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Adam Müller, I. Vom religiösen Character der griechischen Bühne, 3-13; darin: 3-7

I. Vom religiösen Character der griechischen Bühne.

Da ich in meiner heutigen Vorlesung die Darstellung der griechischen Tragödie beschließe, so erlauben Sie mir ein besondres Licht auf das Verhältniß der griechischen Tragödie zu dem Ideal der Tragödie, das ich durch diese Vorlesungen aufstellen möchte, zu werfen. Es ist hier die Rede von einer Vergleichung des religiösen Sinns in der griechischen Tragödie, mit dem religiösen Sinn, den die Tragödie überhaupt auszudrücken im Stande wäre. Vor der Kunstvollendung der griechischen Tragödie beuge ich mich ehrfurchtsvoll; – an Kunstvollendung das einzelne Deutsche dem einzelnen Griechischen an die Seite zu setzen, dazu ist die Zeit noch nicht gekommen, dazu muß das öffentliche Leben erst vom Himmel begünstigt werden: um so mehr wäre es Vermessenheit für mich, der ich als Beurtheiler dem Dichter schon ohnehin weit nachstehe, ein Kunstideal aufstellen zu wollen, welches das Griechische überträfe; dieß können wir der Zeit und dem allgemeinen Drange nach dem Bessern, und dem durch Kriege aufgewühlten und befruchteten Boden unsers Vaterlandes überlassen. Aber dasjenige, dem unser aller und jedes reinen Herzens Urtheil gewachsen ist, das ist die religiöse Bedeutung, und hier können wir durch die vorbereitenden Werke Göthes bestärkt, behaupten, daß uns die Griechen ncht gnügen, daß noch eine ganz andere und religiösere Tragödie kommen werde und müsse. Ich flechte durch meine heutige Darstellung den Gedanken, auf den sich alle tragischen Empfindungen des Lebens zuletzt beziehen, den Tod. Lassen Sie uns demnach von Göthe besonders geleitet, untersuchen, wie zuerst in dem menschlichen Menschen der Gedanke des Todes, der Mittelpunkt alles tragischen, erscheinen müsse; und dann, wie er sich im griechischen Menschen, vornehmlich in Äschylus und Sophokles abbilde. So wird es uns gelingen, den religiösen Character der griechischen Tragödie zu würdigen. – Ich beginne mit der Betrachtung einer deutschen Elegie, und setze mit Absicht für einen Augenblick das Drama bei Seite, um meinem großen Gegenstande ganz rein und unbefangen in die Augen sehn zu können. <4:>
Wer kennt nicht Göthes Elegie Euphrosyne? Der frühe Tod einer jungen Schauspielerin, die Göthe für die Bühne erzogen, hatte den Meister in innigen Schmerz versenkt. Lange hatte er geschwiegen: der Kummer des Dichters schien durch die Zeit schon gesänftigt zu sein, als plötzlich jene Elegie, vielleicht die Frucht einer unwillkührlich lebhaften Erinnerung, erschien, und auf diese Weise das allzufrüh abgekürzte Leben der Schülerin, dessen die vergeßliche Welt kaum noch gedachte, der Unsterblichkeit übergeben wurde. Auf einem nächtlichen Spaziergange folgt ihr Schatten dem Dichter: manche Ahndung des ewigen Lebens der Kunst, die der Meister in dem jugendlichen Leben entwickelt hatte, findet sie getäuscht: sie ist hinunter gekommen in die Schattenwelt, niemand hat sie gekannt oder genannt; nun fleht sie den Dichter an, er möge ihr Gedächtniß verewigen, damit sie