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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 166-170

Kleist in Österreich


Wie über die Ereignisse in der zweiten Hälfte des Jahres 1809, so sind wir nur mangelhaft bisher über das unterrichtet, was eigentlich Kleist damit bezweckte, als er sich den Ereignissen in die Arme warf und mit Dahlmann an den Schlachten teilnahm. Die Rolle eines Schlachtenbummlers hat Kleist sicher nicht gespielt. Der an Buol gerichtete Brief aus Stockerau (25. Mai 1809) belehrt uns über die Absichten, welche Kleist verfolgte. Es heißt hier: Der Brief, mit der ganzen Beschreibung dessen, was ich am 22. in Enzersdorf selbst sah, ist nach Prag gegangen. Kleist sagt hier deutlich, daß er einen Bericht über die Vorgänge in der Schlacht bei Enzersdorf abgefaßt hat. Wo ist dieser Bericht Kleists geblieben? Da Kleist seinen Bericht durch Buol an den Grafen Kolowrat-Liebsteinsky, den Stadthauptmann in Prag, sandte, so war es zweifellos ein offizieller, für die staatlichen Behörden bestimmter Bericht. Ist er der Öffentlichkeit übergeben worden? Es existiert, soweit ich unterrichtet bin, nur eine offizielle Schrift über die Schlacht bei Enzersdorf, die betitelt ist: Offizielle Berichte von der Schlacht bei Enzersdorf und Teutsch-Wagram, Weimar 1810. Der umfangreiche Bericht, den ich in der zweiten Auflage durchgesehen, bringt eine offizielle Darstellung von österreichischer Seite, eine offizielle Darstellung von französischer Seite und als dritten Teil eine deutsche kritische Darstellung eines ungenannten Autors. Mir fehlt jeder äußere Anhaltspunkt, ob und inwieweit Kleist <167:> an diesem Buche beteiligt ist, stilistische Eigenarten sind für diese kritisch-wissenschaftliche Abhandlung nicht maßgebend und entscheidend. Wir können unsere Stellungnahme nur so präzisieren, daß, wenn Kleists notorischer Schlachtenbericht von den österreichisch-offiziellen Kreisen der Öffentlichkeit übergeben worden ist, er sich in diesem Buche finden muß, wofür auch der Umstand spricht, daß die Arbeit zunächst, wie es im Vorwort heißt, in der Kleist so nahestehenden „Pallas“ seines Freundes Rühle erschienen ist. Einem Briefe Gentz’ an Rühle können wir entnehmen, daß dieser Bericht in den beteiligten Kreisen Österreichs ein großes Aufsehen hervorgerufen hat.
Von Prag aus betrieb Kleist die Herausgabe eines Wochenblattes unter dem Titel „Germania“. Er berichtet über seine Absichten an Friedrich v. Schlegel \1\, den er um seine Unterstützung angeht, und der als Sekretär bei der Kaiserlichen Hof- und Staatskanzlei in der Tat die geeignete Person war, um die nachgesuchte Bewilligung des Ministers des Äußeren Grafen von Stadion zu beschleunigen. Wie Kleist an Schlegel d. 13. Juni schreibt, wäre das Gesuch für ihn durch den Oberstburggrafen von Böhmen Josef Graf v. Wallis bereits abgeschickt worden. In der Tat findet sich das Konzept dieses Schreibens vom 12. Juni im Statthalterei-Archiv zu Prag. Es hat nach der wortgetreuen Abschrift des gegenwärtigen Archivdirektors, Dr. Karl Köpl, den folgenden Wortlaut:
Hochgeborener Graf!
„Aus der Beilage werden E. E. zu entnehmen geruhen, daß ein sicherer von Kleist, als Schriftsteller nicht unbekannt von dem ehemaligen Sekretär bei der k. k. Gesandtschaft in <168:> Dresden, von Buol, besonders empfohlen, eine Zeitschrift unter dem Titel „Germania“ in Prag herauszugeben Willens ist, deren Tendenz auf Norddeutschland gerichtet sein soll.
Ich würde um so weniger Anstand nehmen, die Bewilligung hierzu zu ertheilen, als das Manuskript ohnehin jedesmal zur Censur vorgelegt werden muß, wenn nicht hier höhere Staatsrücksichten einträten, welche es mir zur Pflicht machen, E. E. vor Allem in die Kenntnis dieses Vorhabens zu setzen und mir hierüber die Eröffnung der allerhöchsten Willensmeinung zu erbitten.
Der ich usw.Wallis.“
Auffallend ist, daß, während Kleist wiederholt von einem Gesuch spricht, das Dahlmann und er an den Grafen Stadion richteten, bei Wallis nur die Rede von Kleist allein ist. Es muß also auch die Eingabe nur von Kleist abgefaßt und unterfertigt sein. Wir ersehen ferner aus dem Schreiben, daß Kleist mit zwei verschiedenen Persönlichkeiten des Namens Buol in Verbindung stand. In Dresden verkehrte er in dem Hause des Kaiserl. österreichischen Gesandten, Johann Rudolf Graf v. Buol-Schauenstein (Brief aus Dresden 17. Sept. 1807), während der in dem Briefe an Schlegel erwähnte Buol, sowie der Buol, an den der voraufgehende Brief aus Stockerau gerichtet ist, ein Sekretär der Gesandtschaft in Dresden war; nach Dombrowsky (Euphorion 14) aus der Familie Buol-Mülingen und untergeordnet seinem Chef, dem Grafen Stephan Zichy.
