I. Vom religiösen
Character der griechischen Bühne.
Da ich in meiner heutigen Vorlesung
die Darstellung der griechischen Tragödie beschließe,
so erlauben Sie mir ein besondres Licht auf das Verhältniß
der griechischen Tragödie zu dem Ideal der Tragödie,
das ich durch diese Vorlesungen aufstellen möchte,
zu werfen. Es ist hier die Rede von einer Vergleichung
des religiösen Sinns in der griechischen Tragödie,
mit dem religiösen Sinn, den die Tragödie überhaupt
auszudrücken im Stande wäre. Vor der Kunstvollendung
der griechischen Tragödie beuge ich mich ehrfurchtsvoll; –
an Kunstvollendung das einzelne Deutsche dem einzelnen
Griechischen an die Seite zu setzen, dazu ist die
Zeit noch nicht gekommen, dazu muß das öffentliche
Leben erst vom Himmel begünstigt werden: um so mehr
wäre es Vermessenheit für mich, der ich als Beurtheiler
dem Dichter schon ohnehin weit nachstehe, ein Kunstideal
aufstellen zu wollen, welches das Griechische überträfe;
dieß können wir der Zeit und dem allgemeinen Drange
nach dem Bessern, und dem durch Kriege aufgewühlten
und befruchteten Boden unsers Vaterlandes überlassen.
Aber dasjenige, dem unser aller und jedes reinen Herzens
Urtheil gewachsen ist, das ist die religiöse Bedeutung,
und hier können wir durch die vorbereitenden Werke
Göthes bestärkt, behaupten, daß uns die Griechen ncht
gnügen, daß noch eine ganz andere und religiösere
Tragödie kommen werde und müsse. Ich flechte durch
meine heutige Darstellung den Gedanken, auf den sich
alle tragischen Empfindungen des Lebens zuletzt beziehen,
den Tod. Lassen Sie uns demnach von Göthe besonders
geleitet, untersuchen, wie zuerst in dem menschlichen
Menschen der Gedanke des Todes, der Mittelpunkt alles
tragischen, erscheinen müsse; und dann, wie er sich
im griechischen Menschen, vornehmlich in Äschylus
und Sophokles abbilde. So wird es uns gelingen, den
religiösen Character der griechischen Tragödie zu
würdigen. – Ich beginne mit der Betrachtung einer
deutschen Elegie, und setze mit Absicht für einen
Augenblick das Drama bei Seite, um meinem großen Gegenstande
ganz rein und unbefangen in die Augen sehn zu können.
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Wer
kennt nicht Göthes Elegie Euphrosyne? Der frühe Tod
einer jungen Schauspielerin, die Göthe für die Bühne
erzogen, hatte den Meister in innigen Schmerz versenkt.
Lange hatte er geschwiegen: der Kummer des Dichters
schien durch die Zeit schon gesänftigt zu sein, als
plötzlich jene Elegie, vielleicht die Frucht einer
unwillkührlich lebhaften Erinnerung, erschien, und
auf diese Weise das allzufrüh abgekürzte Leben der
Schülerin, dessen die vergeßliche Welt kaum noch gedachte,
der Unsterblichkeit übergeben wurde. Auf einem nächtlichen
Spaziergange folgt ihr Schatten dem Dichter: manche
Ahndung des ewigen Lebens der Kunst, die der Meister
in dem jugendlichen Leben entwickelt hatte, findet
sie getäuscht: sie ist hinunter gekommen in die Schattenwelt,
niemand hat sie gekannt oder genannt; nun fleht
sie den Dichter an, er möge ihr Gedächtniß verewigen,
damit sie würdig treten möge neben Antigone, Polyxena,
Elektra und Penelopeia, die alle der tragischen Kunst
die Unsterblichkeit verdanken. Viel erinnert sie ihn
an die Unerbittlichkeit des Schicksals, an das leicht
verflatternde Leben der Sterblichen, die gleichsam
die Blüthen alles Irdischen, deshalb am leichtesten
verweht sind vom Sturme des Schicksals, während der
