BKA-Brandenburger Kleist-Ausgabe Start Übersicht Suchen Kontakt Andere interessante Websites Institut für Textkritik e. V.

[ PHÖBUS(7) ]

[ ]

 

Adam Müller, II. Einleitung in die Betrachtung der griechischen Bühne, 14-18

Zuförderst ist das Theater bei uns Alltagsvergnügen: bei den Griechen war es die Erweiterung religiöser Gebräuche, es war durchaus in seiner ganzen Anordnung festlich. Wir, meistentheils ohne weitere Absicht, als die der Zerstreuung oder Unterhaltung, besuchen das Schauspielhaus, das mit den öffentlichen Dingen, mit den ernsthaften Angelegenheiten unsers Lebens durchaus in keinem Zusammenhang steht. Daß man bei gewissen besonders feierlichen Gelegenheiten den Vorstellungen einen Prolog hinzufügt, und daß einzelne Bühnen den Titel Nationaltheater angenommen haben, den indeß bis jetzt noch keine zu realisiren gewußt hat – dies sind die einzigen Spuren einer Verknüpfung der Bühne mit dem nationellen Leben, die ich Ihnen aufweisen könnte. Bei den Griechen war das Theater hingegen erweitertes Opfer des Bachus: der Geber des Weinstocks begeisterte seine Priester und alle Opfernden, und so erwachten besonders an diesen Festen alle Nationalerinnerungen, die Thaten, welche Griechenland groß gemacht, wurden zuerst abgesungen, dann die in erwähntem Gesange vorkommenden Reden von einem einzelnen Schauspieler recitirt, später von Äschylus, dem einzelnen Schauspieler, ein zweiter beigefügt, und so der dramatische Dialog erfunden, endlich von Sophokles und Euripides die Handlung noch durch mehrere Personen erweitert. Immer aber ward der ursprüngliche Gesang beibehalten, das Meer gleichsam, aus dem sich die festen, plastischen Theile des Dramas emporgehoben hatten. Der alte Opfergesang, aus dem das Drama hervorging, nemlich, hatte wirklich zwei Elemente, ein flüßiges Lyrisches und ein festes Episches: der Götter Lob wurde gesungen, dieser Gesang ging über in die Erzählung ihrer Thaten, und löste sich nachher in Lob und Preis wieder auf. Der <15:> feste Theil bildete sich allmählich mehr und mehr aus, gewann Umriß und Leben; der flüßige Theil behielt die alte, ruhige, sich selbst gleiche Natur, und fügte sich nur nachgiebig in die immer bestimmteren und schöneren Umrisse des festen; und so ward er zum Chor. – Gesang, Drama und Opfer ward mit religiöser Gewissenhaftigkeit beibehalten, und die Zeit der Aufführung war in den schönsten Zeiten der griechischen Kunst immer durch die Feier der Bachusfeste bestimmt.
Da wir mit ganz anderen Augen, mit viel geringerer Lust an der Kunst, und ohne allen religiösen und nationellen Antrieb die Bühne besuchen, so darf uns mit allem Aufwand von Erfindungsgeist und Neuheit der Dichter selten länger als höchstens drei Stunden festzuhalten versuchen: dazu muß er die Abendstunden wählen. Das trübe, zerrissene, zertheilte Wesen unsers Lebens, kömmt uns nemlich des Morgens beim Erwachen gemeiniglich mit so vieler Unfreundlichkeit entgegen, daß wir uns durch ernsthafte Thätigkeit den Tag über wieder sammeln müssen, und daß endlich am Abend erst unsre Natur wieder abgeklärt, beruhigt und gereinigt genug ist, um die Erzeugnisse der Künste zu empfangen: daher und nicht blos weil es die bürgerlichen Geschäfte so angeordnet hätten, sondern weil wir am Abend dem Kunstgenuß wirklich gewachsener sind, verlegen wir die musicalischen, die poetischen und die recht geselligen Unterhaltungen in den Abend. Und so theilt denn der gebildete Mann unsrer Zeit seinen Tag in drei gleiche Portionen: dem Guten und Nützlichen schenkt er seinen Morgen, da wird die Pflicht gethan, die Geschäfte werden abgemacht; dem Wahren und der Belehrung bestimmt er vielleicht seinen Nachmittag, da