Adam Müller,
Fragmente über William Shakespear, 55-87; darin: X.
Shakespear, der Portraitirer der Natur, 83-87
X. Shakespear,
der Portraitirer der Natur.
Ich habe der großen Verändrung
erwähnt, die Shakespear in der Denkart und Kunstansicht
der Deutschen hervorgebracht, und da verlohnt es sich
wohl um ein halbes Jahrhundert zurückzugehn, und die
Meinungen jener Zeit über die Kunst mit den gegenwärtigen
Ansichten zu vergleichen. Wir stoßen dort auf einen
Tonangeber im Reiche des Schönen, der gegenwärtig
auch nur als Wortführer einer einzelnen Parthei eine
traurige Rolle spielen würde. Ein französischer s. g.
Philosoph, der Batteux, war aufgelegt genug
und trieb die Verwegenheit so weit, alle schöne Künste
auf einen Grundsatz zurückführen zu wollen.
Grundsätze, Maximen, Principien,
waren in der französischen Philosophie gänge
und gäbe: die Idee eines einzigen Grundsatzes war
neu und groß genug, um blos wegen ihrer Kühnheit und
Ausserordentlichkeit allgemeines Aufsehn zu verdienen.
Der versprochene Grundsatz freilich war am Ende nichts
weiter als das elende Prinzip der Nachahmung: die
Kunst hieß es, sei nichts anders als Nachahmung
der Natur. Die Natur dachte man sich vorauslaufend,
in allen ihren Werken groß und unerreichbar: die Kunst
nachlaufend, copirend, portraitirend. – So sagte man
in England von unserm Meister Shakespear in einer
so platten als pretiösen Grabschrift, die Natur sei
gegen diesen ihren pinselnden Liebling besonders gefällig
gewesen, sie habe ihm in allen möglichen Attitüden
gesessen – und man bildete sich wirklich ein, damit
etwas recht Ausserordentliches gesagt zu haben. –
Wie ganz anders und höher leben und denken wir jetzt?
Zu einem ganz andern Gefühle unsrer Würde sind wir
zurück gekehrt! In allen menschlichen Beschäftigungen,
in Staatsgeschäften, im Kriege, im Handel selbst wie
in den einzelnen Künsten, sagen wir, wenn wir den
Geist, in dem sie getrieben werden, erheben und auszeichnen
wollen, sie würden künstlerisch betrieben.
Den Künstler als einen Knecht und Sclaven der herrlichsten
Göttin, der Natur selbst, zu denken ist uns mehr als
Entweihung, ist uns schreiender Widerspruch, weil
wir uns grade die Freiheit in keiner bessern,
höhern Gestalt denken können, als in Künstlers Gestalt.
Die Batteux mit ihrem Grundsatz der Nachahmung dachten
sich den Künstler ausserhalb der Natur, nur durch
seine innere Ohnmacht auf die Pro- <84:> tection
der Natur angewiesen: wir denken uns die Natur vornehmlich
im Künstler, am liebsten im Künstler; wie die Eva
in Miltons verlornem Paradiese die Namen und Zeichen
der Dinge lieber aus dem Munde Adams als aus dem Munde
Gottes selbst empfangen und lernen will, so mögen
wir die Natur lieber, wie sie aus den Augen und der
Seele des Dichters milder und menschlicher verherrlicht
wiederstrahlt, als wir ihr selbst unmittelbar in das
blendende und zerstreuende Antlitz sehen mögen. –
Unter allen Erzeugnissen der Natur ist der große Künstler
uns das vornehmste und erste; in ihm sehn wir die
Natur mittelbar, aber so herrlich als sie uns unmittelbar
nie erschienen. Wir geben uns mit ganzer liebevoller
Seele dem Dichter hin, statt daß der französische
Kritiker ihn denkt, ohnmächtig und ängstlich, wie
sich selbst, statt daß Batteux neben der Staffelei
des Künstlers sitzt, einen Blick auf das Kunstwerk,
den andern auf den Naturgegenstand der abgebildet
wird, hinwerfend, bei jedem Pinselstrich meisternd
und scheltend, daß es sich so nicht vorfände in der
Natur und daß, wie L. Tiek ironisch sagte, wenn
der Leser mit dem Buche in der Hand, nachher in die
freie Natur hinaus ginge, die Sache selbst mit der
Abbildung zu vergleichen, er sie nicht wieder finden
würde darin.
