Zuförderst ist das
Theater bei uns Alltagsvergnügen: bei den Griechen
war es die Erweiterung religiöser Gebräuche, es war
durchaus in seiner ganzen Anordnung festlich.
Wir, meistentheils ohne weitere Absicht, als die der
Zerstreuung oder Unterhaltung, besuchen das Schauspielhaus,
das mit den öffentlichen Dingen, mit den ernsthaften
Angelegenheiten unsers Lebens durchaus in keinem Zusammenhang
steht. Daß man bei gewissen besonders feierlichen
Gelegenheiten den Vorstellungen einen Prolog hinzufügt,
und daß einzelne Bühnen den Titel Nationaltheater
angenommen haben, den indeß bis jetzt noch keine zu
realisiren gewußt hat – dies sind die einzigen
Spuren einer Verknüpfung der Bühne mit dem nationellen
Leben, die ich Ihnen aufweisen könnte. Bei den Griechen
war das Theater hingegen erweitertes Opfer des Bachus:
der Geber des Weinstocks begeisterte seine Priester
und alle Opfernden, und so erwachten besonders an
diesen Festen alle Nationalerinnerungen, die Thaten,
welche Griechenland groß gemacht, wurden zuerst abgesungen,
dann die in erwähntem Gesange vorkommenden Reden von
einem einzelnen Schauspieler recitirt, später von
Äschylus, dem einzelnen Schauspieler, ein zweiter
beigefügt, und so der dramatische Dialog erfunden,
endlich von Sophokles und Euripides die Handlung noch
durch mehrere Personen erweitert. Immer aber ward
der ursprüngliche Gesang beibehalten, das Meer gleichsam,
aus dem sich die festen, plastischen Theile des Dramas
emporgehoben hatten. Der alte Opfergesang, aus dem
das Drama hervorging, nemlich, hatte wirklich zwei
Elemente, ein flüßiges Lyrisches und ein festes Episches:
der Götter Lob wurde gesungen, dieser Gesang ging
über in die Erzählung ihrer Thaten, und löste sich
nachher in Lob und Preis wieder auf. Der <15:>
feste Theil bildete sich allmählich mehr und mehr
aus, gewann Umriß und Leben; der flüßige Theil behielt
die alte, ruhige, sich selbst gleiche Natur, und fügte
sich nur nachgiebig in die immer bestimmteren und
schöneren Umrisse des festen; und so ward er zum Chor. –
Gesang, Drama und Opfer ward mit religiöser Gewissenhaftigkeit
beibehalten, und die Zeit der Aufführung war in den
schönsten Zeiten der griechischen Kunst immer durch
die Feier der Bachusfeste bestimmt.
Da
wir mit ganz anderen Augen, mit viel geringerer Lust
an der Kunst, und ohne allen religiösen und nationellen
Antrieb die Bühne besuchen, so darf uns mit allem
Aufwand von Erfindungsgeist und Neuheit der Dichter
selten länger als höchstens drei Stunden festzuhalten
versuchen: dazu muß er die Abendstunden wählen. Das
trübe, zerrissene, zertheilte Wesen unsers Lebens,
kömmt uns nemlich des Morgens beim Erwachen gemeiniglich
mit so vieler Unfreundlichkeit entgegen, daß wir uns
durch ernsthafte Thätigkeit den Tag über wieder sammeln
müssen, und daß endlich am Abend erst unsre Natur
wieder abgeklärt, beruhigt und gereinigt genug ist,
um die Erzeugnisse der Künste zu empfangen: daher
und nicht blos weil es die bürgerlichen Geschäfte
so angeordnet hätten, sondern weil wir am Abend dem
Kunstgenuß wirklich gewachsener sind, verlegen wir
die musicalischen, die poetischen und die recht geselligen
Unterhaltungen in den Abend. Und so theilt denn der
gebildete Mann unsrer Zeit seinen Tag in drei gleiche
Portionen: dem Guten und Nützlichen schenkt er seinen
Morgen, da wird die Pflicht gethan, die Geschäfte