Stamm und die Krone, das minder Edle und Schöne länger
dauert und nach festerem Gesetz zu bestehen scheint;
so müsse die Kunst grade das schöne Vergängliche
berühren: dem die Natur nur kurze Dauer vergönne,
grade das könne fordern die Verewigung der Kunst. –
Diese ihre Rede, ihre Bitte, ihr Verschwinden stellt
der Dichter dar: er erhört die Bitte, indem er sie
wiederholt; nach ihrem Verschwinden seinen Schmerz
laut ausweint, und endlich sich und den Hörer mit
einem einzigen Worte wunderbar beruhigt:
Unbezwingliche
Trauer befällt mich, entkräftender Jammer
und
ein moosiger Fels stützet den Sinkenden nur,
Wehmuth
reißt durch die Saiten der Brust, die nächtlichen
Thränen
fließen
und – über dem Wald kündet der Morgen sich an. –
Was macht allen Schmerz des Lebens
so besonders herbe? eine gewisse Dumpfheit, Unbestimmtheit,
Namenlosigkeit: wie ein Nebel, der selbst unsichtbar,
unergreifbar alle Gegenstände der Natur in allgemeine
Gestaltlosigkeit auflöst. Wisse deinen Schmerz erst
zu erkennen, dann zu betrachten, dann darzustellen,
kurz ihn zu nennen im vollen Sinne des Worts,
und du hast ihn schon halb überwunden. Beim Verlust
eines geliebten Menschen brechen zuerst Nebel und
Nacht ein, die die ganze Welt der Seele verhüllen,
bis diese endlich wieder fähig wird, das Verlorne
ruhig und deutlich zu erkennen: es entwindet sich
nun aus der allgemeinen Nacht ein verklärtes Bild
des Verschwundenen; nicht wie es in einzelnen Momenten
war, erscheint es jetzt wieder, sondern vollständig,
geschlossen, ins Göttliche veredelt, ein wahres Kunstwerk. –
Das ist eine gemeine Seele, die mir einwenden könnte,
dies sei bloße Erinnerung, Gedankenspiel, ein Bild
vom bloßen Geist des Verstorbenen! Je edler der Leidtragende,
der Zurückgebliebene ist, um so mehr wird er fühlen,
daß dies Bild Körper und Geist hat, beides in einem
schöneren, reineren Verein, als das wirkliche Leben
es je aufzubringen vermochte. Lassen Sie uns den Moment,
in wel- <5:> chem dieses Bild entsteht, den
Auferstehungsmoment nennen. Durch dieses verklärte
Bild ist der Schmerz nun zwar nicht unterdrückt, aber
verwandelt, der monologische Schmerz ist jetzt erhöht
zum dramatischen: die verklärte Gestalt wandelt unter
uns her immer lebendiger, immer namhafter, immer gestalteter,
greift in unser fortschreitendes Leben ein, ersetzt
immer mehr die leere Stelle, die der Todte hinterlassen,
bis wir endlich des Bildes nicht mehr bedürfen, und
wir das theure Verlorne in der ganzen Natur fortlebend
fühlen! nun kann sich das Bild uns entziehn, aller
Schmerz ist überwunden, wir fühlen uns durch den Schmerz
erhöht; die Ehre, die wir dem Todten erwiesen, ist
uns zugleich selbst wiederfahren; indem wir ihn verklärten,
haben wir zugleich uns selbst verklärt, dies nenne
ich den Himmelfahrtsmoment.
Welches
Höhere, unendlich Höhere, diese Worte andeuten möchten,
darüber laß ich den Schleier hängen, und beziehe blos
meine Rede auf die Tragödie! Denken Sie sich
die ganze Vergangenheit als einen einzigen großen
verstorbenen Freund; das Schicksal hat das Vergangene
hoffnungslos dahin gerissen; wirklicher Umgang, im
Sinne des gemeinen Lebens, mit diesem großen verstorbenen
Freunde, bleibt Ihnen ewig versagt. Tausend vergangene
Dinge, die Sie gern fortbesessen hätten, sind losgerissen
von Ihnen: einzelne längst verstorbene Heroen möchten
Sie zurückrufen, leben mit ihnen, aber vergebens.
