, soll vorzüglich interessant gewesen sein. Vielleicht
besitzt einer seiner vertrauteren Freunde noch eine Abschrift, und macht in Zukunft
einiges davon bekannt. Er war gewissenhaft ängstlich in seinen
Arbeiten, sie rückten nicht schnell vor, er änderte oft und arbeitete wieder um. Er
selbst war am schwersten zu befriedigen.
Der Herausgeber dieses Nachlasses lernte ihn im Sommer 1808 in
Dresden kennen. Er hatte damals eben sein Schauspiel Käthchen von Heilbronn vollendet.
Heinrich Kleist war von mittler Größe und ziemlich starken Gliedern, er schien ernst und
schweigsam, keine Spur von vordringender Eitelkeit, aber viele Merkmale eines würdigen
Stolzes in seinem Betragen. Er schien mir mit den Bildern des Torquato Tasso Aehnlichkeit
zu <XXIX:> haben, auch hatte er mit diesem die etwas schwere Zunge gemein.
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