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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 639-643

6. Die Macht der Verhältnisse.


Von Robert waren die Vorgänge bereits anders verwerthet worden: er hatte sie nämlich 1811 zu seinem bürgerlichen Trauerspiel „Die Macht der Verhältnisse“ verarbeitet, <640:> und fast wäre ihm gelungen, das Stück damals auf die Berliner Bühne zu bringen.
Die Handlung dieses Stückes, das durch keine künstlerische Kraft zusammengehalten wird, bewegt doch nur eine Einzige Triebfeder: die Verweigerung eines Duells aus Standesrücksichten. In dem Augenblicke, wo der durch die Macht der Verhältnisse sich beeinträchtigt fühlende Theil zur Selbstrache, zum Morde, greift, ist eigentlich das Leben des Stückes zu Ende. Auf welche Weise der Verbrecher den Lohn für seine That erhält, kann uns, poetisch, gleichgültig sein. In Robert’s Hand erschöpfte sich der Duell-Stoff schon mit dem dritten Acte. Da sein Trauerspiel aber fünf Acte haben sollte, so setzte er, unorganisch, noch ein Bastard-Verhältniß an, dessen ganzer Effect nur ist, daß dem Verbrecher, anstatt öffentlicher Hinrichtung, die Selbst-Vergiftung im Gefängniß ermöglicht wird. Die beiden Stoffe schicken sich nicht in einander, am Ende merkt Robert selbst, daß hier der Fehler seines Stückes liege.
August Weiß, der Schriftsteller, und Graf von Falkenau, der Oberst eines Regimentes, sind in der „Macht der Verhältnisse“ die Personen, zu denen Robert Moritz Itzig und Achim von Arnim umgebildet hat. Aber er läßt Weiß nicht als Juden, sondern als christlichen, wenn auch religiös ziemlich indifferenten, Predigerssohn auf die Bühne treten; der entsprechende Altersunterschied ist zwischen Weiß und Falkenau jedoch beibehalten worden. Robert verengert also mit Absicht die gesellschaftliche Kluft zwischen dem studirten Schriftsteller aus guter Familie und dem gräflichen Oberst. Zwischen Beider Familien spielen häusliche Beziehungen hin und her. Um eine weibliche Person entspinnt sich auch im Stücke – hier um Weiß’ Schwester – der Streit. Weiß fordert den Obersten. Dieser, in Erwägung dessen, was er seinem adeligen und seinem <641:> militärischen Stande schulde, legt das ihn fordernde Schriftstück Weiß’ den Offizieren seines Regimentes vor, die sich einstimmig gegen die Annahme der Forderung erklären: alles wie bei Arnim. Der Schriftsteller lockt den Obersten auf seine Stube und schießt ihn nieder: wie Itzig, der Arnim im Badeschiffe überfiel.
Robert ließ sein Trauerspiel, nachdem es bereits aufgeführt worden war, erst 1819 drucken. Das Stück, besagt eine Notiz auf dem Titel, spiele in einer deutschen Hauptstadt in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts, und an andrer Stelle (S. 143) wird die „wüste Zeit“ des Stückes auf das Jahr 1792 fixirt. Damals wäre Robert dreizehn Jahre alt und außer Stande gewesen, eine derartige Macht der Verhältnisse, durch Selbsterlebniß, zu begreifen: denn wer Robert’s Vor- und Schluß-Bemerkungen über sein Drama in scharfe Betrachtung zieht, fühlt durch, daß im Wesentlichen selbsterlebte Dinge „aus seiner nächsten Umgebung“ den Grund des Stückes bilden. Robert aber, 1811 in Berlin, sah die Geschichte wirklich „aus seiner nächsten Umgebung“ mit an; auch in Rahel’s Briefen an Varnhagen ist davon die Rede. 1811 wurde das Trauerspiel, nach Robert’s eigner Angabe (S. 148), fertig und Iffland eingereicht. Iffland habe die Aufführung zugesagt und eine Rolle selbst übernehmen wollen. Betreffs einer Abänderung, die er verlangte, sei Einigung erzielt worden. Trotzdem: „Mannigfache Rücksichten verhinderten damals, 1811, die Aufführung“. Brauchen wir jetzt noch zu fragen: welche Rücksichten? Es wäre denn doch über das Zulässige hinaus gegangen, wenn Iffland den preußischen Adel, zu einer Zeit wo man schon schwer genug mit ihm fertig wurde, offen auf der Berliner Hofbühne brüskirt hätte. So wenigstens würde es der Adel und das Militär angesehen haben. Nach den Freiheitskriegen lag die Sache anders. Alle <642:> Verhältnisse waren umgestülpt, und wer hatte damals Interesse für die alte Geschichte mit Moritz Itzig. Jetzt konnte das Stück auf die Bühne kommen, und so ist es von Ende 1815 bis 1828 dreizehnmal in Berlin gegeben worden.
Man hat gefragt, welche Tendenz Robert verfolge: ob er das Duell verwerfe, oder es verlange? Niemand, selbst der Autor nicht, hat sichre Auskunft geben können. Diese ungelöste Dissonanz birgt schon der Urstoff in sich. Das Duell ist ein Standes-Vorrecht oder, anders angesehen, ein Standes-Vorurtheil. Wer, wie Moritz Itzig, als der freiwillige Vorkämpfer der sich damals bürgerlich emancipirenden Judenschaft, die Standes-Vorrechte Anderer, die ihn hindern, beseitigen will, darf nicht dieselben für sich in Anspruch nehmen, sowie sie ihm in irgendeiner Rücksicht vortheilhaft erscheinen. Hatte Arnim gegen die Juden geschrieben, so mochte Itzig gegen die Christen oder gegen Arnim schreiben. Hatte Arnim ihn beleidigt, so mochte er den Schutz der Gerichte anrufen. Keine Macht der Verhältnisse hätte ihn 1811 daran gehindert. Er that es aber nicht, er bestand auf einem noch nicht besessenen Vorrecht, und beging ein Verbrechen. Ja, hätte ihm, oder Weiß im Stücke, das Gesetz den Schutz versagt, dann würde die That der Selbsthülfe unser Mitgefühl erwecken können. So stellt Kleist seinen Michael Kohlhaas dar! Kohlhaas hat, durch die bösartige Tücke des Junkers, seine Ehre, sein Hab und Gut, sein Weib, sein Alles verloren: das greift uns an das Herz! Aber Itzig und sein Abbild Weiß? Niemand kann zugeben, daß deren Phantom von Ehre, die ursprünglich weder durch Arnim’s Auftreten noch durch des Obersten nicht schuldige Liebelei mit Weiß’ Schwester gekränkt worden ist, der Durchbrechung und Zertrümmerung der gewordenen Ordnung werth sei! Robert war innerlich für seinen Helden, also auch für dessen That. Im bürgerlichen Sinne handelte Moritz <643:> Itzig widerspruchsvoll, Weiß aber als Held einer Tragödie scheint mir eine poetische Unmöglichkeit.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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