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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 4-10

Ernst von Pfuel und andere Freunde Kleists aus der Potsdamer Militärzeit

Ernst Heinrich Adolf v. Pfuel\3\, geboren den 3. November 1779 zu Jahnsfelde im Kreise Lebus des preußischen Regierungsbezirks Frankfurt a. O., entstammte wie Kleist einer sehr alten Familien der Mark Brandenburg, <5:> welche im Lande Lebus und Barnim angesessen ist. Das alte Wohnhaus in Jahnsfelde, an der Heerstraße gelegen, auf welcher nach Fontanes Schilderung seit dem 30jährigen Kriege fast ständig Truppen ihren Weg nahmen, ist jetzt einen Neubau gewichen; es trug (Zettelnotiz Varnhagens vom April 1854) die Inschrift:
Glück herein, Unglück heraus!
Dies ist der Pfuele ritterlich Haus seit 400 Jahren; Gott wolle bewahren in Glück und Gefahren Geschlecht und Haus.
Ernst v. Pfuel, wie Kleist einer uralten dem Kriegshandwerk ergebenen Familie entstammend, in der unmittelbaren Nachbarschaft von dessen Vaterstadt geboren, zeigt auch sonst eine sonderbare Ähnlichkeit in den ersten Lebensschicksalen, in seiner frühesten Entwicklung und Ausbildung mit Kleist. Auch er war früh verwaist, fast in demselben Lebensalter wie sein späterer Freund. Sein Vater Ernst Ludwig v. Pfuel, Erbherr auf Jahnsfelde, hatte in den schlesischen Kriegen mit Auszeichnung gefochten; seine Mutter Johanna Sophie, geb. Krantz, war die Tochter eines Regimentschirurgen. Die Eltern hatten den Heiratskonsens nicht erhalten, und deshalb nahm der Vater schon im Jahre 1779 den Abschied als Oerstleutnant und lebte seitdem ständig auf seinem Gute. Von Friedrich d. Gr. ward er 1784 zum Hofmarschall des damaligen Prinzen von Preußen und später von diesem, als König Friedrich Wilhelm II., zum Generalmajor der Kavallerie und Chef der zweiten Abteilung des Oberkriegskollegs ernannt. Als Ernst v. Pfuel vier Jahre alt war, starb seine Mutter und sechs Jahre später folgte ihr der Vater nach. Schon bei Lebzeiten des Vaters war Ernst zusammen mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Friedrich, da sein Vater dienstlich vielfach in Potsdam abwesend sich nicht genügend um die Erziehung seiner Söhne bekümmern konnte, nach Berlin zum Hofrat Beuchel in Pension gegeben worden, von wo sie die <6:> Realschule besuchten. Nach des Vaters Tode übernahm Kriminalrat Scheede, dann Justizrat Grattenauer, später auf Bitten der Knaben Herr von Briest auf Nennhausen die Vormundschaft. Karoline von Briest war eine Kusine Pfuels, und seit der frühesten Kindheit datierten die nahen Beziehungen beider, die bestehen blieben, als Karoline nach ihrer Scheidung Friedrich de la Motte Fouqué heiratete und einen als Schriftstellerin sehr bekannten Namen erwarb. Pfuel war auch später ein häufiger Gast in Nennhausen bei dem neuen Gutsherrn Fouqué und stand bis in sein höheres Alter in einer sehr regen Korrespondenz mit Karoline von Fouqué. Dem Briefwechsel der beiden sind die obenerwähnten Arbeiten über Pfuel und Goethe und ihren Verkehr in Teplitz entnommen, und diese Korrespondenz ist die wichtigste Quelle auch für die folgenden Kleist-Beiträge.
