Sigismund
Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach
neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 10-15
Ernst von Pfuel und andere Freunde Kleists aus der Potsdamer Militärzeit
Neben der körperlichen Ausbildung und der Pflege der Wissenschaften
war es die Musik, welche den Kreis der Freunde befestigte und veredelte. Tieck erwähnt in
seiner biographischen Skizze, daß Kleist früh zur Musik ein schönes Talent entwickelte
und verschiedene Instrumente spielte; Buelow fügt hinzu, daß er in Potsdam als Leutnant
in einer von Offizieren zusammengesetzten Musikkapelle die Klarinette spielte. Aus der
Biographie Rühles\1\ können wir diese Angaben
dahin ergänzen, daß sich die befreundeten Offiziere zu einem Quartett zusammenfanden,
dem außer Kleist und Rühle noch Schlotheim und Gleißenberg <11:>
angehörten. Es wird hervorgehoben, daß die Leistungen des Quartetts ganz ausgezeichnete
waren, und daß sie noch heute (1847) den Zuhöhrern lebendig im Gedächtnis
sind. Mit seinen Quartettgenossen unternahm Kleist den in einem Briefe aus dem Jahre
1800 erwähnten Ausflug in den Harz. Ohne einen Kreuzer mitzunehmen, spielten die
Kameraden auf ihrer Wanderung in Dörfern und Städten und lebten nur vom Ertrage ihrer
Kunst. Der Erfolg war, wie berichtet wird, glänzend; man kehrte von der genialen Reise
neu erfrischt und geistig belebt wieder heim. Auch Pfuel bestätigt die große
Virtuosität Kleists. Nach einer Äußerung, die uns Brentano übermittelt\1\, war Kleist einer der größten Virtuosen auf
der Flöte und dem Klarinett.
Wir können alledem
entnehmen, daß Kleist während seiner Potsdamer Offizierszeit in einem Kreise von
Freunden lebte, die er selbst hochachtungswürdig nennt, in dem neben Sport
und Gymnastik wissenschaftliche Studien eifrig betrieben wurden und auch künstlerische
Bestrebungen zu ihrem Rechte kamen. Den geselligen Mittelpunkt dieses geistig angeregten
Kreises junger Männer bildete das Haus des vorher erwähnten damaligen Stabskapitäns,
Christian v. Kleist, dem seine Frau Maria v. Kleist, geb. Gualtieri,
vorstand. Aus dieser Lebensperiode Kleists haben wir dafür keine direkten Zeugnisse, aber
mit welchem Interesse Maria v. Kleist das Geschick Pfuels verfolgte, darüber
belehren uns die Briefe Kleists an Pfuel, und einige Briefstellen, die ich weiter unten
wiedergebe (siehe S. 18ff), lassen keinen Zweifel, daß Christian und Maria
v. Kleist die intimsten Vertrauten Kleists, Pfuels und der anderen Freunde waren.
Im Jahre 1799 nahm Kleist
seinen Abschied. Da die Daten über die militärische Laufbahn Kleists bis in die neuesten
Biographien nicht durchaus richtig angegeben sind, so lasse ich zunächst die Angaben
bezüglich der Dienstlaufbahn Kleists folgen, <12:> die den Matrikeln und
Regimentsakten in der Geh. Kriegs-Kanzlei des Kriegsministeriums entnommen sind:
Heinrich Bernd Wilhelm von
Kleist ist im Alter von 16 Jahren\1\, 1792
1. Juni als Gefreiter-Korporal in das 3. Bataillon des Regiments Garde
Nr. 15b eingestellt, 1795 14. Mai zum Portepeefähnrich, 1797 7. März zum
Sekondlieutenant befördert und hat 1799 4. April den nachgesuchten Abschied
bewilligt erhalten.