werden abgemacht; dem Wahren und der Belehrung bestimmt
er vielleicht seinen Nachmittag, da wird den neuen
Erscheinungen in der Literatur Audienz gegeben, da
wird, wie man zu sagen pflegt, mit dem Zeitalter fortgeschritten;
und am Abend endlich erhält dann das Schöne die Freiheit
seine Flügel auszubreiten. – Das griechische
Theater ward am Morgen mit Aufgang der Sonne eröffnet,
und dauerte den Tag über: an demselben Tage hatte
ein bestimmter einzelner Dichter die Herrschaft, er
führte drei zusammenhängende Tragödien vor seinem
Publikum vorüber, und fügte gewöhnlch noch ein viertes
s. g. satyrisches Drama hinzu, dessen Natur ich
weiter unten noch näher bestimmen werde. Nehmen Sie
nun ferner an, daß der Stoff dieser Stücke durchaus
alt, und meistentheils dem Publikum längst bekannt
war, daß die Fabel des Stücks öfters sogar im Prolog
noch vorher erzählt wurde, daß an Veränderung der
Scenen in unserm Sinne des Wortes, an Illusion, an
ausdrucksvollem Spiele wieder in unserm Sinne des
Worts gar nicht zu denken war – und versetzen
Sie dann ein deutsches Publikum aus dem neunzehnten
Jahrhundert vor das griechische Theater, so werden
Sie mir zugeben, daß sich selbiges nicht nur nicht
gefallen, sondern von der Art der Unterhaltung sich
auch durchaus keinen Begriff machen wird. – Das
griechische Theater war seinem Ursprung, seiner Form
und seinem Inhalte nach durchaus festlich.
Zweitens.
Unser gegenwärtiges Theater vereinigt als seine Diener
und Sclaven alle übrigen Künste um einen Natureffect
hervorzubringen, um zu täuschen, <16:> um uns
vergessen zu machen, daß Kunst dabei im Spiele gewesen. –
Das antike Theater wollte nichts anders ausstellen,
als eben die Kunst, wollte keinen Genuß darbieten,
als eben einen Kunstgenuß. Höchste Vollendung der
Sprache und des Tones, war der Mittelpunct, um den
sich die ganze äußere theatralische Lust drehte:
höchste Einfalt, Rundung und Tiefe in der poetischen
Darstellung der längst bekannten Handlung, war der
Mittelpunct, von dem das wenige Beiwesen abhing, dessen
die dramatische Lust bedurfte. Bei uns hat das Ohr,
dieser wunderbarste, geheimnißvollste Sinn, eine doppelte
Bestimmung; das Ohr muß im eigentlichsten Verstande
zweien Herren dienen, zweien Herren, die ewig im Kriege
leben, die wechselsweise einander zu unterjochen gewohnt
sind. Das Ohr dient bei uns bald dem Verstande,
indem es Worte empfängt, bald dem Gefühle,
indem es musikalische Töne aufnimmt: der Verstand
muß seitwärts stehn, wenn das Gefühl sich den Einwirkungen
der Musik überläßt, und auf das Gefühl, auf den Sinn
für die schönen Klänge wird keine Rücksicht genommen,
wenn der Verstand sich in Worten offenbart. Daher
hat sich bei uns die tragische Lust in zwei Gattungen
gebrochen, von denen die eine das Verstandesohr in
Anspruch nimmt, die eigentliche Tragödie: und die
andere sich wieder an das Gefühlsohr wendet, die ernsthafte
Oper. In unserer Tragödie ist der Wortsinn das Herrschende,
der schöne Klang hingegen, die Magd: die Herrscherin
kann sich zur Noth, wie die meisten deutschen Bühnen
zeigen, auch ohne diese Magd behelfen; in der Oper
herrschen dagegen die Klänge und die Modulationen,
und der Wortsinn ist hier folgsamer Sclav. –
Bei den Griechen standen diese beiden Functionen desselben
Sinns einander unendlich nahe: man kann sagen, sie
waren eins: der geistige Sinn der Worte und die Schönheit
