II. Einleitung 
                            in die Betrachtung der griechischen Bühne.
                            (Aus A. Müllers Vorlesungen über dramatische 
                            Kunst.)
                          Das Leben des gemeinen Menschen 
                            wird recht dialogisch vom Zufall regiert, und dafür 
                            regiert der gemeine Dichter wieder recht monologisch 
                            und pedantisch sein Werk, und so unterscheiden sich 
                            denn, nicht der höhere, aber der gemeine Mensch und 
                            Dichter. Von Träumen, Phantasien und Lebensentwürfen 
                            wird das gemeine Leben fortgerissen, zu Plagen und 
                            Qualen aller Art, die arme Seele wird zum trotzigen 
                            oder geduldigen, aber immer leidenden Zuschauer der 
                            guten und bösen Stunden, die der Zufall über sie verhängt, 
                            und die sie hinnehmen muß wie es fällt: diesen sclavischen 
                            Zustand der Seele nennen wir dann ihren Verkehr mit 
                            dem wirklichen Leben. Dagegen nennen wir es 
                            wieder recht ungeschickt idealisches Leben 
                            der Seele, wenn sie sich mitunter losreißt vom Drucke 
                            der Wirklichkeit, sich mit sich selbst einschließt, 
                            in ihren vier Wänden den Herrn zu spielen anfängt, 
                            und zu dichten wähnt, wenn sie mit despotischer 
                            Absicht sich eine eigne Welt gründet, und monologisch 
                            ihren Willen, ihren Eigensinn armseligen Kreaturen 
                            aufdringt, die sich gegen ihren Schöpfer, den s. g. 
                            Dichter nicht wehren können, da sie ihr magres Leben 
                            ja allein durch seine Gunst besitzen, und die es geduldig 
                            leiden müssen, wenn der Dichter an ihnen sich schadlos 
                            hält, und die Stöße, die er in der Außenwelt empfangen 
                            hat, nun ihnen zurück giebt. So pflegt man im gemeinen 
                            Commerz das wirkliche Leben und das idealische Bilden 
                            des Dichters zu unterscheiden: so sehnt man sich im 
                            wirklichen Leben nach der Romanenwelt des Dichters; 
                            hat man sich in diese hinein begeben, so hebt unmittelbar 
                            die Klage an, daß in der wirklichen Welt doch alles 
                            anders, gar zu anders sei, und eben so unbefriedigt 
                            verläßt man den Roman: man taumelt, wie Göthes Faust, 
                            von Begierde zu Genuß, und im Genuß verschmachtet 
                            man nach Begierde; der Weltmann beneidet die Freiheit 
                            des Dichters, der Dichter möchte alle seine Freiheit 
                            um das Bedeutungsvolle des practischen Lebens hingeben.
                            
Von 
                            Shakespear läßt sich nicht sagen, ob er lebe, ob er 
                            dichte: der colossale reißende Dialog der Wirklichkeit, 
                            jäher Wechsel von Hoheit und Fall, von Dunkel und 
                            Licht, ward von Shakespear ausgesprochen in Tönen, 
                            daß oft die weicheren Seelen ein Schaudern ergriff, 
                            daß ihr Gefühl sich empört wähnte, daß sie meinten, 
                            diese Wirklichkeit sei denn doch allzuwirklich, und 
                            diese Werke seien mehr das Leben selbst, als die Dichtung. – 
                            Wiederum wird in Shakespear Herrschaft über den noch 
                            so gigantischen Stoff allenthalben gespürt, und das 
                            Walten unermeßlicher Kraft in einer großen eigenthümlichen 
                            Welt jederzeit vernommen. Wir, die Beschauer, <11:> 
                            vermochten nicht Red und Antwort zu geben, ob wir 
                            in Shakespears oder in unsrer Welt umhergingen: wir 
                            fühlten uns in ungeheurer Bewegung, unwissend ob durch 
                            uns selbst oder durch ihn. Die Mauern seines Theaters 
                            trennten uns von der Welt, Proscenium und Orchester 
                            trennten uns wieder von ihm; und alle diese Schranken 
                            waren doch auch wieder nicht da, kein Verlangen in 
                            uns nach außen, keine Sorgen, draußen etwas zu versäumen, 
                            oder zu vergessen: kurz, Einheit, völlige Einheit 
                            von Leben und Dichtung.
                            
