Eduard v. Bülow (Hrsg.), Heinrich von Kleists Leben und Briefe. Mit einem
Anhange (Berlin: Besser 1848), V-XIV, 1-81, 274f.; darin: 62-66
Briefe an Marie v. Kleist, 1811
Das Leben, das ich führe, ist seit Ihrer und A. Müllers Abreise gar zu
öde und traurig. Auch bin ich mit den zwei oder drei Häusern, die ich hier besuchte,
seit der letzten Zeit ein wenig außer Verbindung gekommen und fast täglich zu Hause, vom
Morgen bis auf den Abend, ohne auch nur einen Menschen zu sehen, der mir sagte, wie es in
der Welt steht. Sie helfen sich mit ihrer Einbildungs- <63:> kraft und rufen
sich aus allen vier Weltgegenden, was Ihnen lieb und werth ist in Ihr Zimmer herbei. Aber
diesen Trost, wissen Sie, muß ich unbegreiflich unseliger Mensch entbehren. Wirklich, in
einem so besonderen Falle ist vielleicht noch kein Dichter gewesen. So geschäftig, dem
weißen Papier gegenüber, meine Einbildung ist und so bestimmt in Umriß und Farbe die
Gestalten sind, die sie alsdann hervorbringt, so schwer, ja ordentlich schmerzhaft ist es
mir, mir das, was wirklich ist, vorzustellen. Es ist, als ob diese in allen Bedingungen
angeordnete Bestimmtheit meiner Phantasie im Augenblick der Thätigkeit selbst Fesseln
anlegte. Ich kann, von so vielen Formen verwirrt, zu keiner Klarheit der innerlichen
Anschauung kommen; der Gegenstand, fühle ich unaufhörlich, ist kein Gegenstand der
Einbildung: mit meinen Sinnen in der wahrhaftigen lebendigen Gegenwart möchte ich ihn
durchdringen und begreifen. Jemand der anders hierüber denkt, kömmt mir ganz
unverständlich vor, er muß Erfahrungen gewonnen haben, ganz abweichend von denen, die
ich darüber gemacht habe. Das Leben mit seinen zudringlichen immer wiederkehrenden
Ansprüchen, reißt zwei Gemüther schon in dem Augenblick der Berührung so vielfach
auseinander, um wie viel mehr, wenn sie getrennt sind. An ein Näherrücken ist gar nicht
zu denken, und Alles, was man gewinnen kann, ist, daß man auf dem Punkte bleibt, wo man
steht. Und dann der Trost in verstimmten und trübseligen Augenblicken, deren es heut zu
Tage so viele gibt, fällt ganz und gar weg. Kurz, Müller, seitdem er weg ist, kömmt mir
wie todt vor, ich empfinde auch ganz denselben Gram um ihn, und <64:> wenn ich
nicht wüßte, daß Sie wieder kommen werden, würde mir es mit Ihnen eben so
ergehen.
Ich fühle, daß mancherlei Verstimmungen in meinem Gemüth sein mögen, die sich in
dem Drange der widerwärtigen Verhältnisse, in denen ich lebe, immer noch mehr
verstimmen, und die ein recht heiterer Genuß des Lebens, wenn er mir einmal zu Theil
würde, vielleicht ganz leicht harmonisch auflösen würde. In diesem Falle würde ich die
Kunst vielleicht auf ein Jahr oder länger ganz ruhen lassen, und mich, außer einigen
Wissenschaften, in denen ich noch nachzuholen habe, mit nichts als mit Musik
beschäftigen. Denn ich betrachte diese Kunst als die Wurzel, oder vielmehr, um mich
schulgerecht auszudrücken, als die algebraische Formel aller übrigen, und so wie wir
schon einen Dichter haben, mit dem ich mich übrigens auf keine Weise zu
vergleichen wage, der alle seine Gedanken über die Kunst, die er übt, auf
Farben bezogen hat, so habe ich von meiner frühesten Jugend an alles Allgemeine, was ich
über die Dichtkunst gedacht habe, auf Töne bezogen. Ich glaube, daß im Generalbaß die
wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst enthalten sind.