wird den neuen Erscheinungen in der Literatur Audienz gegeben, da wird, wie man zu sagen pflegt, mit dem Zeitalter fortgeschritten; und am Abend endlich erhält dann das Schöne die Freiheit seine Flügel auszubreiten. – Das griechische Theater ward am Morgen mit Aufgang der Sonne eröffnet, und dauerte den Tag über: an demselben Tage hatte ein bestimmter einzelner Dichter die Herrschaft, er führte drei zusammenhängende Tragödien vor seinem Publikum vorüber, und fügte gewöhnlch noch ein viertes s. g. satyrisches Drama hinzu, dessen Natur ich weiter unten noch näher bestimmen werde. Nehmen Sie nun ferner an, daß der Stoff dieser Stücke durchaus alt, und meistentheils dem Publikum längst bekannt war, daß die Fabel des Stücks öfters sogar im Prolog noch vorher erzählt wurde, daß an Veränderung der Scenen in unserm Sinne des Wortes, an Illusion, an ausdrucksvollem Spiele wieder in unserm Sinne des Worts gar nicht zu denken war – und versetzen Sie dann ein deutsches Publikum aus dem neunzehnten Jahrhundert vor das griechische Theater, so werden Sie mir zugeben, daß sich selbiges nicht nur nicht gefallen, sondern von der Art der Unterhaltung sich auch durchaus keinen Begriff machen wird. – Das griechische Theater war seinem Ursprung, seiner Form und seinem Inhalte nach durchaus festlich.
Zweitens. Unser gegenwärtiges Theater vereinigt als seine Diener und Sclaven alle übrigen Künste um einen Natureffect hervorzubringen, um zu täuschen, <16:> um uns vergessen zu machen, daß Kunst dabei im Spiele gewesen. – Das antike Theater wollte nichts anders ausstellen, als eben die Kunst, wollte keinen Genuß darbieten, als eben einen Kunstgenuß. Höchste Vollendung der Sprache und des Tones, war der Mittelpunct, um den sich die ganze äußere theatralische Lust drehte: höchste Einfalt, Rundung und Tiefe in der poetischen Darstellung der längst bekannten Handlung, war der Mittelpunct, von dem das wenige Beiwesen abhing, dessen die dramatische Lust bedurfte. Bei uns hat das Ohr, dieser wunderbarste, geheimnißvollste Sinn, eine doppelte Bestimmung; das Ohr muß im eigentlichsten Verstande zweien Herren dienen, zweien Herren, die ewig im Kriege leben, die wechselsweise einander zu unterjochen gewohnt sind. Das Ohr dient bei uns bald dem Verstande, indem es Worte empfängt, bald dem Gefühle, indem es musikalische Töne aufnimmt: der Verstand muß seitwärts stehn, wenn das Gefühl sich den Einwirkungen der Musik überläßt, und auf das Gefühl, auf den Sinn für die schönen Klänge wird keine Rücksicht genommen, wenn der Verstand sich in Worten offenbart. Daher hat sich bei uns die tragische Lust in zwei Gattungen gebrochen, von denen die eine das Verstandesohr in Anspruch nimmt, die eigentliche Tragödie: und die andere sich wieder an das Gefühlsohr wendet, die ernsthafte Oper. In unserer Tragödie ist der Wortsinn das Herrschende, der schöne Klang hingegen, die Magd: die Herrscherin kann sich zur Noth, wie die meisten deutschen Bühnen zeigen, auch ohne diese Magd behelfen; in der Oper herrschen dagegen die Klänge und die Modulationen, und der Wortsinn ist hier folgsamer Sclav. – Bei den Griechen standen diese beiden Functionen desselben Sinns einander unendlich nahe: man kann sagen, sie waren eins: der geistige Sinn der Worte und die Schönheit die der sinnliche Sinn darin wahrnahm, berührten zugleich den ganzen Menschen, und es ward, nicht etwa hier die klügelnde, dort die empfindelnde Seele des Menschen, sondern immerfort und allenthalben der ganze Mensch in Anspruch genommen. – Was wissen wir Barbaren von der Wollust des griechischen Gesprächs und griechischer Rede? wir, die wir breit und rauh ausgeprägte, gestempelte