würdig treten möge neben Antigone, Polyxena, Elektra und Penelopeia, die alle der tragischen Kunst die Unsterblichkeit verdanken. Viel erinnert sie ihn an die Unerbittlichkeit des Schicksals, an das leicht verflatternde Leben der Sterblichen, die gleichsam die Blüthen alles Irdischen, deshalb am leichtesten verweht sind vom Sturme des Schicksals, während der Stamm und die Krone, das minder Edle und Schöne länger dauert und nach festerem Gesetz zu bestehen scheint; so müsse die Kunst grade das schöne Vergängliche berühren: dem die Natur nur kurze Dauer vergönne, grade das könne fordern die Verewigung der Kunst. – Diese ihre Rede, ihre Bitte, ihr Verschwinden stellt der Dichter dar: er erhört die Bitte, indem er sie wiederholt; nach ihrem Verschwinden seinen Schmerz laut ausweint, und endlich sich und den Hörer mit einem einzigen Worte wunderbar beruhigt:

Unbezwingliche Trauer befällt mich, entkräftender Jammer
und ein moosiger Fels stützet den Sinkenden nur,
Wehmuth reißt durch die Saiten der Brust, die nächtlichen Thränen
fließen und – über dem Wald kündet der Morgen sich an. –

Was macht allen Schmerz des Lebens so besonders herbe? eine gewisse Dumpfheit, Unbestimmtheit, Namenlosigkeit: wie ein Nebel, der selbst unsichtbar, unergreifbar alle Gegenstände der Natur in allgemeine Gestaltlosigkeit auflöst. Wisse deinen Schmerz erst zu erkennen, dann zu betrachten, dann darzustellen, kurz ihn zu nennen im vollen Sinne des Worts, und du hast ihn schon halb überwunden. Beim Verlust eines geliebten Menschen brechen zuerst Nebel und Nacht ein, die die ganze Welt der Seele verhüllen, bis diese endlich wieder fähig wird, das Verlorne ruhig und deutlich zu erkennen: es entwindet sich nun aus der allgemeinen Nacht ein verklärtes Bild des Verschwundenen; nicht wie es in einzelnen Momenten war, erscheint es jetzt wieder, sondern vollständig, geschlossen, ins Göttliche veredelt, ein wahres Kunstwerk. – Das ist eine gemeine Seele, die mir einwenden könnte, dies sei bloße Erinnerung, Gedankenspiel, ein Bild vom bloßen Geist des Verstorbenen! Je edler der Leidtragende, der Zurückgebliebene ist, um so mehr wird er fühlen, daß dies Bild Körper und Geist hat, beides in einem schöneren, reineren Verein, als das wirkliche Leben es je aufzubringen vermochte. Lassen Sie uns den Moment, in wel- <5:> chem dieses Bild entsteht, den Auferstehungsmoment nennen. Durch dieses verklärte Bild ist der Schmerz nun zwar nicht unterdrückt, aber verwandelt, der monologische Schmerz ist jetzt erhöht zum dramatischen: die verklärte Gestalt wandelt unter uns her immer lebendiger, immer namhafter, immer gestalteter, greift in unser fortschreitendes Leben ein, ersetzt immer mehr die leere Stelle, die der Todte hinterlassen, bis wir endlich des Bildes nicht mehr bedürfen, und wir das theure Verlorne in der ganzen Natur fortlebend fühlen! nun kann sich das Bild uns entziehn, aller Schmerz ist überwunden, wir fühlen uns durch den Schmerz erhöht; die Ehre, die wir dem Todten erwiesen, ist uns zugleich selbst wiederfahren; indem wir ihn verklärten, haben wir zugleich uns selbst verklärt, dies nenne ich den Himmelfahrtsmoment.