Sobald Kleist dem Kreise der
Freunde entzogen war, scheint es auch diese in Potsdam nicht mehr gehalten zu haben. Schon
wenige Monate nach der Abreise Kleists schreibt Pfuel an seinen Vormund, daß er den
Dienst quittieren und studieren wolle. Ich geben die Hauptpunkte des Schreibens wieder, da
es auch den Entschluß Kleists rechtfertigt:
Die Liebe zu den
Wissenschaften ist mir zwar geblieben, jedoch meine dürftigen Umstände und die wenige
Gelegenheit, welche man hier in Potsdam hat, etwas zu lernen, verhindert es, mich hier
ferner auszubilden! Ich wünschte dringend eine andere Laufbahn einzuschlagen,
denn wenn ich mir einen Schatz nützlicher Kenntnisse erworben hätte, würde ich wohl im
auswärtigen Departement eine Anstellung finden, oder wenn das mißlingt, in anderen
Diensten, wo Krieg ist, Verwendung finden. Der preußisch militärische Schneckengang
benimmt mir alle Hoffnungen, mich emporzuschwingen! er zeigt mir in 25 Jahren das höchste
Glück, die Kompagnie
Wenn Sie aber meine <13:> Wünsche nicht
billigen, so werde ich mich fügen müssen, und dann sollen meine Bücher mich
trösten.
Dem unruhigen und lebhaften
Geiste Pfuels genügte auf die Dauer nicht das Einerlei des kleinen Dienstes, der hier in
seiner ganzen Ausdehung betrieben wurde. Etwa ein Jahr nach Kleists Abschied trägt er
sich mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern, um dort sein Glück zu suchen. Nur dem
Einflusse und den eifrigen Bemühungen des oben erwähnten Otto v. Kleist in Berlin,
der seit 1797 Direktor an der école militaire war, gelang es, ihn davon
abzubringen und ihn zunächst noch in der Potsdamer Garnison festzuhalten. Für
diejenigen, die Kleist durchaus einen krankhaft gesteigerten Wandertrieb andichten wollen,
sei darauf hingewiesen, daß seine nächsten Freunde sich in jungen Jahren mit viel
kühneren Reiseprojekten trugen. Pfuel zieht es nach Amerika, und Rühle trug sich lange
Zeit mit der Absicht, nach Ostindien auszuwandern. 1803 kam Pfuel um einen längeren
Urlaub ein, um in Paris seine Studien fortzusetzen, er wurde nicht bewilligt; er bat um
seinen Abschied, der ihm zunächst verweigert wurde, und den er erst nach längerer Zeit
(am 18. Juni 1803) und nur durch Vermittlung seines Bataillonskommandeurs erhielt.
Ein viertel Jahr, nachdem er
seinen Abschied genommen, tritt Pfuel gemeinsam mit Kleist die bekannte große Reise an,
indem er für den Freund den letzten Rest seines Vermögens <14:> opfert.
Verpflichtungen aus früherer Zeit wir werden an die Dienste denken müssen,
die des Dichters Verwandte ihm geleistet sollen Pfuel nach einer mündlichen
Tradition in seiner Familie zu diesem Freundschaftsdienst veranlaßt haben. Nach der
Pfuel-Biographie von Wippermann (allg. D. Biogr.) nahmen die Freunde, meist zu Fuß,
den folgenden Weg: sie weilten längere Zeit in Bern und am Thuner See, besuchten Mailand
und Venedig, Genf und Lyon und mieteten dann eine gemeinsame Wohnung in Paris, wo sie die
Vorlesungen von Cuvier u. a. hörten. Meine Erwartung, im Pfuel-Archiv eine
Aufklärung über die Einzelheiten der Reise zu finden, hat sich nicht erfüllt. Es ist
kein Brief aus jener Zeit von Pfuel vorhanden, hingegen aber Briefe von Caroline Fouqué,
von dem Oberst Otto v. Kleist und von Pfuel in Gielsdorf. Diesen Briefen kann man
entnehmen, daß Pfuel nicht, wie er versprochen hatte, seine Reise zu Studienzwecken
benutzte, sondern daß er nur von Amüsements, von Abenteuern und Sehenswürdigkeiten zu
berichten wußte. Die Briefe der Verwandten enthalten viele Vorwürfe über Pfuels
Leichtsinn. Verwundert fragen alle Briefschreiber, weswegen er ihnen nichts von
ernsthafter Beschäftigung, von Fortschritten in der Wissenschaft usw. mitteilte. Kleists
wird dabei nicht Erwähnung getan, nur in dem letzten Briefe Pfuels in Gielsdorf vom
3. Dezember 1803 heißt es:
Du
willst studieren das ist schön; aber was? und wozu? Seit einigen Tagen hat man
hier die Nachricht, daß Dein Reisebegleiter Kleist sich bei der Landungs-Armee engagiert
habe, und man will behaupten, daß Du ihm gefolgt seiest. Ist das wahr? Wie steht das zum
Studium?