Worte willkührlich einander entgegen werfen, ohne Maas, ohne Tact, ohne Grazie, und zufrieden sind, wenn wir durch die Rede verstricken, verwickeln, fangen, schlagen und treffen können, wo die Griechen bezauberten, reizten, verführten: wir, die wir im Gespräch höchstens Verstandesnetze stricken, wo die Griechen Blumenkränze wanden. Sehn sie, was die Allgegenwart eines leise empfindenden Ohrs aus dem griechischen Dialog zu bilden im Stande war: betrachten Sie das Gastmahl und den Phädrus des Plato! Hatte nicht jedes griechische Gespräch fast seinen Grundton, der dem ganzen ein Gesetz des Klanges mittheilte, dem alle Sprechenden unterworfen waren; die Übergänge des Wortsinns waren alle unendlich leise und musikalisch, statt daß die künstlichsten unter unsern Sprechern, nur zu springen, zu stolpern wissen, wenn das Gespräch sich nach einer andern Seite hinüber schwingt. – Denken Sie sich diese Kunst nun noch erhoben, veredelt, verklärt, eine große Nationalerinnerung, die als harmonische Erzählung vom Alterthume auf die Nachkommen herunter steigt, unter den <17:> Händen der schön gearteten Enkel zum zweitenmal ins Leben tritt, als Handlung wieder ans Licht kommt; die alten Sagen, die Homerischen Gesänge, aus deren Quell die meisten Tragödien abgeleitet waren, diese im treuen Busen der Zuhörer; und alles horchend auf die kunstreiche Wiederbelebung, alles bis auf die kleinsten Züge trinkend, möchte ich sagen, die Vorzeit Griechenlands und die herrlichste Gegenwart aus einer Schale. Der heilige Rausch, den die Dichter aus dem uralten Wein der Homerischen Gesänge, der Hymnen und Mythen getrunken hatten, offenbarte sich als Tragödie, und so war die Tragödie das reinste Opfer, das von den herrlichsten des Volks dem Bachus dargebracht wurde. – Wir wollen bei der Tragödie versetzt sein, in die Zeit, da die Handlung spielte, und sind am zufriedensten, wenn der Dichter uns die Gegenwart vergessen macht, nehmen auch vorlieb, wenn er die Klage in uns erzeugt, daß jene Zeiten vorüber sind; bei den Griechen war es grade der höchste Triumph der Gegenwart: die Vergangenheit sollte sich in und durch die Gegenwart, die Gegenwart in und durch die Vergangenheit offenbaren. –
Ein höchst bedeutender Unterschied der antiken und modernen theatralischen Darstellung, zeigt sich, indem wir uns erinnern, daß zur antiken Darstellung die Maske wesentlich gehörte, die bei modernen Darstellungen um so weniger zuzulassen ist, als die Verwandlungen des Ausdrucks in den Gesichtszügen zu den vorzüglichsten Genüssen bei den modernen Repräsentationen gehören. Die antike Maske bedeckte bekanntlich nicht blos wie die unsrigen die Gesichtszüge, sondern den ganzen Kopf, und ihr vorzüglichster Nutzen war die Verbreitung des Tons, über die viel größeren Versammlungen der Zuschauer, die deshalb auch schon schwieriger war, weil die Schauspielhäuser von oben offen erbaut waren, und die Handlung sich also unter freiem Himmel zutrug. Dieser Nutzen der Masken allein aber erklärt noch nicht, warum die griechischen Schauspieler auf den Vortheil des mimischen Ausdrucks der Gesichtszüge so leicht Verzicht leisten konnten. – Wir haben bei unsern Untersuchungen über das Portrait in unsrer letzten Unterhaltung, uns den Weg für die Erklärung des Gebrauches der Masken bereits gebahnt. Wir unterschieden neulich am Kopfe die feststehenden Züge, und die tausendfältige Bewegung dieser Züge: wir überzeugten uns, daß eines von beiden nur in dem andern erkannt werden könne, daß die eigentlich feststehende Form nicht in der todten Ruhe der Gesichtszüge geschaut werden könne, sondern, daß vielfältige Betrachtung der Bewegung vonnöthen sei, um die lebendige