Eduard v. Bülow (Hrsg.), Heinrich von Kleists Leben und Briefe. Mit einem
Anhange (Berlin: Besser 1848), V-XIV, 1-81, 274f.; darin: 32-37
Wieland über Kleist
Im Januar 1803 begab sich Kleist auf neun bis zehn Wochen nach Osmanstädt zu
Wieland, der ihn ganz als Mitglied seiner Familie behandelte, und an dessen Tochter Kleist
auch innigeren Antheil genommen haben soll. Der nachfolgende Brief Wielands, welcher 1824
im dritten Hefte der Zeitschrift Orpheus von Dr. Weichselbaumer,
abgedruckt war, gibt über diese Zeit umständlichen Bericht:
Weimar, 10. April 1804.
Der Inhalt der Zuschrift vom 3. d. M. womit ich mich von Ihnen beehrt
finde, hat mich nicht wenig gerührt und betrübt. Es ist nun beinahe ein Jahr, seit ich
von Herrn von Kleist keine Nachricht habe, und ob ich gleich nicht sonderliche Ursache
hatte, viel Besseres zu hoffen, so hätte ich mir doch auch nicht einbilden können, daß
ich, nachdem ich diese Zeit her immer auf Antwort auf meinen vor ungefähr dreiviertel
Jahr nach Leipzig an ihn geschriebenen Brief gewartet hatte, durch die dritte Hand so
traurige Nachrichten von seinen Umständen erhalten würde.
Meine Bekanntschaft mit diesem Herrn von Kleist ist <33:>
die Frucht eines freundschaftlichen Verhältnisses, welches sich im Jahre 1801, ni
fallor , zwischen ihm und meinem ältesten Sohne Ludwig, der jetzt in Wien ist, in
der Schweiz, wo Beide sich damals aufhielten, entsponnen hatte. Schon damals schrieb mir
mein Sohn von ihm als einem außerordentlichen Genie, der sich mit aller seiner Kraft auf
die dramatische Kunst geworfen habe, und von welchem etwas viel Größeres, als bisher in
Deutschland gesehen worden, in diesem Fache zu erwarten sei. Im Herbst des Jahres 1802
verließen beide die Schweiz und Kleist fand Gelegenheit, meinem Sohne einen sehr
wesentlichen Dienst zu leisten. Sie reisten eine Zeitlang mit einander, trennten sich
sodann und Kleist ging sodann nach Jena, mein Sohn aber zu mir nach Osmanstädt, zwei
Stunden von Weimar, wo ich damals noch auf einem Gute wohnte, welches ich aber wieder zu
verkaufen entschlossen war, und auch wenige Monate darauf einen Käufer dazu fand, dem ich
es acht Tage nach Ostern 1803 einräumte.
Kleist zog nach einem kurzen Aufenthalte in Jena nach Weimar, miethete
sich ein Quartier, so gut es in der Eile zu haben war, und besuchte mich ein oder zweimal
auf meinem Gut. Es ging mir mit ihm wie Ihnen. Wiewohl mir nichts mehr zuwider und
peinlich ist als ein überspannter Kopf, so konnte ich doch seiner Liebenswürdigkeit
nicht widerstehen. So oft dies, in meinem ganzen Leben, bei einer neuen Bekanntschaft, die
ich machte, der Fall war, entrainirte mich meine natürliche Offenheit und Bonhomie weiter
als die Klugheit einem kaltblütigen Menschen erlauben würde. Desto zurückhaltender
hingegen war <34:> Herr von Kleist und etwas Räthselhaftes, Geheimnißvolles,
das tiefer in ihm zu liegen schien, als daß ich es für Affektation halten konnte, hielt
mich in den zwei ersten Monaten unserer Bekanntschaft in einer Entfernung, die mir
penibel war, und vermuthlich alles nähere Verhältniß zwischen uns abgeschnitten hätte,
wenn ich nicht durch meinen Sohn erfahren hätte, daß Kleist sich in seinem Quartier zu
Weimar so schlecht befinde, daß er eine Einladung, die übrige Zeit, die er sich noch in
unserer Gegend aufzuhalten gedächte, bei mir in Osmanstädt zu wohnen, mit Dank annehmen
würde. Sogleich erging diese Einladung an ihn er nahm sie an, bezog an einem der ersten
Tage des Januars ein Zimmer in meinem Hause und war von dieser Zeit an neun oder zehn
Wochen, mein Commensal auf eben dem Fuß, als ob er zu meiner Familie gehörte. Alles was
Sie mir von seinem Benehmen in Ihrem Hause erzählen, ist auch die Geschichte der Rolle,
die er bei mir spielte.
Er schien mich wie ein Sohn zu lieben und zu ehren, aber zu einem
offenen und vertraulichen Benehmen war er nicht zu bringen. Unter mehreren
Sonderlichkeiten, die an ihm auffallen mußten, war eine seltsame Art der Zerstreuung,
wenn man mit ihm sprach, so daß z. B. ein einziges Wort eine ganze Reihe von Ideen
in seinem Gehirn, wie ein Glockenspiel anzuziehen schien, und verursachte, daß er nichts
weiter von dem, was man ihm sagte, hörte und also auch mit der Antwort zurück blieb.