Wer 
                            wie Shakespear in der Außenwelt und der Idee, in dem 
                            Dialog der übrigen und zugleich in sich zu leben oder 
                            zu dichten wußte, den nannten wir dramatischen Dichter 
                            oder dramatischen Menschen. – An seiner außerordentlichen 
                            Persönlichkeit haben wir unser Ideal erkannt: lassen 
                            Sie uns dieses durch die ganze Betrachtung festhalten, 
                            und so auf die einzelnen Zeitalter der Kunst übergehen.
                            
In 
                            den ersten frühsten Zeiten, in der Kindheit unsers 
                            Geschlechts, lebte und verging der Mensch wie eine 
                            Blume: nahe seinem Ursprung, verflochten nach allen 
                            Seiten in die umgebende Natur wurde er mit sanfter 
                            Hand in alle Wechsel der Naturerscheinungen, von der 
                            Klarheit in die Finsterniß, von der Ruhe in die Ungewitter, 
                            unmerklich fortgezogen; was die wunderlichsten Veränderungen 
                            der Welt in ihm hervorbringen konnten, war nichts 
                            als jugendliche Lust, ein schönes Farbenspiel: die 
                            Stürme, welche die trotzigere Natur umher beugten 
                            und zerschlugen, vermochten gegen die Unschuld des 
                            Menschen nichts, als ihn sanft auf seinem Zweige zu 
                            wiegen. – Damals konnte ihm die große Frage noch 
                            nicht kommen: wer den andern beherrsche, der Mensch 
                            die Natur, oder die Natur den Menschen? – die 
                            Natur, ihr kleinstes und größtes, schien dem Menschen 
                            nicht mehr, nicht weniger als seines gleichen, und 
                            so war das Gespräch mit ihr ein liebevolles und unendliches, 
                            in welchem weder der Mensch noch die Natur recht, 
                            oder das letzte Wort zu behalten brauchte. – 
                            Wir mögen über den vergangenen Zustand der Menschheit 
                            nachdenken wie wir wollen, in die Vorzeit zurück gehen, 
                            durch jede Pforte, welche die Geschichte uns eröffnen 
                            mag, immer treffen wir zuletzt auf einen paradiesischen 
                            Anfang, dem ähnlich, den ich Ihnen beschrieben. Sonderbarerweise 
                            zeigt sich uns auf der andern Seite, wenn wir alle 
                            Orakel unsers Herzens, alle Deutungen des gegenwärtigen 
                            Zustandes der Dinge befragen, auch ein paradiesischer 
                            Zustand in der Zukunft zuletzt, da wo wir uns 
                            das Ende der Menschheit hindenken. Wir ahnden, daß 
                            sich alles getrennte, zerrissene, einst wieder treffen, 
                            ausgleichen und vereinigen müsse. – Wie unterscheiden 
                            sich wohl diese beiden Paradiese, das Vergangene und 
                            das Zukünftige? – das Paradies im Anfange scheint 
                            uns ein Werk der Natur; das zukünftige Paradies ein 
                            Werk unserer Kunst. Das Paradies im Anfange ein harmonisches 
                            Drama: der Geist der Natur, der Dichter des 
                            Drama: dagegen in dem Drama des zukünftigen Paradieses 
                            der Geist des Menschen, als der Dichter erscheint. 
                            So unterscheiden  sich die beiden Paradiese; hingegen 
                            gemeinschaft- <12:> lich ist in dem einem wie 
                            in dem andern der Gedanke des Friedens zwischen 
                            dem Menschen und der Natur.
                            
