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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 142-147

Varnhagens Beziehungen zu Kleist

Die Freunde vom „Nordstern“ wurden durch die Affäre Bernhardis, der ihnen nahestand, in Mitleidenschaft gezogen und machten seine Sache zu der ihren. Aus Halle schreibt Varnhagen an Chamisso den 7. Januar 1807:
„Bernhardi ist nun in aller Form mein Freund geworden, wechselseitiges Vertrauen hat unsern Bund bestätigt; eine kernige, redliche Seele, von würdiger Gesinnung! es war eine Zeit in Berlin, da man solcherlei wohl erproben konnte. Er ist in ungeheuren Kämpfen begriffen, mannhaft muß er verfluchte Schändlichkeiten bestreiten, und gegen solche, daß ihm bei der ersten Entdeckung das Herz bluten mußte. Ich bin auf seiner Seite, und vielleicht ficht auch mich das Unheil an. Mehr darf ich Dir nicht sagen, und auch dies im höchsten Vertrauen. Aber wo Du grauenvolle Beschuldigungen auf Bernhardi vorbringen hörst, da sage, daß man lügt. Er bedauerte sehr, daß Du nicht da warst, er hätte Dich eher als mich zum Vertrauten gewählt; er hat rechte Freude an Dir.“
Die Angaben Varnhagens über Kleists Bemühungen in der Sache Bernhardis werden bestätigt durch ein Billet Varnhagens an Bernhardi, das H. H. Houben im Nachlaß Varnhagens gefunden und Kayka (1. c.) veröffentlicht hat. Das Billet hat folgenden Wortlaut:
„Soeben, mein lieber Freund, läuft einliegender Brief von Heinrich von Kleist aus Dresden ein, der freundlich genug lautet. Das Billett kann ich zum Theil nicht lesen, auch kommt mir die Form seltsam vor. Wissen Sie etwas von einer Wilhelmine Wichmann (oder Spielmann, ich kann’s nicht genau lesen), oder ist sie Ihnen ganz unbekannt? Ich vermuthe, daß Kleist dieser den Auftrag gegeben hat, sich zu erkundigen; auf jeden Fall können wir uns auf diesen verlassen.
Mittwoch nachmittags.Letzte Straße Nr. 56.
Die Erklärung, die Kayka für das Billet sucht, trifft nicht zu; es handelt sich dabei nicht um eine politische Verbindung, wie er voraussetzt, sondern um die Übermittlung eines Briefes Kleists aus Dresden, in welchem er offenbar hoffnungsfreudig <143:> über erfolgreiche Schritte in der Scheidungsangelegenheit Bernhardis berichtet. Als weitere Erklärung dient auch eine Stelle in Tiecks Briefe\1\: „einige schlechte Mägde, die schon vor Jahren aus dem Dienst hatten gejagt werden müssen, waren seine Zeugen.“ Wir können wohl aus dieser Angabe Tiecks einen Schluß ziehen, nach welcher Richtung die Bemühungen Kleists gingen, und was der Inhalt des Billets besagen will.
Auf die Beziehungen Kleists zu Tieck mußte die ganze Affäre ihre Schatten werfen. Sollen wir Tiecks Angaben trauen, so hat er mit der Scheidungsklage wenig zu tun gehabt und hielt sich während des Prozesses außerhalb auf „in Italien, nachher auf dem Lande wieder auf Reisen“. Im Anfange des Jahres 1808 war Kleist für Bernhardi tätig; in den Sommer desselben Jahres verlegt Tieck 1826 in der Vorrede zu seiner Kleistausgabe die nähere Bekanntschaft mit Kleist. Daß Kleist mit einer gewissen Voreingenommenheit Tieck gegenübergetreten sein wird, läßt sich voraussetzen; noch im Oktober desselben Jahres, also wenige Wochen nachher, verkehrte er auf das vertrauteste, wenigstens kurze Zeit mit Varnhagen, dem Freunde und Anwalt Bernhardis. So erklärt es sich wohl als ein beabsichtigtes Verhalten Kleists, wenn Tieck aus jener Zeit ihn als „ernst und schweigsam“ schildert, wenn die so kurze Schilderung Tiecks von der Persönlichkeit Kleists die Tatsache bestätigt, daß die beiden im Leben sich eigentlich niemals nahegetreten sind, wenn sie im Grunde genommen nichts bedeutet, als ein Verlegenheits- und Phantasieprodukt, das weniger auf unmittelbarer Anschauung beruht, als auf einem falschen Rückschluß aus dem unglücklichen Ende Kleists. Wie wäre es sonst zu erklären, wenn Tieck eine Ähnlichkeit konstruierte zwischen Kleist und Torquato Tasso, mit dem er die schwere Zunge gemein haben sollte – eine Ähnlichkeit, die weder ein anderer Mitlebender heraus- <144:> gefunden, noch wir aus dem Bilde Kleists bestätigen können. Es mag hiermit wohl auch zusammenhängen, wenn der Phöbus, den einem Fouqué, Loeben u. a. seine Spalten öffnete, keine Beitrag von Tieck aufweist. Daß Tieck nach dem Tode Kleists für die Werke des Dichters mit einer großen Energie, mit vielem Takt und dem ganzen Aufwand seiner Autorität eintrat, muß ihm als unvergängliches Verdienst angerechnet werden. Aber noch bei der Herausgabe seiner Werke steht er der Persönlichkeit Kleists ganz liebe- und interesselos gegenüber, und wir empfinden als schweren Verlust Tiecks persönliche Gleichgültigkeit, auf welche wir die mannigfachen Unterlassungssünden bei der langvorbereiteten Herausgabe zurückführen müssen.
