IV Fragmente über William Shakespear.
(Aus Adam Müllers Vorlesungen über die dramatische
Kunst.)
I. Prolog.
Shakespear im Prolog zum Leben
und Tode seines Lieblings, König Heinrich des Fünften,
mit dem die Reihe der ritterlichen Könige von England
sich schloß, spottet über sein Unternehmen, diesen
colossalen Menschen, und seine Thaten in Frankreich
und England, zusammengedrängt in dem Raum weniger
Jahre – dies alles auf den engen Bretern darzustellen.
Um wie vielmehr möchte der Beschreiber Shakespears
und seiner dramatischen Thaten auf eine ähnliche Weise
sich selbst und seine Absicht verspotten, wenn er
der Schwere und der Hoheit nur eines einzigen seiner
Werke gedenkt. Indeß sei für die nicht zu umgehende
Darstellung, Shakespear selbst in Heinrich V.
das Muster: möge es uns im kleinen gelingen, wie ihm
im großen, dem allzureichen Stoff, einzelne erhabne
und tiefgreifende Eigenthümlichkeiten abzugewinnen,
und aus der ehrwürdigen Reihe seiner Werke – die einen
Kreis darstellen, in dem der Betrachter ohne Ende
vom Letzten wieder zum Ersten hingetrieben wird, und
immerfort eilen muß und verweilen, beides zu gleicher
Zeit – aus dieser Reihe das zu ergreifen, was unsre
Schicksale, und unser Leben möchte ich sagen, am sichersten
und dauerndsten in die hohe Natur dieses Meisters
verwebt. Denn die Zeit und das Urtheil über die Schönheit
und die Kunst, ist endlich dahin gediehen, daß wir
unsere Ehrfurcht vor den Alten, unsere Treue gegen
unsere Lehrer, die Griechen, und unsre Liebe
für unsre Freunde, die Modernen, nicht besser
ausdrücken können, als indem wir den gewaltigsten
und reichsten Künstler auf den Richterstuhl setzen
und darüber einig werden, Maas und Richtschnur für
die übrigen in ihm zu finden. Gemeine Regeln für das
Handwerk der Poesie, und für den poetischen Calcul,
lassen sich aus ihm nicht herleiten; nachahmen läßt
er sich gar nicht: aber ein Ergriffenwerden von ihm,
ein Fortgerissenwerden in den hohen Schwung des Lebens,
in die ächste Freiheit von allen drückenden, beengenden
Formen – das giebt es wohl. Deshalb weil er nothwendig
ist in allen Werken wie die wirkende Natur, und doch
ohne Spur von Fesseln und Regelzwang; deshalb weil
er frei, undendlich frei ist, und doch die
kleine Stelle noch erst aufgefunden werden soll, wo
er etwa willkührlich oder übermüthig im Mißbrauch
der Freiheit erscheinen möchte: deshalb, weil er mit
derselben Hand die Natur zu erforschen und sie künstlerisch
zu erzeugen scheint, weil er den Monolog der sinnenden,
nach einem Zwecke strebenden Kunst, mit dem unendlichen
Dialog der spielenden, wechselnden, ewig beweglichen
Natur in seiner höhern dramatischen Person vereinigt,
wie keiner mehr, deshalb muß mit ihm, wie spät
auch im Laufe der Zeiten seine irdische Erscheinung
fällt, wie <56:> große Helden der Bühne auch
schon vor ihm hergegangen seien, die Geschichte der
dramatischen Poesie beginnen.