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Adam Müller, Fragmente über William Shakespear, 55-87; darin: I. Prolog, 55f.


IV Fragmente über William Shakespear.
(Aus Adam Müllers Vorlesungen über die dramatische Kunst.)
I. Prolog.

Shakespear im Prolog zum Leben und Tode seines Lieblings, König Heinrich des Fünften, mit dem die Reihe der ritterlichen Könige von England sich schloß, spottet über sein Unternehmen, diesen colossalen Menschen, und seine Thaten in Frankreich und England, zusammengedrängt in dem Raum weniger Jahre – dies alles auf den engen Bretern darzustellen. Um wie vielmehr möchte der Beschreiber Shakespears und seiner dramatischen Thaten auf eine ähnliche Weise sich selbst und seine Absicht verspotten, wenn er der Schwere und der Hoheit nur eines einzigen seiner Werke gedenkt. Indeß sei für die nicht zu umgehende Darstellung, Shakespear selbst in Heinrich V. das Muster: möge es uns im kleinen gelingen, wie ihm im großen, dem allzureichen Stoff, einzelne erhabne und tiefgreifende Eigenthümlichkeiten abzugewinnen, und aus der ehrwürdigen Reihe seiner Werke – die einen Kreis darstellen, in dem der Betrachter ohne Ende vom Letzten wieder zum Ersten hingetrieben wird, und immerfort eilen muß und verweilen, beides zu gleicher Zeit – aus dieser Reihe das zu ergreifen, was unsre Schicksale, und unser Leben möchte ich sagen, am sichersten und dauerndsten in die hohe Natur dieses Meisters verwebt. Denn die Zeit und das Urtheil über die Schönheit und die Kunst, ist endlich dahin gediehen, daß wir unsere Ehrfurcht vor den Alten, unsere Treue gegen unsere Lehrer, die Griechen, und unsre Liebe für unsre Freunde, die Modernen, nicht besser ausdrücken können, als indem wir den gewaltigsten und reichsten Künstler auf den Richterstuhl setzen und darüber einig werden, Maas und Richtschnur für die übrigen in ihm zu finden. Gemeine Regeln für das Handwerk der Poesie, und für den poetischen Calcul, lassen sich aus ihm nicht herleiten; nachahmen läßt er sich gar nicht: aber ein Ergriffenwerden von ihm, ein Fortgerissenwerden in den hohen Schwung des Lebens, in die ächste Freiheit von allen drückenden, beengenden Formen – das giebt es wohl. Deshalb weil er nothwendig ist in allen Werken wie die wirkende Natur, und doch ohne Spur von Fesseln und Regelzwang; deshalb weil er frei, undendlich frei ist, und doch die kleine Stelle noch erst aufgefunden werden soll, wo er etwa willkührlich oder übermüthig im Mißbrauch der Freiheit erscheinen möchte: deshalb, weil er mit derselben Hand die Natur zu erforschen und sie künstlerisch zu erzeugen scheint, weil er den Monolog der sinnenden, nach einem Zwecke strebenden Kunst, mit dem unendlichen Dialog der spielenden, wechselnden, ewig beweglichen Natur in seiner höhern dramatischen Person vereinigt, wie keiner mehr, deshalb muß mit ihm, wie spät auch im Laufe der Zeiten seine irdische Erscheinung fällt, wie <56:> große Helden der Bühne auch schon vor ihm hergegangen seien, die Geschichte der dramatischen Poesie beginnen.

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Letzte Aktualisierung 29-Mär-2003
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