Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen
Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 171-175
Adam Müllers Beziehungen zu Kleist. Die Berliner Abendblätter
VIII. Kapitel
Adam Müllers Beziehungen zu Kleist.
Die Berliner Abendblätter.
Unter allen, die Heinrich von Kleist im Leben nahegestanden, nimmt Adam Müller eine
besondere Stellung ein. Er war der einzige, der auf Kleist einen entschiedenen Einfluß
ausübte, der auf sein Leben und seine geistige Entwicklung bestimmend einwirkte. Kleist,
der im Verkehr mit seinen Freunden immer der belehrende, erziehende und leitende
war, Adam Müller war ihm gegenüber eine Autorität, der er sich fügte;
Kleist, der als Redakteur rücksichtslos mit den Beiträgen seiner Freunde und Mitarbeiter
zu verfahren pflegte, nahm anstandslos auf, was aus Müllers Feder stammte, es mochte so
umfangreich und so bedenklich als möglich sein.
Wie war diese eigenartige Persönlichkeit beschaffen,
worauf beruhte ihr nachhaltiger Einfluß auf Kleist, und nicht bloß auf diesen, sondern
auf manche andere hervorragende Zeitgenossen? Monographien über Müller sind
angekündigt; noch ist das biographische Material über ihn viel zu spärlich, noch sein
Charakterbild viel zu sehr von der Parteien Gunst und Haß getragen, als daß es einer
wissenschaftlichen Kritik möglich wäre, seinen Einfluß auf Kleist richtig zu bewerten,
zu entscheiden, wie weit er ihm genützt und ihn gefördert, wie viel er ihm geschadet und
wie weit er an seinem unglücklichen Ende beteiligt ist. <172:>
Als der um zwei Jahre jüngere Adam Müller, mit seinem
vollen Namen Adam Heinrich Müller, Ritter von Nittersdorf, Heinrich v. Kleist
während seines Dresdener Aufenthaltes nahetrat, hatte er schon manche Wandlungen
durchgemacht. Aus einer protestantischen Berliner Familie stammend, von seinem Großvater,
dem als Orientalisten und Übersetzer bekannten Prediger Cube erzogen und für das Studium
der Theologie bestimmt und vorgebildet, begann er mit 19 Jahren seine Studien in
Göttingen. Durch die Bekanntschaft mit dem um fünfzehn Jahre älteren Gentz wird er der
Beschäftigung mit Tagespolitik und dem öffentlichen Leben zugeführt, entsagt dem
Studium der Theologie und befaßt sich in Göttingen drei Jahre lang mit den
Rechtswissenschaften. Nach der Absolvierung seiner Universitätsstudien kehrt er nach
Berlin zurück, gibt die Rechtswissenschaft auf und widmet sich nunmehr den
Naturwissenschaften. Aus diesem häufigen Wechsel der Studien und des Berufs ohne weiteres
auf eine gewisse Unstetigkeit und Oberflächlichkeit schließen zu wollen, erscheint nicht
angebracht. Was Müller von Jugend auf anzog und von den positiven Wissenschaften
ablenkte, war das Studium der Philosophie; auch als Jurist blieb er immer der
Rechtsphilosoph, und sein ausgesprochenes Streben nach dem organischen Zusammenhang,
welches er auf die Beurteilung aller Lebenserscheinungen ausdehnte, mag ihn folgerichtig
den Naturwissenschaften zugeführt haben. Soviel ist sicher, daß seine große geistige
Befähigung schon in Göttingen hervortrat; als junger Student bewies er schon hier in
öffentlichen Vorlesungen eine blendende Rednergabe. Welcher Beliebtheit er sich erfreute,
beweisen am besten die Notizen im Tagebuch Fr. v. Gentz. Über den
damaligen Studenten schreibt er am 7. Juni 1800: Den angenehmsten Besuch eines
meiner liebsten Freunde, des jungen Adam Müller, aus Göttingen gehabt. Selbst
Varnhagen, der später so absprechend über ihn urteilte, spricht von dem jungen Müller
in rühmenden und anerkennenden Worten. <173:>
Auf Betreiben von Gentz trat Müller zunächst bei der
kurmärkischen Kammer als Referendar ein, aber die Beschäftigung konnte ihn nicht
fesseln. Soll ich der Angabe Raumers und Koepkes trauen (s. u.), so quittierte er den
Dienst schon nach acht Tagen. Nach größeren Reisen durch Dänemark und Schweden zog sich
Müller nach Russisch-Polen zurück auf die Güter eines Freundes, des Generals
Kurnatowski, um sich hier in ländlicher Abgeschiedenheit der Selbstschau hinzugeben,
bemüht seine wissenschaftliche Bildung auszubauen und mit den tief in seiner innersten
Natur wurzelnden religiösen Anschauungen in Übereinstimmung zu bringen. Für das
psychologische Verständnis Müllers scheint mir diese durch mehrere Jahre sich
hinziehende Periode völliger Absonderung besonders wichtig; leider ist das Material,
welches aus dieser Zeit vorliegt, sehr spärlich, und auch Konfessionen aus der
Einsamkeit, welche sich in Müllers Nachlaß gefunden haben sollen, sind nicht zugängig.
