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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 136-141

Varnhagens Beziehungen zu Kleist


VI. Kapitel.

Varnhagens Beziehungen zu Kleist.

In seinen „Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens“ erzählt Varnhagen, daß er im Winter 1803-1804 durch Brockes und Alexander v. d. Lippe die Bekanntschaft Kleists machte, der damals noch seine dichterische Begabung geheim hielt, „überhaupt den Genius und die Kunst noch nicht verriet, durch die er sich nachher berühmt gemacht“, der sich dem übrigen Kreis junger Männer freundschaftlich anschloß, den er als „anteilvoll Strebenden“ und als liebenswürdigen, beliebten jungen Mann schildert. An dieser Stelle druckt er auch wortgetreu die Eintragung Kleists in sein Stammbuch ab vom 11. August 1804, mit der Kleist Abschied nahm von Varnhagen, den er, abgesehen von dem flüchtigen Aufenthalt in Dresden, Oktober 1808 (Varnhagen an Rahel I 73) nicht wiedersah, und mit der er in der Unterschrift „Wir aber wollen einander gut bleiben“ zum Ausdruck bringt, daß sie Freunde sind und waren. Steigs Behauptung, daß Varnhagen den Dichter beinahe nie gesehen und gekannt hat, entspricht nicht den Tatsachen. Über die weitere Beziehung der beiden zueinander und über ihre Gesinnung geben uns einige, allerdings nur spärliche Briefstellen Auskunft aus der Korrespondenz Varnhagens mit Fouqué, die ich zunächst in chronologischer Reihenfolge hier wiedergebe.
(1) Berlin d. 28. Dezember 07. (Postscript.)
Um Gotteswillen kein Morgenblatt! Lieber noch die Abendzeitung, da geht man wenigstens drauf zu Bett! Am ehesten noch den Föbus, dessen Federn man freilich noch nicht kennt. <137:>
(2) Berlin d. 9. Februar 08.
Was sagst Du zu den Föbusrittern? Sollte man sie nicht strafen mit Boileaus Vers: pour eux Phébus est sourd et Pegaze est rétif!! Das Pochen auf Goethe und dann auch auf’s Honorar ist doch schändlich! Mir thuts besonders leid um Kleist, der sonst ein guter, lieber Mensch war, auch noch in Bernhardis Sache mit treuen und guten Dienst leistet. Ich werde Dir lieber zum Prometheus rathen, der scheint solider – – –
(3) Berlin d. 4. April 08.
Wo sind denn die ersten Schriftsteller Deutschlands, welche man als Mitarbeiter im Föbus versprach? Ich finde bis jetzt nur Adam Müller und Heinrich Kleist, und wiederum Heinrich Kleist und Adam Müller. Doch hat mir Kleists Erzählung von der Markise wohl gefallen, sie ist geschickt und gebildet, aber – das ist wichtig – gebildet wie die Erzählung eines Weltmanns, nicht gebildet wie die eines Dichters, in diesen wenigen Worten glaub’ ich Kleists ganzes Wesen bestimmt ausgesprochen zu haben, und wenn auch preißwürdig mir dieses Talent erscheint, und selbst den Kleist ich persönlich liebe, so muß es doch bitter schmerzen, einen solchen an der Spitze eines Journals zu sehen, das versprochen hat mit Kunst und Poesie die Nazion zu erfreuen. Der große Cervantes würde nie sagen: in dem … Kriege, ein Oberst der … Truppen, bei der Erstürmung von M…, die Markise von O… O über den ekelhaften Kerl, der als Dichter ordentlich an sich halten will und beileibe nicht die ganze Welt enthüllen mag, in der seine Gestalten leben! –
(4) Berlin d. 30. Juni 08.
Im Freimüthigen waren gelegentlich einer Rezension des Föbus Deine Romanzen ziemlich gelobt.
(5) Berlin d. 3. August 08.
Von Adam Müller und Heinrich Kleist weiß ich kein Sterbenswort, aber an ihren Tod scheint man glauben zu müssen. <138:>
(6) Berlin d. 20. Septembr 08.
Deine Briefe können uns\1\  hier nicht mehr treffen, wohl aber in Dresden, wo ich einige Zeit bleiben, etwa vierzehn Tage, und wo ich Heinrich Kleist aufsuchen werde.
(7) Dresden d. 13. Oktober 08.