In
Shakespears gesammten Dramen sind gegen zwölfhundert
verschiedene Charactere dargestellt, jeder vom andern
himmelweit unterschieden, jeder rund für sich, ein
kleiner König, jeder von tiefer unergründlicher Wahrheit
und Lebendigkeit. Grade weil sie ihm nicht gesessen
oder stille gehalten haben, vielmehr weil sie um ihn
hergegangen und gelebt, weil er der Welt gestattet
sich frei und zwanglos um ihn her zu bewegen,
weil er selbst mitging und lebte, darum wußte er sie
„so geschwind und so natürlich“ darzustellen. Es bleibt
ewig wahr: wir können uns den Tod unter keiner bessern,
passendern Gestalt denken, als unter dem Bilde eines
Nachahmers, oder eines Sclaven überhaupt. – Göthe
hat es wahr und paradox so ausgedrückt: sogar der
Portraitmaler ahme nicht nach, er bringe das Bildniß
hervor; worauf er sehr passend einen andern jetzt
noch lebenden deutschen und gründlicheren Batteux
fragen läßt: wenn er das Portrait hervorbringe, warum
er denn den Gegenstand mit so vielen Sitzungen incommodire? –
Worin
liegt denn wohl die Schönheit eines Kopfes, der im
Portrait dargestellt werden soll? die Beantwortung
dieser Frage greift weiter als es scheint. Was von
dem Portrait dieses einzelnen Kopfes gilt, muß von
Shakespears Portrait der Menschheit auch gelten. Der
einzelne Kopf also, die feststehenden Züge sind das
wenigste; sie können mit ängstlicher Treue, mit Zirkel
und Winkelmaaß nachgeahmt sein, und dennoch ist noch
kein Portrait da. – Man kann einem schönen Kopfe keine
schlechtere Höflichkeit erweisen, als wenn einer behauptet,
er könne durch einen so ängstlichen Pinsel getroffen
werden: er ist alsdann gewiß nicht schön, er ist todt
und kalt, denn er muß das einemal aussehn wie das
andre. – Wenn ihr dem Künstler einen Menschen zeigt,
den er zum erstenmale sieht, und ihn fragt, ob er
schön sei, und er antwortet euch kurz und schlechthin:
er ist schön, oder er ist nicht schön, so hat <85:>
er ihn in Gedanken geschwind aber ängstlich copirt,
und es ist nothwendig ein schlechter Künstler.
Der wahre Künstler sagt gewiß: ich muß erst ihn sich
bewegen sehn, oder mit ihm sprechen, oder mit ihm
leben oder ihn sprechen und leben sehn; ich muß erst
sehn, ob sich dieser Kopf auch verwandeln kann, und
ehe ich entscheide, ob er Ausdruck hat, muß
ich doch zuvor erst sehn, wie sich die Ereignisse
und der Wechsel der Welt in ihm ausdrücken.
Das Leben, die Bewegung in diesem Kopfe müßte erst
stillstehn, wenn ich ihn mit dem Zirkel ängstlich
copiren wollte, wie ihr: aber grade im Fluge will
ich das Leben ergreifen, läßt es sich auch nur ergreifen,
in der Bewegung, in vielfältiger Verändrung und Umstaltung
will ich erst wahrnehmen, was denn eigentlich das
wahre Bleibende in diesen Zügen ist: was ihr Copisten
mir hinschreibt von dem Kopfe, das sind freilich die
einzelnen nachgemalten Worte und Buchstaben, aber
ich will nicht die einzelnen Klänge, sondern das Ganze,
den Geist ergreifen; ich will darstellen dasjenige,
was übrig bleibt, wenn alle die einzelnen Klänge verklungen
sind; dasjenige, was allein auf der Leinwand zu leben
und zu bleiben verdient, will ich darstellen. – Deshalb
kann man, wenn man lange mit Menschen gelebt hat,
sich so schwer erinnern, wie sie aussahn, da man sie
das erstemal gesehn: oder wenn man wirklich diesen
ersten Moment sich zurückzurufen weiß, findet man,
daß sie durchaus anders aussehn als damals. Beim ersten
Anblick nemlich, hat die Sele das Bild copirt;
im weitern Umgange hingegen, und in jeder Stunde desselben
hat sie es gemalt in der Bewegung und im Fluge;
was sie jetzt vor sich sieht, ist das Portrait ihres
Freundes, und grade deshalb, weil sie seine Züge hier
nicht sclavisch nachahmt, sondern mit Freiheit poetisch
hervorbringt. Es kann nicht fehlen, ein Portrait,
was einem dritten, der den Dargestellten erst einmal
flüchtig gesehn hat, sehr getroffen scheint, ist gewiß
ein schlechtes Portrait, oder der Dargestellte ist
ein Ungeheuer von Einfältigkeit und Einsylbigkeit.
Darin eben liegt die Gerechtigkeit der Natur gegen
s. g. häßliche Personen: die erste Bekanntschaft
mit neuen Menschen ist der schlimmste Moment den sie
erleben können, und grade das ist der Copistenmoment:
sobald die s. g. häßlichen Züge sich nur bewegen,
Freude, Schmerz und Leben ausdrücken können, so nimmt
die Häßlichkeit uns unter den Händen mit jedem Tage
ab – dahingegen sogenannte schöne Gestalten sich viel
schwerer auf die Dauer behaupten. – Sie werden mich
nach dieser Auseinandersetzung verstehen, wenn ich
den schwerfälligen, ängstlichen Copisten den monologischen
Portraitmaler nenne. Nun giebt es aber eine zweite
Art s. g. Maler, die von der Verwandlung und
Beweglichkeit der Gesichtszüge etwas vernommen haben,
und deshalb die Sache auf den Kopf zu treffen glauben,
wenn sie eine einzelne von diesen Verwandlungen oder
Bewegungen recht kräftig festhalten, einen einzelnen
Ausdruck des tiefsinnigen Nachdenkens, der die Augen
gen Himmel richtenden Sehnsucht u. s. w.
in seiner ganzen Breite darstellen, und so ihre Bilder
mit einem Schein von Character coquettiren lassen.