So ergreift Sie ein unbestimmtes Gefühl des Schmerzes
eben über die Unerbittlichkeit des Schicksals; dieses
dauert, bis das Kunstvermögen in Ihnen wieder rege
wird, das Verlorene sich darstellt, und den Auferstehungsmoment
herbeiführt. Nun hebt in Ihrer Seele eine Art von
Drama an, der Schmerz wird nun genannt; ein höherer
Kreislauf des verlorenen Lebens beginnt: dieses dergestalt
erweckte Lebendige ist nun nicht mehr bloßer Bürger
eines bestimmten Landes, bloßer Bewohner eines bestimmten
Körpers; es ist zugleich Glied, und reinigt sich immer
mehr zum Gliede einer unvergänglichen Welt, welche
es am Schluße des Dramas, eben durch den von mir s. g.
Himmelfahrtsmoment in sich aufnimmt. Jede Tragödie
ist nun die Darstellung irgend eines erhabenen irdischen
Gegenstandes, einer That, einer Person, einer Geschichte,
die auf die hier beschriebene Weise wieder erweckt,
erhöht, und endlich der Unvergänglichkeit und dem
Himmel übergeben wird.
Welches
Heilige man nicht auf würdige Weise zu entschleiern
vermag, sollte man, sagt’ ich in der vorigen Stunde,
lieber verschleiert lassen: dieser mir selbst gegebenen
Vorschrift folge ich, der ich den Verdacht des Mysticismus
scheue, und würde dennoch stolz darauf sein, durch
das bisher gesagte, in manchem Mitgliede dieser verehrungswürdigen
Versammlung, eine Ahndung erweckt zu haben, wie nemlich
die Tragödie auch bei uns zu dem erhoben werden könnte,
was sie bei den Griechen war, zum religiösen Fest.
Wer
bei den Darstellungen der Tragödie einwenden kann,
dies sei nur ein Gedankenbild, eine Erinnerung an
das vergangene Große auf Erden, wie weit ist der <6:>
noch von der religiösen Bedeutung der Tragödie entfernt,
von der Einsicht, daß die Vergangenheit noch edler
und schöner, noch gegenwärtiger werde, als sie es
je gewesen, durch die Berührung der religiösen Kunst.
Sollte die schöne Mythe vom Orpheus, der mit dem Klange
seiner Leier die Unterwelt erweicht, einen anderen
Sinn haben als diesen? Trete deinen Gang in die Oberwelt
nur an, aber sieh nicht zurück auf Eurydicen, die
dir folgt. Wenn du deiner herrlichen Kunst gewiß bist,
ohne dich umzusehn, mußt du wissen, daß sie dir folgt!
Hätte der Sänger widerstanden, er hätte sie oben wieder
gefunden, in Berg und Thal, in den Quellen und in
den Wäldern. Alles große Vergangene läßt sich aus
der Unterwelt wieder heraufführen: nur die meisten
Menschen können dem Vorwitz und der Neugier nicht
widerstehn: sie fühlen es, daß Wallenstein wieder
heraufsteigt, aber sie müssen sich umsehn, nach dem
wirklichen Wallenstein in der Geschichte, und vergleichen,
und kritisiren, so geht an ihnen alle Gewalt der Kunst
verloren, während die frömmeren Seelen sich in dem
Anschaun unvergänglicher Größe und durch wirkliche
Auferweckung einer anscheinend vergangenen Heldenzeit
belohnt finden. – In der oben erwähnten Elegie
führt Göthe, ein neuer Orpheus, Euphrosynen aus der
Unterwelt herauf, vielmehr, sie sucht ihn auf, sie
klagt ihm, sie habe keinen Namen, er möge sie nennen,
damit sie gestaltet, einzeln dem Chor aller Heroen
zugesellt werden könne. Indem nun sie genannt, betrachtet,
erkannt wird, ihre Rede gesprochen, scheint sich,
eben durch diese Auferstehung ihres verklärten Leibes,
der erste dumpfe, trübe, namenlose Schmerz des Dichters,
in einen bestimmten dramatischen zu verwandeln. Endlich
hat sie ausgesprochen und Hermes ruft sie ab. Nun
fällt auch der bestimmte Schmerz mit bestimmter Gewalt
über ihn her, doch – über dem Wald kündet der
Morgen sich an. Der heilige Geist der Natur erwacht,
der Himmelfahrtsmoment ist vollendet: die Natur hat
die Wunde, die sie geschlagen, auch selbst wieder
geheilt. Auch der neue Orpheus hat sich nach ihr umgesehn,
nach der Eurydice, die er aus dem Orkus heraufbrachte:
wie würde ihn sonst so unbezwingliche Trauer, so entkräftender
Jammer befallen; aber nicht aus Neugier, er wollte
es; zum zweitenmal auch in der verklärten Gestalt
mußte sie sterben, auf daß er mit einem einzigen Worte,
mit einem einzigen Hinzeigen nach dem aufdämmernden
Morgen, sie zugleich auferwecken und zum Himmel erheben
konnte. – So läßt der tragische Dichter seinen
Helden zum zweitenmal sterben, um die ewig belebende
Gewalt der Kunst in ihrer ganzen Fülle zu offenbaren.