die der sinnliche Sinn darin wahrnahm, berührten zugleich
den ganzen Menschen, und es ward, nicht etwa hier
die klügelnde, dort die empfindelnde Seele des Menschen,
sondern immerfort und allenthalben der ganze Mensch
in Anspruch genommen. – Was wissen wir Barbaren
von der Wollust des griechischen Gesprächs und griechischer
Rede? wir, die wir breit und rauh ausgeprägte, gestempelte
Worte willkührlich einander entgegen werfen, ohne
Maas, ohne Tact, ohne Grazie, und zufrieden sind,
wenn wir durch die Rede verstricken, verwickeln, fangen,
schlagen und treffen können, wo die Griechen bezauberten,
reizten, verführten: wir, die wir im Gespräch höchstens
Verstandesnetze stricken, wo die Griechen Blumenkränze
wanden. Sehn sie, was die Allgegenwart eines leise
empfindenden Ohrs aus dem griechischen Dialog zu bilden
im Stande war: betrachten Sie das Gastmahl und den
Phädrus des Plato! Hatte nicht jedes griechische Gespräch
fast seinen Grundton, der dem ganzen ein Gesetz des
Klanges mittheilte, dem alle Sprechenden unterworfen
waren; die Übergänge des Wortsinns waren alle unendlich
leise und musikalisch, statt daß die künstlichsten
unter unsern Sprechern, nur zu springen, zu stolpern
wissen, wenn das Gespräch sich nach einer andern Seite
hinüber schwingt. – Denken Sie sich diese Kunst
nun noch erhoben, veredelt, verklärt, eine große Nationalerinnerung,
die als harmonische Erzählung vom Alterthume auf die
Nachkommen herunter steigt, unter den <17:>
Händen der schön gearteten Enkel zum zweitenmal ins
Leben tritt, als Handlung wieder ans Licht kommt;
die alten Sagen, die Homerischen Gesänge, aus deren
Quell die meisten Tragödien abgeleitet waren, diese
im treuen Busen der Zuhörer; und alles horchend auf
die kunstreiche Wiederbelebung, alles bis auf die
kleinsten Züge trinkend, möchte ich sagen, die Vorzeit
Griechenlands und die herrlichste Gegenwart aus einer
Schale. Der heilige Rausch, den die Dichter aus dem
uralten Wein der Homerischen Gesänge, der Hymnen und
Mythen getrunken hatten, offenbarte sich als Tragödie,
und so war die Tragödie das reinste Opfer, das von
den herrlichsten des Volks dem Bachus dargebracht
wurde. – Wir wollen bei der Tragödie versetzt
sein, in die Zeit, da die Handlung spielte, und sind
am zufriedensten, wenn der Dichter uns die Gegenwart
vergessen macht, nehmen auch vorlieb, wenn er die
Klage in uns erzeugt, daß jene Zeiten vorüber sind;
bei den Griechen war es grade der höchste Triumph
der Gegenwart: die Vergangenheit sollte sich in und
durch die Gegenwart, die Gegenwart in und durch die
Vergangenheit offenbaren. –
Ein
höchst bedeutender Unterschied der antiken und modernen
theatralischen Darstellung, zeigt sich, indem wir
uns erinnern, daß zur antiken Darstellung die Maske
wesentlich gehörte, die bei modernen Darstellungen
um so weniger zuzulassen ist, als die Verwandlungen
des Ausdrucks in den Gesichtszügen zu den vorzüglichsten
Genüssen bei den modernen Repräsentationen gehören.
Die antike Maske bedeckte bekanntlich nicht blos wie
die unsrigen die Gesichtszüge, sondern den ganzen
Kopf, und ihr vorzüglichster Nutzen war die Verbreitung
des Tons, über die viel größeren Versammlungen der
Zuschauer, die deshalb auch schon schwieriger war,
weil die Schauspielhäuser von oben offen erbaut waren,
und die Handlung sich also unter freiem Himmel zutrug.
