Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart:
Spemann 1901), 552f.
7. Ein Satz aus der höheren
Kritik.
Erfahren wir nun aber auch, wie Kleist selber über die Herkunft, die Entstehung, den
Werth, die Beurteilung litterarischer Werke dachte.
Unter der Aufschrift
Ein Satz aus der höheren Kritik findet sich im ersten Abendblatt, vom
2. Januar 1811, ein Artikel, der zwar nur ry (wohl irrig für xy) gezeichnet, doch
durch Inhalt und Stil Kleists Autorschaft verräth. Kleist variirt einen früher
schon epigrammatisch ausgedrückten Gedanken. Im Juniheft des Phöbus 1808 spricht er als
eine allgemeine Erfahrung aus
Die Schwierigkeit.
In ein großes Verhältniß, das fand ich oft, ist die Einsicht
Leicht, das Kleinliche ists, was sich mit Mühe begreift.
und vertheidigt gegen den ausschließlichen Bewunderer des Höchsten in der dramatischen
Poesie, Shakespeares, auch solche Werke, die von einem Dichter minderen Ranges (also
bescheiden: von ihm selber) hervorgebracht würden:
Der Bewunderer des
Shakspeare.
Narr, du prahlst, ich befriedge dich nicht! Am Mindervollkommnen
Sich erfreuen, zeigt Geist, nicht am Vortrefflichen, an!
Diese Gedanken sind der Kern
des Aufsatzes, den ich, weil er in den Werken Kleists fehlt, folgen lasse:
Ein Satz aus der höheren
Kritik.
An ***
Es gehört mehr Genie dazu, ein mittelmäßiges Kunstwerk zu würdigen, als ein
vortreffliches. Schönheit und Wahrheit leuchten der <553:> menschlichen Natur in
der allerersten Instanz ein; und so wie die erhabensten Sätze am Leichtesten zu verstehen
sind (nur das Minutiöse ist schwer zu begreifen), so gefällt das Schöne leicht; nur das
Mangelhafte und Manierirte genießt sich mit Mühe. In einem trefflichen Kunstwerk ist das
Schöne so rein erhalten, daß es jedem gesunden Auffassungsvermögen, als solchem, in die
Sinne springt; im Mittelmäßigen hingegen ist es mit soviel Zufälligem oder wohl gar
Widersprechenden vermischt, daß ein weit schärferes Urtheil, eine zartere Empfindung,
und eine geübtere und lebhaftere Imagination, kurz mehr Genie dazu gehört, um es davon
zu säubern. Daher sind auch über vorzügliche Werke die Meinungen niemals getheilt (die
Trennung, die die Leidenschaft hineinbringt, erwäge ich hier nicht); nur über solche,
die es nicht ganz sind, streitet und zankt man sich. Wie rührend ist die Erfindung in
manchem Gedicht: nur durch Sprache, Bilder und Wendungen so entstellt, daß man oft
unfehlbares Sensorium haben muß, um es zu entdecken. Alles dies ist so wahr, daß der
Gedanke zu unsern vollkommensten Kunstwerken (z. B. eines großen Theils der
Shakespearschen) bei der Lektüre schlechter, der Vergessenheit ganz übergebener
Broschüren und Charteken entstanden ist. Wer also Schiller und Goethe lobt, der giebt mir
dadurch noch gar nicht, wie er glaubt, den Beweis eines vorzüglichen und
außerordentlichen Schönheitssinnes; wer aber mit Gellert und Kronegck hie und da
zufrieden ist, der läßt mich, wenn er nur sonst in einer Rede Recht hat, vermuthen, daß
er Verstand und Empfindungen, und zwar beide in einem seltenen Grade besitzt.ry.
Historische und eigene Erfahrung lehrt uns, wie die Mittheilung der allerpersönlichsten
Dinge, weil keine andere Art genügt, nur in allgemeiner Form geschehen kann. Dies gilt
hier von Kleist. Sein Satz aus der höheren Kritik ist eigentlich
Selbstbekenntniß und Selbstvertheidigung, die wir mit Theilnahme aus seinen Händen
entgegennehmen. Ich schließe an den
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