Welches Höhere, unendlich Höhere, diese Worte andeuten möchten, darüber laß ich den Schleier hängen, und beziehe blos meine Rede auf die Tragödie! Denken Sie sich die ganze Vergangenheit als einen einzigen großen verstorbenen Freund; das Schicksal hat das Vergangene hoffnungslos dahin gerissen; wirklicher Umgang, im Sinne des gemeinen Lebens, mit diesem großen verstorbenen Freunde, bleibt Ihnen ewig versagt. Tausend vergangene Dinge, die Sie gern fortbesessen hätten, sind losgerissen von Ihnen: einzelne längst verstorbene Heroen möchten Sie zurückrufen, leben mit ihnen, aber vergebens. So ergreift Sie ein unbestimmtes Gefühl des Schmerzes eben über die Unerbittlichkeit des Schicksals; dieses dauert, bis das Kunstvermögen in Ihnen wieder rege wird, das Verlorene sich darstellt, und den Auferstehungsmoment herbeiführt. Nun hebt in Ihrer Seele eine Art von Drama an, der Schmerz wird nun genannt; ein höherer Kreislauf des verlorenen Lebens beginnt: dieses dergestalt erweckte Lebendige ist nun nicht mehr bloßer Bürger eines bestimmten Landes, bloßer Bewohner eines bestimmten Körpers; es ist zugleich Glied, und reinigt sich immer mehr zum Gliede einer unvergänglichen Welt, welche es am Schluße des Dramas, eben durch den von mir s. g. Himmelfahrtsmoment in sich aufnimmt. Jede Tragödie ist nun die Darstellung irgend eines erhabenen irdischen Gegenstandes, einer That, einer Person, einer Geschichte, die auf die hier beschriebene Weise wieder erweckt, erhöht, und endlich der Unvergänglichkeit und dem Himmel übergeben wird.
Welches Heilige man nicht auf würdige Weise zu entschleiern vermag, sollte man, sagt’ ich in der vorigen Stunde, lieber verschleiert lassen: dieser mir selbst gegebenen Vorschrift folge ich, der ich den Verdacht des Mysticismus scheue, und würde dennoch stolz darauf sein, durch das bisher gesagte, in manchem Mitgliede dieser verehrungswürdigen Versammlung, eine Ahndung erweckt zu haben, wie nemlich die Tragödie auch bei uns zu dem erhoben werden könnte, was sie bei den Griechen war, zum religiösen Fest.
Wer bei den Darstellungen der Tragödie einwenden kann, dies sei nur ein Gedankenbild, eine Erinnerung an das vergangene Große auf Erden, wie weit ist der <6:> noch von der religiösen Bedeutung der Tragödie entfernt, von der Einsicht, daß die Vergangenheit noch edler und schöner, noch gegenwärtiger werde, als sie es je gewesen, durch die Berührung der religiösen Kunst. Sollte die schöne Mythe vom Orpheus, der mit dem Klange seiner Leier die Unterwelt erweicht, einen anderen Sinn haben als diesen? Trete deinen Gang in die Oberwelt nur an, aber sieh nicht zurück auf Eurydicen, die dir folgt. Wenn du deiner herrlichen Kunst gewiß bist, ohne dich umzusehn, mußt du wissen, daß sie dir folgt! Hätte der Sänger widerstanden, er hätte sie oben wieder gefunden, in Berg und Thal, in den Quellen und in den Wäldern. Alles große Vergangene läßt sich aus der Unterwelt wieder heraufführen: nur die meisten Menschen können dem Vorwitz und der Neugier nicht widerstehn: sie fühlen es, daß Wallenstein wieder heraufsteigt, aber sie müssen sich umsehn, nach dem wirklichen Wallenstein in der Geschichte, und vergleichen, und kritisiren, so geht an ihnen alle Gewalt der Kunst verloren, während die frömmeren Seelen sich in dem Anschaun unvergänglicher Größe und durch wirkliche Auferweckung einer anscheinend vergangenen Heldenzeit belohnt finden. – In der oben erwähnten Elegie führt Göthe, ein neuer Orpheus, Euphrosynen aus der Unterwelt herauf, vielmehr, sie sucht ihn auf, sie klagt ihm, sie habe keinen Namen, er möge sie nennen, damit sie gestaltet, einzeln dem Chor aller Heroen zugesellt werden könne. Indem nun sie genannt, betrachtet, erkannt wird, ihre Rede gesprochen, scheint sich, eben durch diese Auferstehung ihres verklärten Leibes, der erste dumpfe, trübe, namenlose Schmerz des Dichters, in einen bestimmten dramatischen zu verwandeln. Endlich hat sie ausgesprochen und Hermes ruft sie ab. Nun fällt auch der bestimmte Schmerz mit bestimmter Gewalt über ihn her, doch – über dem Wald kündet der Morgen sich an. Der heilige Geist der Natur erwacht, der Himmelfahrtsmoment ist vollendet: die Natur hat die Wunde, die sie geschlagen, auch selbst wieder geheilt. Auch der neue Orpheus hat sich nach ihr umgesehn, nach der Eurydice, die er aus dem Orkus heraufbrachte: wie würde ihn sonst so unbezwingliche Trauer, so entkräftender Jammer befallen; aber nicht aus Neugier, er wollte es; zum zweitenmal auch in der verklärten Gestalt mußte sie sterben, auf daß er mit einem einzigen Worte, mit einem einzigen Hinzeigen nach dem aufdämmernden Morgen, sie zugleich auferwecken und zum Himmel erheben konnte. – So läßt der tragische Dichter seinen Helden zum zweitenmal sterben, um die ewig belebende Gewalt der Kunst in ihrer ganzen Fülle zu offenbaren.
