Eduard v. Bülow
(Hrsg.), Heinrich von Kleists
Leben und Briefe. Mit einem Anhange (Berlin: Besser
1848), V-XIV, 1-81, 274f.; darin: 1-5
Kindheit, erster Unterricht
I. Heinrich
von Kleists Leben. <3:>
Heinrich von Kleist wurde am 10. October 1776 in Frankfurt
a. O. geboren, wo sein Vater beim Regimente Herzog
Leopold von Braunschweig in Garnison stand. Kleists
elterliches Haus, in dem er zuerst das Licht der Welt erblickte,
liegt neben der Superintendentur, an der Oberkirche und
war bis noch vor kurzer Zeit im Besitze seiner Familie.
Es gehört gegenwärtig dem seitherigen Pachter desselben,
dem Gastgeber des Hôtel de Prusse, dessen
Schild es schon längere Zeit trug.
Kleists Jugendjahre sollen ihm im Kreise seiner
Geschwister heiter und gut vergangen sein. Die freundliche
Umgebung Frankfurts wirkte auch wohl belebend auf sein Gemüth.
Erwäge ich, was noch außerdem auf seinen jungen Geist
gegenständlichen Eindruck machen konnte, so war es zuversichtlich
der stete und so nahe Anblick der Oberkirche, in ihrer alterthümlichen,
nicht unschönen, aber unharmonischen, halb zerstörten Gestalt. <4:>
Vielleicht erweckte auch unmerklich der Ruhm Ewalds
von Kleist, welcher in Frankfurt begraben liegt, mit der
Freude an ihrem gemeinsamen Namen, sein erstes Ehrgefühl,
und ich will dabei nur gelegentlich an das preußische Sprüchwort
erinnern, welches die vornehmsten Familien der alten Provinzen
mit Eigenschaftswörtern bezeichnet, und: Alle Kleists
Dichter nennt.
Der offene Kirchhof unter den Linden war dem Kleistschen
Hause nah, und unser Dichter konnte also beinahe täglich
das Denkmal sehen, welches die Freimaurer dem Sänger des
Frühlings mit der Inschrift gesetzt haben:
Für Friedrich kämpfend sank er nieder,
So wünschte es sein Heldengeist,
Unsterblich groß durch seine Lieder,
Der Menschenfreund, der Weise, Kleist.
Seine erste Erziehung erhielt Kleist in
Gemeinschaft mit einem Vetter, durch einen Hauslehrer, einen
jungen Mann, der in Frankfurt in den Achzigerjahren studirt,
und während der Zeit die Bekanntschaft und das Vertrauen
der Kleistschen Familie gewonnen hatte. Derselbe genoß
die Liebe und Achtung seiner Zöglinge in hohem Grade und
widmete sich wiederum mit Eifer und lebhaftem Antheile der
Erfüllung seiner Lehrerpflichten. Er schilderte Kleist als
einen nicht zu dämpfenden Feuergeist, der der Exaltation,
selbst bei Geringfügigkeiten, anheimfiel, und wenn auch
unstät genug, so doch jedesmal, wo es auf Bereicherung seiner
Kenntnisse ankam, mit bewunderungswürdiger Auffassungsgabe
ausgerüstet, von Liebe und warmem <5:> Trieb
zum Wissen beseelt war; zugleich der offenste, fleißigste
und anspruchsloseste Kopf von der Welt!
Kleists Mitschüler und Vetter war dagegen ein
stiller, gemüthlicher, eher zum Tiefsinn geneigter Mensch,
der dem genialen Heinrich zwar nicht an Lust und Liebe zum
Lernen oder an ausdauerndem Fleiße nachstand, von der Natur
aber in geistiger Hinsicht stiefmütterlich behandelt worden
war, und, so viele Mühe er sich auch gab, nur schwer zu
fassen vermochte, derweil Kleist spielend leicht lernte
und immer eifrigst dazu antrieb, mit den Gegenständen des
Unterrichts vorzuschreiten. Der Lehrer mußte sich aus diesen
Gründen des Erstern immer mehr als des Letztern annehmen
und dessen Eifer zügeln und enthielt sich auch aller noch
so verdienten Lobsprüche Kleists, wiewohl in einer
Weise, welche seine Eitelkeit nicht verletzen oder seine
Lernbegierde schwächen konnte, indem er viel eher des Vetters
gutgemeintes erfolgloseres Streben in Kleists Gegenwart
anerkannte.
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