Eine andere Eigenheit und eine noch fatalere, weil sie zuweilen an Verrücktheit zu
grenzen schien, war diese, daß er bei Tische sehr häufig etwas zwischen den Zähnen mit
sich selbst murmelte, <35:> und dabei das Air eines Menschen hatte, der sich
allein glaubt, oder mit seinen Gedanken an einem andern Orte und mit ganz anderm
Gegenstande beschäftigt ist. Er mußte mir endlich gestehen, daß er in solchen
Augenblicken von Abwesenheit mit seinem Drama zu schaffen hatte, und dies nöthigte ihn,
mir gern oder ungern zu entdecken, daß er an einem Trauerspiel arbeite, aber ein so hohes
und vollkommenes Ideal davon seinem Geiste vorschweben habe, daß es ihm noch immer
unmöglich gewesen sei, es zu Papier zu bringen. Er habe zwar schon viele Szenen nach und
nach aufgeschrieben, vernichte sie aber immer wieder, weil er sich selbst nichts zu Dank
machen könne. Ich gab mir nun alle ersinnliche Mühe ihn zu bewegen, sein Stück nach dem
Plan, den er sich entworfen hatte, auszuarbeiten und fertig zu machen, so gut es gerathen
wollte und es mir sodann mitzutheilen, damit ich ihm meine Meinung davon sagen könnte;
oder wenn er das nicht wollte, es nur wenigstens für sich selbst zu vollenden, um es dann
desto besser zu übersehen, das Nöthige zu ändern, kurz alles gehörig auszutheilen um
es zur Vollkommenheit bringen zu können. Sed surdo narrabam fabulam. Endlich
nach vielen vergeblichen Versuchen und Bitten, nur eine einzige Szene von diesem fatalen
Werk seines Verhängnisses zu sehen zu bekommen, erschien eines Tages zufälliger Weise an
einem Nachmittage die glückliche Stunde, wo ich ihn so treuherzig zu machen wußte, mir
einige der wesentlichsten Szenen und mehrere Morceaux aus andern aus dem Gedächtnisse
vorzudeklamiren. Ich gestehe Ihnen, daß ich erstaunt war, und ich glaube nicht zu viel zu
sagen, wenn <36:> ich Sie versichere: Wenn die Geister des Aeschylus, Sophokles
und Shakspeares sich vereinigten, eine Tragödie zu schaffen, sie würde das sein, was
Kleists Tod Guiskards des Normannen, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er
mich damals hören ließ. Von diesem Augenblick an war es bei mir entschieden, Kleist sei
dazu geboren, die große Lücke in unserer dramatischen Literatur auszufüllen, die, nach
meiner Meinung wenigstens, selbst von Schiller und Göthe noch nicht ausgefüllt worden
ist; und Sie stellen sich leicht vor, wie eifrig ich nunmehr an ihm war, um ihn zur
Vollendung des Werks zu bewegen. Er schien zwar damals über die Wirkung, die er auf mich
gethan hatte, ungemein erfreut, und versprach alles Gute; aber dabei blieb es auch, und,
um ihn nicht zu quälen, fand ich nöthig, ihm während der Zeit, daß er mein Hausgenosse
war, so wenig wie möglich von seinem Werk zu sprechen. Gegen die Mitte des Märzes
trennten wir uns endlich wieder, er verweilte noch mehrere Tage in Weimar, ging dann nach
Leipzig und Dresden, und schrieb mir nach Verlauf einiger Monate ein kleines Briefchen,
worin er mir einen über Weimar reisenden Freund empfahl; ließ aber seit dieser Zeit
nichts weiter von sich hören. Auch klagt mein Sohn zu Wien, daß er seit ihrer letzten
Trennung nichts mehr von ihm wisse. Da mir so eben zufälligerweise das Concept meines dem
Herrn von Kleist nach Dresden oder Leipzig in Antwort auf sein besagtes Briefchen
geschriebenen Briefes unter meinen Papieren in die Hände fällt, so sei mir erlaubt, die
sein Drama betreffende Stelle abzuschreiben.
Sie schreiben mir, lieber Kleist, der Druck
mannig- <37:> faltiger Familienverhältnisse habe die Vollendung Ihres Werkes
unmöglich gemacht. Schwerlich hätten Sie mir einen Unfall ankündigen können, der mich
schmerzlicher betrübt hätte. Zum Glück läßt mich die positive Versicherung des Herrn
von W., daß Sie seither mit Eifer daran gearbeitet, hoffen und glauben, daß nur ein
mißmüthiger Augenblick Sie in die Verstimmung habe setzen können, für möglich zu
halten, daß irgend ein Hinderniß von außen Ihnen die Vollendung eines Meisterwerks,
wozu Sie einen so allmächtigen innern Beruf fühlen, unmöglich machen könne. Nichts ist
dem Genius der heiligen Muse, der Sie begeistert, unmöglich. Sie müssen Ihren Guiskard
vollenden, und wenn der ganze Kaukasus und Alles auf Sie drückte u. s. w.
Ich glaubte ihm durch diesen Eifer, womit ich ihn zur Vollendung seines Werkes bestürmte,
den größten Dienst zu thun, wie traurig wäre es für mich, wenn es nur dazu gedient
hätte, ihn in das Schicksal, das ihn zu verschlingen droht, vollends
hineinzustoßen!
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