Eine Antwort auf das angeführte Schreiben von Wallis findet sich nicht im Statthalterei-Archiv, ebensowenig irgendeine Spur einer internen Verhandlung in dieser Angelegenheit. Das ist auch ganz natürlich, weil sich die Absichten Kleists durch den Gang der Ereignisse ganz von selbst zerschlugen.
Kleist blieb noch bis gegen Anfang des Jahres 1810 in Österreich. Wir haben aus der zweiten Hälfte 1809 nur zwei Briefe. Der erste vom 17. Juli schildert Ulrike Kleists verzweifelte Lage, nachdem seine Hoffnungen auf die „Germania“ zunichte geworden. Aber dennoch klingt er hoffnungsvoll „aber Hoffnung <169:> muß bei den Lebenden sein“. Und ebenso hoffnungsvoll klingt der zweite Brief aus: ich gehe nach dem Österreichischen zurück und hoffe, daß du bald etwas Frohes von mir erfahren wirst. Das schrieb Kleist am 23. November. Daß Kleist diese Reise im November eigens zu dem Zwecke unternahm, um seinen Geldnöten abzuhelfen, ist nicht anzunehmen; er würde sich in diesem Falle wohl vorher mit Ulrike verständigt haben. Irgendeine Mission, über deren Charakter ich oben Vermutungen ausgesprochen, mag ihm die Vaterstadt erreichbar gemacht und ihn veranlaßt haben, dort eine Erbschaftsangelegenheit zu ordnen und Ulrike unvermutet aufzusuchen. Anfang 1810 sehen wir Kleist ganz unerwartet in Frankfurt a. M. (sollte ihn eine Mission nach Frankreich geführt haben?), dann in Gotha (wo er sicherlich Schlotheim aufsuchte) und schließlich in Berlin.
In die Zeit von Mitte Juli bis Mitte November müßte Kleists schwere Erkrankung fallen, über welche Wilhelm an Jakob Grimm berichtet. Wir können den Zeitraum der Erkrankung noch weiter einengen. Das von mir bereits erwähnte, anscheinend verlorene Blatt aus dem Nachlasse Dahlmanns mit einer Übersetzung aus dem Spanischen von Kleist trägt das Datum vom 29. Oktober 1809. Kleists schwere Erkrankung konnte danach nur in die Zeit von Mitte Juli bis Mitte Oktober 1809 fallen. Allgemein war das Gerücht verbreitet, daß Kleist im Kloster der Barmherzigen Brüder zu Prag gestorben ist. Ich habe versucht, in das Dunkel, welches Kleists Krankheit umgibt, hineinzuleuchten, und ich habe schließlich durch die liebenswürdige Vermittelung des Herrn Prof. Dr. Joh. Krejcí, Dozenten der deutschen Sprache und Literatur an der Prager böhmischen Universität, das Folgende in Erfahrung gebracht: In dem Krankenprotokolle des Korrelats der Barmherzigen Brüder vom Jahre 1809 kommt der Name Kleists nicht vor, wie der Prior durch eine Zuschrift bestätigt. Dieses negative Resultat findet seine Bestätigung im folgenden Umstand. Im genannten Jahre war Primarius des Krankenhauses Dr. Held, ein geistvoller und hochgebildeter Mann, der auch mit der deutschen Literatur gut ver- <170:> traut war. Von ihm besitzt das böhmische Museum in Prag eine reichhaltige Korrespondenz. Es ist kaum denkbar, daß sowohl der Name als auch der Zustand des deutschen Dichters Helds Aufmerksamkeit und Interesse nicht erweckt hätte, und man kann mit Recht erwarten, daß man darüber auch in seiner Korrespondenz etwas vorfinden würde. Doch des Dichters geschieht darin keine Erwähnung.
Ich halte mich nach alledem für berechtigt, das ganze Gerücht von einer vermeintlichen Erkrankung Kleists in das Reich der Fabel zu verweisen. Ich halte ferner aber auch die Tendenz, Kleists Geschick in dieser Periode grau in grau zu malen, für unberechtigt. Was Kleist in dieser Zeit getrieben, das ist zunächst völlig in Dunkel gehüllt, und darüber lassen sich nur Vermutungen aufstellen. Aber der Umstand, daß er über seine Person und seine Betätigung seine Verwandten und Freunde völlig im Ungewissen läßt – worauf wohl die Gerüchte über seinen Tod zurückzuführen sind –, scheint mir ein Beweis dafür, daß damals Kleist in hochpolitischer Mission eine rege Tätigkeit entfaltete.

\1\ Auch Schlegel trug sich damals mit der Absicht, ein Journal herauszugeben, die er später auch verwirklichte. Aus der Korrespondenz Pfuels ersehe ich, daß ihn Schlegel für sein Journal gewinnen wollte. Aber Pfuel lehnte ab, denn so drückte er sich aus: das kann der Anlage nach sehr leicht ein Ende mit Schrecken nehmen; die Zeit ist keiner literarischen Unternehmung günstig. Die Leute sind ohne Geld und die Zensur ohne Erbarmen.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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