Wie ich oben hervorgehoben habe (siehe S. 22), spielen die häufigen Selbstmorde nahestehender Personen im Leben Kleists eine gewisse Rolle. Ähnlich liegt es mit den Ehescheidungen, die in das Leben Kleists hineinspielen. Schon auf die Kindheitstage des Schülers Kleist wirft die Scheidung im Hause seines Lehrers und Pensionsvaters Catel ihren Schatten. In Berlin verwendet er sich in der Scheidungsangelegenheit seiner Schwester, der Frau von Loeschbrandt. Jetzt erfahren wir von seiner tatkräftigen Beteiligung in Bernhardis Ehescheidung. Um dieselbe Zeit spielte die Scheidung in dem Kleist engbefreundeten Hazaschen Hause, wo er für die „liebenswürdige und vortreffliche Dame“ die ersten und letzten Schritte tut, im November 1808 eine Reise unternimmt, und nach dem Zeugnis seiner Schwester schwere Auftritte mit Adam Müller zu bestehen hat. Wie bei dem Eintritt ins Leben die Catelsche Scheidung, so verdüstern seine letzten Tage die Zerwürfnisse in dem, ihm das Elternheim ersetzenden Potsdamer Hause seines Vetters und die beabsichtigte Scheidung des Vogelschen Ehepaares. Gewiß eheliche Scheidungen spielten sich in jener Zeit häufig ab und gehörten zu den gewöhnlichen Tagesereignissen, aber doch können bei der empfindlichen Gemütsart Kleists und seinem tiefernsten <145:> Naturell alle diese Vorfälle nicht spurlos an ihm vorübergegangen sein. Wenn er während seines ganzen Lebens so große ideelle Forderungen an ein weibliches Wesen stellte, die er sich zur Frau ausersah, und wenn es ihm trotz seines ausgesprochenen Verlangens nicht glückte, einen Ehebund zu schließen, so werden bewußt und unbewußt alle diese traurigen Lebenserfahrungen dabei mitgespielt haben.
Wir besitzen von Varnhagen außer den hier mitgeteilten brieflichen Äußerungen über Kleist noch anderes auf ihn bezügliches Material. Im Nachlaß Varnhagens finde ich eine eigene Kleistmappe, in der Varnhagen offenbar in seinen letzten Lebensjahren verschiedene Notizen über Kleist gesammelt hat, jedenfalls in der Absicht, über den Dichter und speziell über seinen Tod eine zusammenhängende Darstellung zu geben. Das Material enthält für uns nichts besonders Neues, es ist zum großen Teil überholt durch die Veröffentlichung Paul Lindaus. Varnhagen wird mehr gewußt haben, als hier niedergelegt ist. Er verkehrte mit den besten Freunden Kleists; unter den Intimen in Rahels Kreise ist oft v. Pfuel angeführt. Er kannte Vogel, und seine und der Adolphine Tochter Pauline, verehelichte Eik war eine nahe Freundin Varnhagens und Rahels, wie ein von ihr vorhandener Brief von Varnhagens Nachlaß beweist.
Die erwähnte Kleistmappe bei Varnhagen enthält einige für uns ziemlich nichtssagende Notizen und außerdem den gesamten Peguilhenschen Nachlaß in einer sehr korrekten Abschrift von der Hand der Nichte Varnhagens und von ihm selbst sorgfältig durchgesehen, kollationiert und verbessert. Wir bekommen dadurch eine weit zutreffendere Fassung von Kleists Briefen und Zetteln, die durch Lindau veröffentlicht sind und eine vollständige Abschrift des Peguilhenschen Aufsatzes, der bei Lindau nur sehr lückenhaft, gekürzt und mit vielen Abweichungen gedruckt ist. Ich lasse mir daran genügen, an der Hand der Schmidtschen Ausgabe, welche schon die wichtigsten Fehler ausmerzt, die Abweichungen in Kleists Briefen an <146:> Maria und im Gedankenaustausch mit Henriette Vogel anzugeben, das übrige Material bei Varnhagen gebe ich wörtlich wieder, – ohne Kommentar, da ich Gelegenheit habe, in einem späteren Kapitel darauf zurückzukommen.

I. Korrecturen.
Brief an Maria v. Kleist vom 10. Nov. 1811 Seite 435 Zeile 15 statt nur: nun.
Brief an dieselbe vom 12. Nov. 1811. Die Lücke, von Varnhagen ausgefüllt: herrlichsten.
Im Studienblatt Henriettes heißt es: Zeile 3 statt „meine Freude im Leid“: meine Freude mein Leid.
Zeile 11: statt „meine Rast“: mein Reh.
Zeile 14: statt „mein Werthester“: mein Welttheil.

II. Notizen von Varnhagen.

s. Staengle, Kleist bei Varnhagen in Kraków >> Notizen über irrtümliche Berichte zum Verhältnis von Kleist und Henriette Vogel, April 1858

s. Staengle, Kleist bei Varnhagen in Kraków >> Notiz zu Friedrich Ludwig Vogels Tod <147:>

s. Staengle, Kleist bei Varnhagen in Kraków >> Notiz zu Kleists Geschwistern

\1\ A. a. O.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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