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 Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart:
        Spemann 1901), 269-271 
         
                    5. Brief eines Malers an seinen 
                    Sohn.  
                      
        In Nr. 19 der Berliner Abendblätter vom 22. October 1810, zufällig auf
        derselben Seite mit Kleists Erklärung an Brentano, steht ein mit y
        gezeichneter fingirter Brief eines Malers an seinen Sohn. Er ist gewiß von
        Kleist verfaßt, auch schon längst in seine Werke aufgenommen. 
         Aber was bedeutet dieser Brief? Welchem Anlaß ist er entsprungen? 
         Erwünschte Hülfe zur Beantwortung der Fragen bietet Arnim in den
        Abendblättern selbst. Er spricht in einer Uebersicht über die Kunstausstellung
        (Abendblätter S. 145) von der Madonnenmalerei der damaligen religiösen Kunst und
        von den Madonnenbildern, die in Berlin ausgestellt waren. Unter diesen befand sich eine
        Madonna des Akademie-Rectors und Hofmalers Weitsch. Weitsch galt für einen der
        bedeutendsten und als Lehrer einflußreichsten Maler Berlins. Bekannt ist sein aus jener
        Zeit stammendes Portrait Alexanders von Humboldt, und das große
        Landschaftsgemälde, den Chimborasso darstellend, mit Humboldt im Vordergrunde. Arnim sagt
        nun wörtlich in seinem Artikel: Weitsch hat ein reizendes Gesicht zur Madonna
        gewählt, auch hat es einigen Ausdruck von Andacht, aber die Madonna muß überhaupt mehr
        als reizend und andächtig sein, und in einer so viel versuchten, ganz bestimmten Aufgabe,
        an der so ungeheure Vorarbeiter vorausgegangen, ist die Leichtigkeit zu verwundern, mit
        der sich gute Künstler an die Aufgabe machen, die ein ironischer Brief in diesen
        Blättern (B. 19) recht artig darstellte. Gemeint ist damit Kleists Brief
        eines Malers an seinen Sohn. 
         Arnims Bemerkung, eine Madonna müsse überhaupt mehr als
        reizend und andächtig sein, kann nach dem Zusammenhange nur bedeuten, sie müsse
        auch diejenigen physischen <270:> Qualitäten besitzen, die es glaublich erscheinen
        lassen, daß sie die Mutter des Christkindes habe werden könnnen. Er verlangte wahre
        Frauenhaftigkeit für die Madonna. Die Tragweite dieses Ausspruches ist ersichtlich. Sie
        richtete sich gegen die in Kunst und Litteratur bis zur Abkehr von dem Natürlichen
        forcirte Bethätigung des religiösen Gefühls, die anstatt dem neu erwachten religiösen
        Leben zu nützen, den dem Christenthume feindlichen Mächten Waffen in die Hände
        lieferte. 
         Diese frauenhaften Qualitäten besaß also Weitsch Madonna
        nicht, und ebenso wenig andere Madonnen und religiöse Bilder, die die Ausstellung
        beherbergte. Man scheint mit derben Späßen darüber nicht sparsam gewesen zu sein.
        Brentano läßt einen Beschauer der Friedrichschen Seelandschaft bemerken, der
        einsame Kapuziner sei deshalb so traurig, weil er keinen artigen Jungen habe. Kleist aber
        in seiner unverblümten Art ging unmittelbar auf die Sache los und schrieb den ironischen
        Brief, mit dem ein Maler seinen Sohn, der gleichfalls Maler ist, im Sinne der Freunde der
        Abendblätter zurechtsetzt. 
         Der Vater tadelt den Sohn, daß sein Gefühl ihm für die Vollendung
        der Madonna so unrein und körperlich dünke, daß er jedesmal, bevor er zum Pinsel
        greife, das Abendmahl nehmen möchte, um es zu heiligen. Dies erklärt der Vater für eine
        falsche, dem Sohne aus der Schule, aus der er herstamme, anklebende Begeisterung. Der
        Vater weist den Sohn vielmehr auf die würdigen alten Meister hin, die nichts von
        überspannter Gefühlssentimentalität wußten. Mit sehr derber Ironie stellt er die
        Hervorbringung des Menschen als Beispiel hin: In dem Augenblick, da man ihn macht,
        ist es nicht nöthig, daß man dies, mit vieler Heiligkeit, bedenke. Ja, derjenige, der
        das Abendmahl darauf nähme, und mit dem bloßen Vorsatz ans Werk gienge, seinen Begriff
        davon in der <271:> Sinnenwelt zu construiren, würde ohnfehlbar ein ärmliches und
        gebrechliches Wesen hervorbringen; dagegen derjenige, der, in einer heitern Sommernacht,
        ein Mädchen, ohne weiteren Gedanken, küßt, zweifelsohne einen Jungen zur Welt bringt,
        der nachher, auf rüstige Weise, zwischen Erde und Himmel herumklettert, und den
        Philosophen zu schaffen giebt  d. h. einen frischen, kecken Jungen,
        der jedem Erziehungssystem Pestalozzis, Fichtes u. a. spotte. 
         Der in Kleists Briefe zurechtgesetzte Sohn ist also,
        natürlich unter der absichtlich belassenen Möglichkeit allgemeinerer Auffassung, der
        Berliner Akademiker Weitsch. Dann aber ist der Vater in dem Briefe auch wohl
        der Vater dieses Weitsch, der damals noch nicht lange verstorbene Maler und Professor
        Weitsch, der Director der Gemäldegallerie in Salzdahlum, dessen Portrait von seines
        Sohnes Hand man in Berlin das letzt Mal ausgestellt gesehen hatte. Dieser ältere Weitsch
        war aus dem gewöhnlichen, derb-energischen Soldatenstande hervorgegangen, hatte keine
        Spur von andächtiger Empfindelei und hieß allgemein Pascha Weitsch. Darin lag das
        Treffende und das Amüsante der Kleistischen Ironie, daß Pascha Weitsch so zum Akademiker
        Weitsch hätte gesprochen haben können. Das weitere Publicum brauchte das nicht zu
        verstehen: wir sehen eben wieder, wie in den Abendblättern meist nur für einen ganz
        kleinen Kreis eingeweihter Leser geschrieben wurde. Es gehörte Kleistische
        Furchtlosigkeit dazu, um in dieser Weise gegen ein Mitglied des Senats der Akademie und
        die von ihm vertretene Richtung vorzugehen. 
           
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