Wenn sich Schauspieler malen lassen wollen, so sehn
sie sich gewöhnlich nach einem solchen Maler um, und
suchen in einer gewissen Ungewißheit über ihr eignes
Gesicht einen Ausdruck auszu- <86:> drücken,
der gleichsam über alle einzelnen Ausdrücke ihrer
Rollen hervorrage. Das sind dialogische Gesichter
und dialogische Maler: ein wahres Gesicht muß
nicht Ausdruck haben, sondern ausdrückend und ausdrücklich
sein. – Der dramatische Maler braucht nicht
weiter characterisirt zu werden, er und sein Wesen
ist durch die ganze Darstellung schon bestimmt: er
ist der wahre Maler, und nur das dramatische Gesicht,
in dem sich auf einer bleibenden harmonischen Form,
die ganze Welt und jede ihrer Veränderungen leise
und ruhig aber tief ausdrücken, ist ein wahres Gesicht. –
Wenden
wir diese Theorie des ächten Portaits auf die Kunst
überhaupt an, und setzen wir an die Stelle des einzelnen
im Portrait dargestellten Menschen, die Natur,
an die Stelle des Portraitmalers, den Shakespear:
nun erhält die oben angeführte Grabschrift des Dichters
einen Sinn. Nicht ihre stehenden Züge blos aussprechen,
nachsprechen hatte er gelernt: ganze Jahrhunderte
mit ihrem Wechsel und Wandel giengen an ihm vorüber;
und mit übermächtiger Hand hielt er das innerlich
Bleibende und Wesentliche fest, und das unter Bewegungen,
die in der bloßen Darstellung noch heut durch ihre
Gewalt den Leser zu Boden zu stürzen drohn. Wer lange
rüstig und sinnvoll im bewegten, vielseitigen Umgang
mit der Natur gelebt hat, der wird sagen, Shakespears
Portrait von der Menschheit sei wohlgetroffen – und
der allein hat ein Recht es zu sagen. Nachgeahmt,
ausgemessen, ausgelöscht und ängstlich verbessert
hat er nie: und wie mochte der rastlose Geist nur
zögern, sich nur niedersetzen, um es zu können. Wie
wenn der Portraitmaler das Auge seines Gegenstandes
im Übergange von der Freude zum Schmerze belauscht,
so war es für Shakespear nur ein einzelner Ausdruck
in den Gesichtszügen der Menschheit, wenn Roms letzte
Freiheit und die Heldenunternehmung des Brutus bei
Philippi scheiterten: ein zorniger Blick und nicht
mehr war diesem Gewaltigen die ganze höllische Erscheinung
Richard III.; eine leichte Fieberröthe und nicht
mehr die grausende Eifersucht des Othello – und so
hinterläßt die hingebende, andächtige, ich möchte
sagen, gottesfürchtige Lesung seiner Werke endlich
ein ruhiges Bild der Menschheit, das unter dem Lesen
wächst und allmählich den weiten Hintergrund füllt.
Wenn man erst eine Strecke gegangen, dann mögen im
Vorgrunde Paläste, Menschen, ja ganze Geschlechter
und Staaten sinken: immer deutlicher tritt, wie ein
majestätisches Gebirge, das Bleibende und Ewige, die
große unaussprechliche Schrift der Natur, im Hintergrunde
heraus. Daß der junge Meister bei Göthe, vor Shakespears
Werken, wie vor dem aufgeschlagenen Buche des Schicksals
zu stehen glaubt, die Blätter im Sturm der Zeiten
hin- und herflatternd – dieses schöne Bild schildert
nur den ersten Eindruck, den diese Werke auf ein junges,
genialisches Gemüth zu machen pflegen. Da scheinen
denn noch die Loose der Menschheit in ihnen willkührlich
durcheinander geschüttelt, einem göttlichen Spiele,
einem heiligen Taumel scheint die ausserordentliche
Natur hingegeben. Wenn es aber nachher kund wird,
daß der Künstler, den man am Schlusse des Lear oder
des Macbeth erschöpft, und von der Last seines Un-
<87:> ternehmens gebeugt glaubt, daß derselbe
bleibt und bleibt und immer bleibt, und da wir noch
ihn tief in der Nacht des Nordens schlafend wähnen,
wie die königliche Eiche Lear vom Sturm zu Boden gestreckt
– er schon im Süden frisch und jugendlich wieder aufstanden
ist, und das Frühlings- und Liebesspiel von Orsino,
Olivia und Viola hertändelt – dann offenbart sich
ein Gleichgewicht der Elemente, eine Allmacht und
eine Jugend, daß wir ihn nur mit dem heiligen, ewigen
Körper der Erde vergleichen mögen, auf dem wir so
sicher und in so glücklicher Mitte zwischen Lust und
Schmerz, zwischen Liebe und Tod wohnen und leben.
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