Ich habe schon früher bemerkt, daß der dramatische Todesmoment des Egmont dahin fällt, wo ihm Ferdinand beweist, daß alle Wege, ihn aus dem Gefängniß zu befreien, abgeschnitten sind, wo Egmont mit dem Fuße stampfend ausruft: Keine Rettung, keine? und nun auch ihm, wie dem Dichter, nach dem Verschwinden der Euphrosyne, Wehmuth durch die Saiten der Brust reißt, und die nächtlichen Thränen fließen. Süßes Leben, ruft er aus u. s. f. Hierauf bricht Ferdinand, Albas Sohn, der Zeuge seines dramatischen Todes, in noch unmäßigeren Schmerz aus: er <7:> verliere sein Vorbild, düster und leer sei nun sein Leben. In dem Augenblick fühlt Egmont den Contrast zwischen seinem dramatischen und Ferdinands monologischen Schmerz: nun hat Egmont überwunden, er fühlt den Einfluß seines Lebens auf die Freunde, auf die Niederlande, auf die Welt, er fühlt sich unsterblich, und Siegessymphonien begleiten seine Himmelfahrt. –
Jetzt können wir sagen, daß das Drama zu vollständiger Beruhigung allseitig geschlossen sei. Jede Tragödie hat demnach drei vor allen Dingen zu beachtende Hauptpuncte: 1) den Auferstehungsmoment oder den Anfangspunct, den Eingang, 2) die Catastrophe, den höheren Todesmoment, den Wendepunct, den ich am Egmont dargestellt habe, 3) den Himmelfahrtsmoment oder den Endpunct. Vom Anfang bis an die Catastrophe erscheint der Held in allmählicher immer dichterer Verwicklung seiner Schicksale, die Natur, die Nothwendigkeit führt ihn ein in das Labyrinth: von der Catastrophe bis ans Ende erhebt sich seine Freiheit, oder was dasselbe sagen will, die Freiheit des Dichters wieder, und das Ende ist da, wo das Gleichgewicht wieder hergestellt, die Nothwendigkeit und die Freiheit in ein göttliches Verhältniß, oder vielmehr in eine göttliche Vereinigung treten, indem sie gegenseitig einander unterworfen erscheinen. Nun ist der große Gegenstand der Tragödie, es sei ein einzelner Held, oder die gemeinschaftliche That erhabner Charactere, ein Glied des ewigen und unendlichen Ganzen, der Kunst oder der Natur, wie Sie wollen: und vollständig beruhigt, und mit unserm ganzen Wesen, mit unserm Gesichtskreis und Wirkungskreis zugleich erhoben, verlassen wir das Theater. – Nicht ganz so, wie es hier dargestellt, war es der Fall mit der antiken Tragödie; sie war etwas weniger heilig als die hier dargestellte, und so bleibt uns mit unserm ganz profanen wirklichen Theater der glänzende Ersatz, der Idee einer viel höheren, religiöseren Bühne, als selbst die Griechen erreichen konnten.
Durch das bisher gesagte mußte der Grund zur wahren unpartheiischen Würdigung, von Sophokles und Äschylus, die mir in der heutigen Stunde obliegt, gelegt werden.

 

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Letzte Aktualisierung 29-Mär-2003
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