Wenn zunächst Wilbrandt und
nach ihm andere Kleistbiographen den Zweck der gemeinsamen Reise so darstellen, als ob
Pfuel, der die Selbstverwüstung des Freundes nicht mit ansehen konnte, den Freund
ablenken, ihn in die richtigen Wege leiten, ihn als Mitkämpfer gegen seinen innerlichen
Feind unterstützen wollte, so entspricht diese Darstellung entschieden nicht den
Tatsachen. Unwahrscheinlich klingt es, daß der um zwei <15:> Jahre jüngere
Freund, der gewöhnt war, zu Kleist als seinen Lehrer aufzublicken, sich mit der Absicht
getragen haben soll, diesen zu leiten und seelisch zu beeinflussen; dazu fehlte ihm schon
die wichtigste Vorbedingung: das Verständnis für den Seelenzustand des Freundes, das er
nie besessen hat. Wandertrieb und Abenteuerlust steckte in Pfuel. Fouqué, der ihn sehr
genau kannte, schreibt, als ihn Varnhagen 1810 um Empfehlung eines Militärschriftstellers
bittet, daß, Pfuel sehr geeignet hierfür sei, daß er aber nicht Sitzfleisch zum
Schreiben genug hat. Damals, als er dem Zwange des Potsdamer Garnisonslebens
entgangen war, mag diese Wanderlust mit doppelter Gewalt sich bei ihm geltend gemacht
haben, und es ist verständlich, daß er für Kleist, der sich damals in der schwersten
Krisis seiner Entwickelung befand, in seiner Lust nach Vergnügen und Abwechslung ein
schlechter Gesellschafter war, und daß es schließlich zwischen beiden zu einer
Katastrophe kommen mußte.
\1\ Generalleutnant Rühle von
Lilienstern. Ein biographisches Denkmal im Beiheft zum Militär-Wochenblatt
10. Dezember 1847. Der anonym erschienene Aufsatz ist auf Königlichen Befehl
verfaßt vom Major im Generalstabe Gerwien (Zettelnotiz bei Varnhagen).
\1\ Kayka 1. c.
\1\ Wenn man Kleists Geburtstag auf den
18. Oktober 1777 verlegt, so richtet man sich nach der Eintragung im
Garnison-Kirchenbuch. Kleist selbst bezeichnet zweimal den 10. Oktober als
Geburtstag. Das einemal in der bekannten Briefstelle an Wilhelmine
(10./11. Okt. 1800), dann in dem Buche von Haymann: Dresdens theils neuerlich
verstorbene theils jetzt lebende Schriftsteller und Künstler, wissenschaftlich
classifizirt nebst einem dreifachen Register. Dresden. Walthersche Hofbuchhandlung 1809.
Die hier angegebenen, sehr korrekten Daten über Kleist, stammen offenbar von ihm, sind
also autobiographisch. Es heißt da (S. 459): Heinrich von Kleist, ehemaliger
k. preußischer Lieutenant, nachmaliger Assessor der Kammer zu Königsberg,
geb. zu Frankfurt a. d. O. am 10. Oktober <13:> 1777,
privatisirt sei 1807 zu Dresden. Da hier das Geburtsjahr richtig von Haymann-Kleist
angegeben ist, so ist der Irrtum von Tieck doppelt verwunderlich. Es ist leicht möglich,
daß die falsche Angabe in den sonst so zuverlässigen Akten der Kriegskanzlei den Irrtum
bei Tieck veranlaßt hat. Denn nach diesen Angaben (vergl. oben) müßte Kleist 1776
geboren sein. Von den Werken Kleists sind bei Haymann angeführt (das Buch ist Dezember
1808 abgeschlossen): Die Familie Schroffenstein, ein Schauspiel in 5 Aufzügen.
Amphitryon nach Molière, herausg. von A. Müller. Penthesilea, ein Trauerspiel. Tübingen bei Cotta 1808. Verschiedene
Aufsätze in dem von ihm und A. Müller herausgegebenen Kunstjournale Phöbus.
Jeronimo und Josephe, eine Erzählung im Morgenblatt, Tübingen bei Cotta.
Emendation
Penthesilea] Peuthesilea D
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