Heinrich Kleist habe ich noch nicht gesehen, er ist verreist, hat mir ein freundliches Billet geschickt vorher, da ich aber schon nach Leipzig hinüber war. Der Adam hat auf meine abgegebene Karte nichts gethan, läßt er mich laufen, laß ich’s ihn auch recht gern. Sehr leid ist mir, daß ich Pfuel nicht aufzufinden weiß, da Kleist nicht hier ist; wenn er aber, wie man glaubt, in ein paar Tagen wiederkommt, kann ich auch wohl noch Pfuel mit ihm besuchen. Kleist ist mir immer sehr lieb, so schweren Tadel ich an seinen nicht undichterischen Werken üben muß, der Adam verdirbt ihn, sie bilden ihm, sagt man, ein, daß er Shakspear sei! Den Dokt. Schubert habe ich nicht kennen lernen; er soll kränklich sein; weil er ein Freund von Karl von Raumer ist, der mich hintergangen, mag ich nichts mit ihm haben. Des Mahlers Hartmann Bekanntschaft hatte Harscher gemacht, ich hab’ ihn noch einige Mal gesehen, ohne viel Gutes noch viel Böses von ihm sagen zu können.
(8) Steinfurt d. 18. November 10.
An Kleist meinen besten Glückwunsch zu seinen herzerfreuenden Arbeiten.
(9) Burgsteinfurt d. 24. Dezember 10.
Grüße Bernhardi, Hizig und besonders meinen lieben Kleist – – – – Apropos! lasse Dir doch von Kleist seine Gedichte aus dem Sommer 1809 zeigen, es ist Gold darunter, und lauter edles Erz, ein Gedicht an den Kaiser Franz, ein Sonett an die Königin von Preußen und ein Jagdlied, das anfängt: „Zottelbär“ sind ganz herrlich. Mir hat sie sein Freund, Baron von Buol, in Prag mitgetheilt. <139:>
(10) Prag, den 19. Dezember 11.
Du warst wohl nicht weniger als ich bestürzt über Kleists traurigen Ausgang, mein innig geliebter Freund! Eine so herrliche Dichterseele, ein so schönes Talent missen wir nun, Freunde des Mannes und seiner Kunst! Zwei Tage bevor mir Brentano, denn dieser erfuhr es zuerst, die Nachricht brachte, hatte ich mit steigendem Vergnügen den zweiten Theil der liebevollen Erzählungen durchgelesen, und indem ich mit Liebe bei seiner Dichtung verweilte, ging ich unmerklich in das Gefühl des Wohlgefallens über, das ich mir für unser Wiedersehen dachte, ein Ereigniß, das mit vielen andern ich seit langer Zeit gewohnt war, mir nahe zu denken, so lange nämlich, als mein Verlangen schon dauert, nach Berlin zu kommen; und wenn nicht aber dort, doch wenigstens im Preußischen fortan zu leben. Noch weiß ich keine näheren Umstände von Kleists sonderbarem Ende, allein nach allem, was mir Pfuel, was mir Brentano von seinen Eigenheiten und seinen letzten Schicksalen erzählt haben, bedarf ich eben keiner Erklärung; die Wege sind mir nicht fremd, deren Ziel so aussieht. Der Körper muß sich gefallen lassen, von dem Leid der Seele fortgerafft zu werden, während er selbst noch frisch könnte weiterleben, und er macht es mit der Seele oft nicht besser. Aber wie sehr am äußersten Rande muß der Arme noch gelitten haben, ehe er mit sich auch sein Talent, das er vergötterte, zu vernichten sich entschließen konnte. Pfuel war überaus getroffen, aber ihm war es nicht unvorhergesehen gewesen, und nur unerwartet, daß es jetzt schon geschehen sei. Laß mich hinwegblicken von dem in tausendfältiger Verwirrung Abgeschiedenen auf dein freundliches, einfaches, liebevolles Leben und Dichten!
Die Äußerungen Varnhagens sagen uns wenig, sind aber doch nach mancher Richtung geeignet, unsere Vorstellungen zu ergänzen und zu verbessern und bringen dazu auch einzelne neue Tatsachen. In erster Linie konstatieren wir, daß Varnhagen stets in den anerkennendsten Worten von Kleist als Menschen spricht. Er nennt Kleist einen lieben, guten, herrlichen <140:> Menschen, von dem er immer von neuem versichert, wie sehr er ihn liebt. Im übrigen dieselben heftigen, uns unverständlichen Angriffe gegen den Phöbus, wie bei Fouqué, Angriffe, die Varnhagen später in „Galerie von Bildnissen aus Rahels Umgang“ (II 145) wiederholt hat. Kindlich und lächerlich muten uns heut des jungen Varnhagens Urteile an über die