Unsere Verhältnisse sind hier, wie Sie vielleicht schon wissen werden, peinlicher
als jemals. Man erwartet den <65:> Kaiser N. zum Besuch, und wenn dies
geschehen sollte, so werden vielleicht ein paar Worte ganz leicht und geschickt alles
lösen, worüber sich hier unsere Politiker die Köpfe zerbrechen. Wie diese Aussicht auf
mich wirkt, können Sie sich leicht denken; es ist mir ganz stumpf und dumpf vor der
Seele, und es ist auch nicht ein einziger Lichtpunkt in der Zukunft, auf den ich mit
einiger Freudigkeit und Hoffnung hinaussähe. Vor einigen Tagen war ich noch bei G.... und
überreichte ihm ein paar Aufsätze, die ich ausgearbeitet hatte: aber dies Alles scheint
nur, wie der Franzose sagt: moutarde après diner. Wirklich ist es sonderbar, wie
mir in dieser Zeit alles, was ich unternehme, zu Grunde geht, wie sich mir immer, wenn ich
mich einmal entschließen kann, einen festen Schritt zu thun, der Boden unter meinen
Füßen wegzieht. G.... ist ein herrlicher Mann: ich fand ihn Abends, da er sich zu einer
Abreise anschickte und war in einer ganz freien Entfaltung des Gesprächs nach allen
Richtungen hin wohl bis um 10 Uhr bei ihm. Ich bin gewiß, daß, wenn er den Platz
fände, für den er sich geschaffen und bestimmt fühlt, ich irgend wo in seiner Umringung
den meinigen gefunden haben würde. Wie glücklich würde mich dies in der Stimmung, in
der ich jetzt bin, gemacht haben; es ist eine Lust, bei einem tüchtigen Mann zu sein.
Kräfte, die in der Welt nirgend mehr an ihrem Orte sind, wachen in solcher Nähe und
unter solchem Schutze wieder zu einem neuen freudigen Leben auf. Doch daran ist nach
Allem, was man hier hört, kaum mehr zu denken. <66:>
Sobald ich mit dieser Angelegenheit fertig bin, will ich einmal wieder etwas recht
Phantastisches vornehmen. Es weht mich zuweilen bei einer Lektüre oder im Theater, wie
ein Luftzug aus meiner allerfrühesten Jugend an. Das Leben, das vor mir ganz öde liegt,
gewinnt mit einemmale eine wunderbare herrliche Aussicht, und es regen sich Kräfte in
mir, die ich ganz erstorben glaubte. Alsdann will ich meinem Herzen ganz und gar, wo es
mich hinführt, folgen, und schlechterdings auf nichts Rücksicht nehmen, als auf meine
eigene innerliche Befriedigung. Das Urtheil der Menschen hat mich bisher viel zu sehr
beherrscht, besonders das Käthchen von Heilbronn ist voll Spuren davon. Es war von Anfang
herein eine ganz treffliche Erfindung und nur die Absicht, es für die Bühne passend zu
machen, hat mich zu Mißgriffen verführt, die ich jetzt beweinen möchte. Kurz, ich will
mich von dem Gedanken ganz durchdringen, daß, wenn ein Werk nur recht frei aus dem Schoos
des menschlichen Gemüths hervorgeht, dasselbe auch nothwendig darum der ganzen Menschheit
angehören müsse.
Am Schlusse seines Vorworts zu Kleists sämmtlichen Werken sagt Tieck
über ihn das Folgende:
Im Jahre 1811 trat die letzte Szene seines traurigen Schicksals
ein, zu früh und beklagenswerth, sowohl für ihn als für die Literatur, in der er durch
höhere und freiere Ausbildung weit mehr hätte leisten können. Das Vaterland verlor
durch diese freiwillige Zerstörung einen seiner edelsten Söhne, kurz vor der
Wiedergeburt und der Vernichtung jener Verhältnisse, die ihn
ängstigten. <67:>
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