Aber soviel über seine Zurückgezogenheit berichtet wird, läßt den Schluß zu, daß die
Isolierung und die fortwährenden Spekulationen sehr schädigend auf sein Nervensystem und
sein seelisches Befinden gewirkt haben; seine an sich sensible Natur wurde um vieles
empfindsamer; durch alle Briefe jener Zeit zieht sich die Klage über die mächtige
Beeinflussung durch die Phänomene des Wetters, über sein Befinden und seinen schwachen
Gesundheitszustand. Es berührt ganz eigenartig, wenn er schreibt: Den ganzen Monat
August hindurch während der fürchterlichen Konjunkturen von Mond, Mars und Venus auch
Jupiters habe ich viel gelitten
,. unter allen diesen Schmerzen gedeihen meine
Ideen über die Astrologie und den Umgang der Planeten mit einander; davon verstehe ich
mehr als einer. Fasse ich alles zusammen, ziehen wir namentlich in Betracht, daß
unmittelbar nach dieser Periode Müller in Wien ganz unerwartet zum Katholizismus
übertrat, so läßt sich der Verdacht nicht von der Hand weisen, daß diese ganze lange
Periode freiwilliger Abgeschiedenheit und Trennung von der großen Welt mit einer
krankhaften seelischen Verfassung <174:> verknüpft war resp. aus ihr resultierte.
Seelische Depression, melancholische Gemütsverfassung, Selbstbeschuldigung, Flucht in die
Kirche das ist der gewöhnliche Symptomenkomplex solcher Psychosen, die wir
ein Recht haben auch bei Adam Müller zu vermuten. Das ganze Unstete in den Äußerungen
und Betätigungen Müllers, seine jähen Entschlüsse, sein Mangel an festem Halt, seine
Unfähigkeit zu wissenschaftlicher Vertiefung erklären sich am ungezwungensten aus einer
neuropsychopathischen Anlage, die schon in früher Zeit, d. h. in der ersten Hälfte
der zwanziger Jahre, eine schwere und langwierige Psychose herbeigeführt zu haben
scheint. Von diesem Standpunkt aus läßt sich am besten die Eigenart des Mannes
erklären, der die Gegensätze lehrte und selbst auch die schroffsten
Gegensätze in sich barg.
Wilbrandt, der zuerst eine Charakterstudie Müllers
versucht hat und seine Beziehungen zu Kleist eingehend schildert, konstatiert ebenfalls
Müllers geistige Störung. Nach seiner Darstellung scheint sich unmittelbar nach dem
Konfessionswechsel Müllers Mystik und Symbolik der Verrücktheit zu nähern.
Er erwähnt seine Beschäftigung mit dem geheimnisreichen Leben der Wolken,
die Abhängigkeit seines seelischen Befindens von jedem lebhaften und ungewöhnlichen
Witterungszustand, seine kindische und krankhafte Gewitterfurcht, sein Bestreben, die
geistige Entwicklung bedeutender Männer physikalisch und mathematisch zu berechnen. Meine
Auffassung, die ich allerdings ebensowenig wie Wilbrandt zu beweisen imstande bin, weicht
von der Wilbrandts dahin ab, daß ich Müllers psychische vorübergehende Erkrankung in
die Zeit vor dem Konfessionswechsel verlege und diesen als einen Ausfluß seiner Psychose
betrachte im Gegensatz zu allen denen, welche ihm eigensüchtige und
Zweckmäßigkeitsmotive unterlegen. Gewiß hat Wilbrandt recht, wenn er Müllers geistige
Gesundung auf solide Studien und den Einfluß des Weltmannes Gentz zurückführt, aber
mehr als das glaube ich, hat auf Müllers psychisches Befinden die Beschäftigung mit und
die Begeisterung für Kleists Poesie gewirkt; <175:> der rege und andauernde Verkehr
mit Kleist, seine aufopfernde Freundschaft, die ihm zur Ehe verhalf, wird auf seine
seelische Verfassung günstig gewirkt und ihm einen festen Halt verliehen haben.
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