Markise und andere Werke Kleists, desto wohltuender wirkt seine Begeisterung für die „herzerfreuenden Arbeiten“ Kleists in den letzten Äußerungen. Varnhagen hat in seinen Veröffentlichungen stets Kleists Genius in voller Anerkennung gehuldigt. Die Äußerungen des jungen, für die Romantik, Fouqué und Loeben schwärmenden Varnhagen in 1-3 können nicht in Betracht kommen gegenüber seinem Urteil in gereiften Jahren, wo er Kleist in dem folgenden Zusammenhang\1\ erwähnt: „Die Genies, die aus preußischen Offizieren hervorgehen, haben einen eigentümlichen Karakter, in welchem sich Strenge und Bitterkeit, Mut und Scherzlaune vereinigen, so Heinrich von Kleist, Heinrich von Bülow, Gaudy, Chamisso und jetzt auch Sallet; in früherer Zeit auch Fouqué, doch dieser am wenigsten.“
In 2 erfahren wir die bisher unbekannte Tatsache, daß Kleist in Bernhardis Sache, während er in Dresden weilte, Varnhagen „treue und gute Dienste leistete“. Kleist muß also nach seiner Abreise von Berlin bis zum Februar 1808 mit Varnhagen direkt oder indirekt in Verbindung gestanden haben, daß er seine Hilfe, als er sie in Dresden brauchte, in Anspruch nehmen konnte. Über die Angelegenheit Bernhardis, um die es sich hier handelt, findet sich wenig in seinen Biographien, wir finden aber reichliche Aufklärung in Varnhagens und Bernhardis (noch ungedruckten) Briefen.
Aug. Ferdin. Bernhardi, geboren 1769, Berliner Schulmann aus der Schule F. A. Wolfs, Meierottos, und Gerickes, durch seine „Sprachlehre“ ein Bahnbrecher der neueren Sprach- <141:> wissenschaft, war der Lehrer und später der intimste Freund und Schüler Tiecks. Die Bekanntschaft mit Tieck datiert seit 1791, als Tieck Primaner des Friedr. Werderschen Gymnasiums war. Die Ehe mit Tiecks Schwester Sophie war keine glückliche; sie wurde wiederholt von langwierigen Krankheiten heimgesucht. Nach der Geburt ihres dritten Kindes (1802) verfiel die kurz zuvor durch den Tod ihres zweiten Kindes tiefgebeugte Frau in so schweres Siechtum, daß sie Berlin verlassen, nach Thüringen übersiedeln und für längere Zeit im Hause des Bruders Unterkunft suchen mußte \1\. Offenbar war es der einst so geliebte und verehrte Schwager, der die Scheidung Bernhardis von seiner Schwester in die Wege leitete. Die Scheidung zog sich von 1803 ab durch lange Jahre hin, Varnhagen stand auf Bernhardis Seite, und es begann ein außerordentlich erbitterter Kampf zwischen Bernhardi und Tieck, wie er zum Ausdruck kommt in einem (ungedruckten) Briefe Bernhardis an Varnhagen und in einem Briefe Tiecks \2\ aus späterer Zeit (25. November 1829) an Wolfg. Menzel. Die Briefe strotzen von gegenseitigen Verdächtigungen und Bezichtigungen, die schlimmsten Charaktereigenschaften, die schwersten Vergehungen sagt der eine dem anderen nach; sie hier wiederzugeben ist ebenso unerquicklich als überflüssig, da es doch nicht möglich ist, Stellung zu der Angelegenheit zu nehmen. Bernhardi ging unbeschadet aus der für ihn sehr peinlichen Affäre hervor; er bekam 1808 die Stelle eines Direktors des Werderschen, später des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums; und was für seinen Nachruhm wichtiger wurde, er gab nach dem Zerwürfnis mit Tieck seine dichterische Betätigung auf und wandte sich philologischen Arbeiten zu, die die volle Anerkennung eines F. A. Wolf, Aug. W. Schlegel und später W. v. Humboldts finden.

\1\ Varnhagen und seinen Reisebegleiter Harscher.
\1\ Tagebücher von Varnhagen d. 28. September 1844.
\1\ Vgl. hierzu Bernhardi: Aus dem Leben Th. v. B. Leipzig 1893 ferner die Briefe A. W. Schlegels an Tieck und an F. Schlegel.
\2\ Mitteilungen aus dem Literaturarchive in Berlin 1907 p. 266.


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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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