Als Pfuel und sein Bruder die Reife für Sekunda erhalten hatten, wurden sie 1792 in das Kadettenkorps in Berlin aufgenommen. Schon fünf Monate später erfolgte Ernst v. Pfuels Aufnahme in die von Friedrich d. Gr. gegründete, ausgezeichnete Militärbildungsanstalt, die école militaire. In jedem Jahre wurden von den Kadetten die Befähigsten ausgewählt, welche zu der höheren Ausbildung in der école geeignet schienen. Indes wird man in der Annahme nicht fehlgehen, daß bei der rühmlichen Aufnahme Pfuels, der wohl kaum noch Gelegenheit hatte, sich unter den Kadetten besonders hervorzutun, andere Momente, Empfehlungen und Beziehungen in Betracht kommen. In einer im Manuskript vorhandenen Pfuel-Biographie des Generals v. Borcke wird die Vermutung ausgesprochen, daß die Aufnahme in die école durch Vermittlung des unter dem Namen Zopfschulze in weiten Kreisen bekannten, seinem verstorbenen Vater und dem Feldmarschall von Möllendorf befreundeten Pastors Schulze in Gielsdorf bei Straußberg erfolgte. Die Vermutung ist zweifellos unrichtig, denn seit 1791 schwebte der bekannte Prozeß gegen Schulze, der sehr lange Zeit das <7:> Kammergericht beschäftigte und zu Konflikten mit dem Könige führte; sein Einfluß wäre dem jungen Pfuel sicher nicht von Nutzen gewesen. Wir werden nach anderen Empfehlungen suchen müssen, und wir werden nicht fehlgehen, wenn wir die Aufnahme Pfuels in die höhere Militärbildungsanstalt auf nahe Beziehungen der beiden Familien der beiden Familien Pfuel und Kleist zurückführen, die ihrerseits wieder annehmen lassen, daß die intime Freundschaft Kleists zu Ernst v. Pfuel bis in die früheste Kindheit zurückgeht. Es ist ebenso auffallend, daß Pfuel in die école aufgenommen wurde, wie es auffallend ist, daß Kleist und später auch Pfuel dem vornehmsten, direkt der Aufsicht des Königs unterstellten Regimente in Potsdam einverleibt wurde, einem Regiment, dessen großer Aufwand in gar keinem Verhältnis stand zu den bescheidenen Mitteln, über welche die beiden märkischen Adeligen verfügten. Die Erklärung ergibt sich ohne weiteres daraus, daß damals sowohl in Berlin wie bei dem Potsdamer Regiment zwei Mitglieder der Familie Kleist in hervorragender Stellung und von maßgebendem Einflusse waren.
In Berlin lebte der Major Otto v. Kleist (geb. 1750), dessen Frau, eine geborene Schmidt aus einer reichen Bürgerfamilie stammte. Unter vielen Schwierigkeiten hatte er erst nach dem Tode Friedrich d. Gr. unter seinem Nachfolger den Heiratskonsens erhalten, lebte auf sehr großem Fuße und machte ein Haus aus, in dem neben den Vertretern des Militärstandes alles verkehrte, was zur geistigen Elite Berlins gehörte. Dieser Kleist hat dem jungen Pfuel während seiner Lehrjahre helfend und ratend zur Seite gestanden, er hat ihn von der Ausführung unreifer Entschlüsse zurückgehalten, und wie manche Briefe aus früher Zeit beweisen, bestand zwischen beiden ein eigentümlich intimes, kameradschaftliches Verhältnis. Die Beziehung zu dem Potsdamer Regiment wiederum wurde vermittelt durch Christian v. Kleist (geb. 1764), einem Vetter des Dichters, der mit dem Erbprinzen und späteren König in <8:> Dessau erzogen war, dann aus der Ritterakademie in Brandenburg als Fahnenjunker in das Infanterieregiment Nr. 18 nach Potsdam kam und hier eine rasche Karriere machte. Wir sehen also, es waren genügend Einflüsse und Beziehungen vorhanden, um sowohl dem jungen Kleist als Pfuel die militärische Laufbahn zu ebnen.
Die Ausbildung in der école dauerte regelmäßig fünf Jahre, der Unterricht wurde in französischer Sprache erteilt. Pfuel erzählte in späteren Jahren, daß besonders die Vorträge des Predigers Ancillon und des Majors Rode, letztere über die Kriegswissenschaft, sein Interesse in Anspruch nahmen. Im März 1797 kam Pfuel als Fähnrich in das Regiment Nr. 18 nach Potsdam, dessen Chef der König war, und welches in weiten Kreisen als die Wiege preußischer Taktik galt; wenige Tage früher war Heinrich v. Kleist zum Sekondlieutenant anvaciert. In den kleinen Verhältnissen der Residenzstadt und in dem engen Einerlei des Garnisondienstes verleben die beiden Freunde in intimer Gemeinsamkeit zwei Jahre. Die äußeren Lebensverhältnisse Pfuels und sicherlich ebenso die Kleists waren alles weniger als günstige. Schon im zweiten Dienstjahre in einem Briefe vom 6. Oktober 1798 an seinen Vormund klagt Pfuel: „Sie werden mir zugeben, daß man mit nur 6 Taler Gehalt nicht einen ganzen Monat auskommen kann. Ich bitte Sie dringend, mir eine monatliche Zulage von 5 Talern zahlen zu lassen, denn selbst mein Regimentskommandeur Oberstleutnant v. Ploetz gibt zu, daß es ohne einen solchen unmöglich ist zu existieren.“ Auch als Pfuel später seinen Abschied nimmt, und ebenso wie Kleist diesen Entschluß in einem Promemoria begründet, steht unter den angeführten Gründen das Mißverhältnis zwischen seinen Einkünften und der luxuriösen Lebensweise in der Garnison obenan. Die gleichen Fatalitäten werden bei Kleist vorgelegen haben, wenngleich er, der sich über Geldangelegenheiten stets leicht hinwegzusetzen pflegte, deren keine Erwähnung tut. <9:>