Ich
habe schon früher bemerkt, daß der dramatische Todesmoment
des Egmont dahin fällt, wo ihm Ferdinand beweist,
daß alle Wege, ihn aus dem Gefängniß zu befreien,
abgeschnitten sind, wo Egmont mit dem Fuße stampfend
ausruft: Keine Rettung, keine? und nun auch ihm, wie
dem Dichter, nach dem Verschwinden der Euphrosyne,
Wehmuth durch die Saiten der Brust reißt, und die
nächtlichen Thränen fließen. Süßes Leben, ruft er
aus u. s. f. Hierauf bricht Ferdinand, Albas
Sohn, der Zeuge seines dramatischen Todes, in noch
unmäßigeren Schmerz aus: er <7:> verliere sein
Vorbild, düster und leer sei nun sein Leben. In dem
Augenblick fühlt Egmont den Contrast zwischen seinem
dramatischen und Ferdinands monologischen Schmerz:
nun hat Egmont überwunden, er fühlt den Einfluß seines
Lebens auf die Freunde, auf die Niederlande, auf die
Welt, er fühlt sich unsterblich, und Siegessymphonien
begleiten seine Himmelfahrt. –
Jetzt
können wir sagen, daß das Drama zu vollständiger Beruhigung
allseitig geschlossen sei. Jede Tragödie hat demnach
drei vor allen Dingen zu beachtende Hauptpuncte: 1)
den Auferstehungsmoment oder den Anfangspunct, den
Eingang, 2) die Catastrophe, den höheren Todesmoment,
den Wendepunct, den ich am Egmont dargestellt habe,
3) den Himmelfahrtsmoment oder den Endpunct. Vom Anfang
bis an die Catastrophe erscheint der Held in allmählicher
immer dichterer Verwicklung seiner Schicksale, die
Natur, die Nothwendigkeit führt ihn ein in das Labyrinth:
von der Catastrophe bis ans Ende erhebt sich seine
Freiheit, oder was dasselbe sagen will, die Freiheit
des Dichters wieder, und das Ende ist da, wo das Gleichgewicht
wieder hergestellt, die Nothwendigkeit und die Freiheit
in ein göttliches Verhältniß, oder vielmehr in eine
göttliche Vereinigung treten, indem sie gegenseitig
einander unterworfen erscheinen. Nun ist der große
Gegenstand der Tragödie, es sei ein einzelner Held,
oder die gemeinschaftliche That erhabner Charactere,
ein Glied des ewigen und unendlichen Ganzen, der Kunst
oder der Natur, wie Sie wollen: und vollständig beruhigt,
und mit unserm ganzen Wesen, mit unserm Gesichtskreis
und Wirkungskreis zugleich erhoben, verlassen wir
das Theater. – Nicht ganz so, wie es hier dargestellt,
war es der Fall mit der antiken Tragödie; sie war
etwas weniger heilig als die hier dargestellte, und
so bleibt uns mit unserm ganz profanen wirklichen
Theater der glänzende Ersatz, der Idee einer viel
höheren, religiöseren Bühne, als selbst die Griechen
erreichen konnten.
Durch
das bisher gesagte mußte der Grund zur wahren unpartheiischen
Würdigung, von Sophokles und Äschylus, die mir in
der heutigen Stunde obliegt, gelegt werden.