Dieser Nutzen der Masken allein aber erklärt noch
nicht, warum die griechischen Schauspieler auf den
Vortheil des mimischen Ausdrucks der Gesichtszüge
so leicht Verzicht leisten konnten. – Wir haben
bei unsern Untersuchungen über das Portrait in unsrer
letzten Unterhaltung, uns den Weg für die Erklärung
des Gebrauches der Masken bereits gebahnt. Wir unterschieden
neulich am Kopfe die feststehenden Züge, und die tausendfältige
Bewegung dieser Züge: wir überzeugten uns, daß eines
von beiden nur in dem andern erkannt werden könne,
daß die eigentlich feststehende Form nicht in der
todten Ruhe der Gesichtszüge geschaut werden könne,
sondern, daß vielfältige Betrachtung der Bewegung
vonnöthen sei, um die lebendige Ruhe, das lebendig
Bleibende in den Gesichstzügen aufzufassen. Das Leben
der Alten ging einen festern, ruhigern Gang, das Leben
der neuern schweift vielfältiger umher: dieser Unterschied
des antiken und modernen Lebens äußert sich zuverläßig
auch in dem Verhältniß eines antiken und modernen
Kopfs. Der antike Portraitirer würde der Bewegung
des abzubildenden Kopfes gewiß weniger bedurft haben
als der moderne: die Bewegungen waren am antiken Kopf
viel unmittelbarer, so zu sagen, ins Fleisch, in die
feste Form übergegangen: die äußere Gestalt und das
innre Leben waren einiger; die Erscheinung auch in
der Zeit gleichförmiger, nicht <18:> dem Wechsel,
dem veränderlichen Wetter des Gefühls unterworfen,
welche den modernen Kopf an einem Tage hundertmal
verwandeln. Kurz, wie oben von dem antiken Ohr behauptet
worden, daß es in dem Gefühl und in dem Verstande
einem und demselben Herrn diente, so war das antike
Auge, das sehende sowohl als das gesehene, sinnlich
und sinnreich zugleich. Dem Bildner des antiken Kopfes
reichten zur Darstellung der Marmorblock und der Meissel,
vollkommen hin, dahingegen der moderne Darsteller
vielen Apparats und Beiwesens bedarf, sich daher lieber
an Farben und Pinsel wendet, und durch die Beleuchtung
und den Farbenaccord den Kopf in ein recht characteristisches
Gefühlswetter zu versetzen, vorziehen würde. Aus allem
Gesagten folgt, daß die mimische Darstellung, der
Ausdruck der Gesichtszüge besonders, für die Alten
einen viel geringern Werth haben mußte, als für uns. –
Bei uns drückt der Körper mit seinen Bewegungen zweierlei
aus; er dient, wie oben vom Ohr behauptet wurde, zweien
Herren, dem Verstande und dem Gefühl. Er drückt einerseits
die Gedanken und die Deutungen der Seele aus, andrerseits
wieder den schönern innern harmonischen Klang der
Seele: und so sondern sich bei uns, als zwei ganz
verschiedene Künste, die Mimik und die Tanzkunst von
einander ab. Die verständige Mimik fliegt daher bei
uns ihrer Verwandtin der Verstandstragödie zu; die
musikalische Tanzkunst schließt sich durch Instinkt
der musikalischen Tragödie, der Oper nemlich an. Wie
ich Sie nun oben auffordern mußte, sich, um den Klang
der griechischen Tragödie zu verstehn, die moderne
Tragödie und die Oper organisch vereinigt zu denken,
so muß ich Sie jetzt einladen, sich Mimik und Tanzkunst
einfach, von allem Flitterstaat unsrer Zeit entblößt,
und so beide verbunden vorzustellen, um eine einigermaßen
passende Anschauung des antiken Theaters zu
erlangen. – Von diesem Standpunkte aus werden
sie die überwiegenden Vortheile der Masken auf antiken
Bühnen erkennen. Unsre Schauspiele, auch selbst wenn
es uns blos um Illusion zu thun wäre, werden uns mehr
auf die Bewegung angewiesenen Zuschauern, durch ihre
mimische Bewegung keine wahrere Darstellung
leisten können, als die alten Schauspieler in der
Maskenverwandlung einem Publikum zu geben vermochten,
das einen höhern Werth auf die festen Umrisse des
Körpers als auf dessen mimische Verwandlung legte. –
Nun aber kam es den Alten keinesweges auf gemeine
Illusion an: was sie wollten, war zuerst höchste Verkörperung
und Verwandlung des Worts, und dann höchste Verkörperung
und Veredlung der That und der Handlung. Wie beides
erreicht wurde mit einem Schlage von demselben Künstler,
was bei uns fabrikenmäßig getrennt, in vier Künsten,
in vier Functionen einzelner Handwerker, als Sprachkunst,
Musik, Mimik und Tanzkunst, ans Licht kommt, dies
glaube ich gezeigt und so den Weg zur Betrachtung
griechischer Künstler gebahnt zu haben.