Der kleinliche in engen Formen erstarrte Gamaschendienst konnte den Freunden, zu denen sich, wie wir wissen, besonders Rühle und Schlotheim gesellten, nicht genügen, sie suchten anderweitige Ablenkung und geistige Befriedigung. Von Pfuel speziell wird vielfach berichtet, daß schon hier in Potsdam seine Vorliebe für gymnastische Übungen und körperliche Ausbildung sich lebhaft bemerkbar machte. Er schwamm vortrefflich und arrangierte schon damals große Schwimmübungen; auch gab er den Kameraden Unterricht im Klettern, Turnen und allen den körperlichen Übungen und Geschicklichkeiten, welche erst später im größeren Umfange in die militärische Ausbildung eingeführt werden sollten. Dabei wurden, wie wir aus Kleists Lebensbeschreibung wissen, die Wissenschaften sehr eifrig gepflegt. Jene Epoche vor Jena bedeutete im gewissen Sinne für die militärische Ausbildung und die Kriegswissenschaften ein Übergangsstadium. Der Zwiespalt, ob die alte Taktik mit ihren starren Formen, aus denen längst der belebende Geist des großen Königs gewichen war, beibehalten werden müsse, wie die Epigonen des siebenjährigen Krieges forderten, oder ob im Hinblick auf die neuesten Kriegsereignisse zeitgemäße Änderungen einzuführen seien, waren, wie der Major v. Fouqué in der Biographie des Generals v. Rüchel erzählt, so schroff geworden, daß alle tonangebenden Persönlichkeiten mitfortgerissen und so in Leidenschaft geraten waren, daß die ruhigen und klaren Köpfe, deren es doch auch damals dort eine Menge gab, geringschätzig behandelt, als „gelehrte Offiziere“ wegwerfend bezeichnet, die Resultate ihrer Studien gar nicht zur öffentlichen Kenntnis und Anwendung bringen konnten. Wenn Kleist, Pfuel und fast auch Rühle, der nur durch einen Zufall davon abgehalten wurde, ihre militärische Laufbahn aufgaben, so waren diese mißlichen Verhältnisse nicht zum wenigsten daran schuld. Pfuel hatte noch in späteren Jahren unter dem Rufe eines „gelehrten Offiziers“ zu leiden. Er selbst erzählt, wie Blücher, den Gelehrsamkeit nicht gerade drückte, seine Antipathie gegen die „ge- <10:> lehrten Offiziere“ zum Ausdruck brachte und sich vor Lützen in bitteren, auf Pfuel gemünzten Stichreden erging „über die gelehrten Soldaten; er möge diese Sorte nicht leiden und mache keinen Hehl daraus“. Wenn sich Pfuel in späteren Jahren den Ruf eines durch besondere Bildung und geistige Interessen ausgezeichneten Kriegsmannes erwarb (vgl. Varnhagens Denkwürdigkeiten IV. Band: Der Salon der Frau v. Varnhagen), so verdankt er es vornehmlich dem Umgang mit Kleist in frühem Jünglingsalter. Kleist war in dem Kreise der Kameraden der anregende, der hier schon seinen pädagogischen Neigungen die Zügel schießen ließ. Später noch, als Kleist nach der kurzen Studienzeit in Frankfurt eine Anstellung in Berlin gefunden hatte, während seine ehemaligen Kameraden noch zu Potsdam in Garnison standen, pflegten diese an freien Nachmittagen den weiten Weg durch den märkischen Sand zurückzulegen, lediglich zu dem Zwecke, um sich in Berlin von Kleist in die Geheimnisse der Kantischen Philosophie einweihen zu lassen. Die regelmäßigen Vorlesungen mögen Kleist auf den Gedanken gebracht haben, wie es ja auch Humboldt und andere taten, in Paris in gleicher Weise für die Verbreitung der Lehren des Königsberger Philosophen zu wirken.

\3\ Der Name tritt, namentlich in der älteren Literatur, in allen möglichen Entstellungen auf. Pfuel selbst hatte eine Zeitlang seinen Namen, weil er nicht richtig geschrieben und ausgesprochen wurde, geändert. Bei Goethe (Tagebücher) finden sich die verschiedensten Schreibweisen, und auch in wissenschaftlichen Werken, wie bei Ranke, ist der Name falsch angeführt.


Emendation
Entstellungen] Enstellungen D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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