Ruhe, das lebendig Bleibende in den Gesichstzügen aufzufassen. Das Leben der Alten ging einen festern, ruhigern Gang, das Leben der neuern schweift vielfältiger umher: dieser Unterschied des antiken und modernen Lebens äußert sich zuverläßig auch in dem Verhältniß eines antiken und modernen Kopfs. Der antike Portraitirer würde der Bewegung des abzubildenden Kopfes gewiß weniger bedurft haben als der moderne: die Bewegungen waren am antiken Kopf viel unmittelbarer, so zu sagen, ins Fleisch, in die feste Form übergegangen: die äußere Gestalt und das innre Leben waren einiger; die Erscheinung auch in der Zeit gleichförmiger, nicht <18:> dem Wechsel, dem veränderlichen Wetter des Gefühls unterworfen, welche den modernen Kopf an einem Tage hundertmal verwandeln. Kurz, wie oben von dem antiken Ohr behauptet worden, daß es in dem Gefühl und in dem Verstande einem und demselben Herrn diente, so war das antike Auge, das sehende sowohl als das gesehene, sinnlich und sinnreich zugleich. Dem Bildner des antiken Kopfes reichten zur Darstellung der Marmorblock und der Meissel, vollkommen hin, dahingegen der moderne Darsteller vielen Apparats und Beiwesens bedarf, sich daher lieber an Farben und Pinsel wendet, und durch die Beleuchtung und den Farbenaccord den Kopf in ein recht characteristisches Gefühlswetter zu versetzen, vorziehen würde. Aus allem Gesagten folgt, daß die mimische Darstellung, der Ausdruck der Gesichtszüge besonders, für die Alten einen viel geringern Werth haben mußte, als für uns. – Bei uns drückt der Körper mit seinen Bewegungen zweierlei aus; er dient, wie oben vom Ohr behauptet wurde, zweien Herren, dem Verstande und dem Gefühl. Er drückt einerseits die Gedanken und die Deutungen der Seele aus, andrerseits wieder den schönern innern harmonischen Klang der Seele: und so sondern sich bei uns, als zwei ganz verschiedene Künste, die Mimik und die Tanzkunst von einander ab. Die verständige Mimik fliegt daher bei uns ihrer Verwandtin der Verstandstragödie zu; die musikalische Tanzkunst schließt sich durch Instinkt der musikalischen Tragödie, der Oper nemlich an. Wie ich Sie nun oben auffordern mußte, sich, um den Klang der griechischen Tragödie zu verstehn, die moderne Tragödie und die Oper organisch vereinigt zu denken, so muß ich Sie jetzt einladen, sich Mimik und Tanzkunst einfach, von allem Flitterstaat unsrer Zeit entblößt, und so beide verbunden vorzustellen, um eine einigermaßen passende Anschauung des antiken Theaters zu erlangen. – Von diesem Standpunkte aus werden sie die überwiegenden Vortheile der Masken auf antiken Bühnen erkennen. Unsre Schauspiele, auch selbst wenn es uns blos um Illusion zu thun wäre, werden uns mehr auf die Bewegung angewiesenen Zuschauern, durch ihre mimische Bewegung keine wahrere Darstellung leisten können, als die alten Schauspieler in der Maskenverwandlung einem Publikum zu geben vermochten, das einen höhern Werth auf die festen Umrisse des Körpers als auf dessen mimische Verwandlung legte. – Nun aber kam es den Alten keinesweges auf gemeine Illusion an: was sie wollten, war zuerst höchste Verkörperung und Verwandlung des Worts, und dann höchste Verkörperung und Veredlung der That und der Handlung. Wie beides erreicht wurde mit einem Schlage von demselben Künstler, was bei uns fabrikenmäßig getrennt, in vier Künsten, in vier Functionen einzelner Handwerker, als Sprachkunst, Musik, Mimik und Tanzkunst, ans Licht kommt, dies glaube ich gezeigt und so den Weg zur Betrachtung griechischer Künstler gebahnt zu haben.

[ PHÖBUS(7) ]

[ ]

Copyright © 2000 by Institut für Textkritik e. V., Heidelberg
Letzte Aktualisierung 29-Mär-2003
[ Webdesign: RR 2000 ]