Zwischen 
                            diesen beiden dramatischen Zuständen der Menschheit, 
                            liegt nun mitten inne ein weites Reich der Kriege 
                            des Menschen und der Natur: das alte Paradies verschwindet 
                            von Anfang bis heute und in die Zukunft mehr und mehr, 
                            und zu gleicher Zeit, von Anfang bis ans Ende erhebt 
                            sich das neue Paradies allmählich und immer sichtbarer. 
                            Zuerst in der alten Zeit tritt der Mensch durch seine 
                            Jugendkraft verführt monologisch aus dem Drama heraus, 
                            er hält sich für den Herrn des Lebens, für den Helden 
                            in der Geschichte, und so erheben sich die stolzen 
                            Republiken von Griechenland und Rom; dann eine Weltmonarchie 
                            über die andere, bis endlich alles in einen Coloß 
                            zusammen gefügt, als römisches Weltreich den Gipfel 
                            der übermüthigen Kunst erreicht, einstürzt und versinkt, 
                            und so endigt sich das große Lustspiel, welches 
                            wir nennen: Geschichte der alten Welt. – 
                            Der Mensch ist also nicht der monologische Held, der 
                            Despot in dem Weltdrama, die Natur nicht blos ein 
                            Spielwerk seiner Hand. Also ist vielleicht die Natur 
                            der Held; nieder im Staub vor ihrem unsichtbaren Geist, 
                            im Glauben, in Demuth, in Liebe, und so beginnt das 
                            große Trauerspiel: Geschichte der neuen Welt. 
                            Das unsichtbare allein soll herrschen, unsichtbaren 
                            Gesetzen wird gehuldigt, das zerbrechlichere, schwächere, 
                            den Einwirkungen der Natur mehr ausgesetzte, die Weiblichkeit, 
                            das Alter werden auf den Thron erhoben. Der Mensch 
                            ist Diener, Sclav der Natur, Beschützer ihrer Heiligthümer. 
                            So bilden sich die hierarchischen Verfassungen von 
                            Europa, denn nicht blos die Päpstliche, alle Verfassungen 
                            des Mittelalters waren hierarchischer Natur: ich verweise 
                            sie auf Shakespears Richard 2. Aber diesen Götzendienst 
                            verschmäht die Natur, und die unsichtbaren Weltreiche 
                            der neueren Welt werden von Menschenhänden verwüstet 
                            und zertrümmert, wie die Menschenwerke der alten Welt 
                            durch die Naturkräfte vernichtet wurden. Diese Tragödie: 
                            Geschichte der neuen Welt, existirt wirklich 
                            als geschriebenes Gedicht in ihrer wesentlichen Gestalt, 
                            und dies ist das von uns bereits von mehreren Seiten 
                            betrachtete Trauerspiel Shakespears: vom Untergange 
                            der Ritterzeit. Wer ist es denn also der herrscht? 
                            der Mensch nicht, dies beweist die alte, die Natur 
                            nicht, dies beweist die neue Geschichte: das stillste 
                            wie das unruhigste Herz in dieser Versammlung ist 
                            einmal und öfter schon unter ganz verschiedenen Gestalten 
                            von diesem Zweifel geängstet worden, dessen Lösung 
                            ich Ihnen als das höchste Geschäft der ganzen Menschheit 
                            dargestellt habe. – Meinungen, Grundsätze, Menschen, 
                            Helden, alten Glauben an bestimmte Institute, den 
                            wir mit der Muttermilch eingesogen haben – haben 
                            wir in Staub zertreten sehn: wem sollte nicht die 
                            Frage aufgestoßen sein: ist denn der Mensch nicht 
                            ein Spielwerk in den Händen einer unsichtbaren Naturkraft! – 
                            nichts sicheres ewiges, unverwüstliches kann er gründen.
                            
Ferner: 
                            mit einem Übermuthe, dem selbst die alte Welt nichts 
                            ähnliches entgegen stellt, haben wir den Menschen 
                            wieder über die Natur herrschen, und alle ihre <13:> 
                            Erzeugnisse zu seinem eigensinnigen, despotischen 
                            Bau mißbrauchen sehn. Da mußten wir uns eben so natürlich 
                            wieder fragen: sind denn die heiligen Werke, die die 
                            Natur in Jahrtausenden bildete, nur Spielzeuge in 
                            der Hand des übermüthigen Menschen? – Kurz, wir 
                            alle haben bald das Schicksal, eine dunkle 
                            unbekannte Macht, und bald wieder die Willkühr 
                            herrschen sehn. – Der Gedanke eines unwiderstehlichen, 
                            unversöhnlichen, unvermeidlichen Schicksals, 
                            ist durchaus monologischer Natur: gefühllos gegen 
                            die dringendste Einrede unsers Herzens, gegen unsre 
                            Klagen, ja gegen unsre Thaten selbst waltet ein feindseliger 
                            Geist über unsere Wohnungen, dem erst unsere Werke, 
                            dann auch wir selbst unterliegen. Dieser Gedanke ist 
                            der beständige Begleiter des monologischen Schmerzes: 
                            eben so ist der dialogische Gedanke der Willkühr 
                            der beständige Begleiter aller einseitigen undramatischen 
                            Lust: daß nemlich der Dinge Wechsel, ihre Erscheinung 
                            und ihr Untergang von uns abhänge, daß die Natur, 
                            unser Sclav, unser Spielzeug sei. Zwischen diesen 
                            beiden Gedanken fieng die Menschheit zu schwanken 
                            an, da die erste paradiesische Unschuld verloren war. – 
                            Bald schien der Mensch das Schicksal zu spielen: bald 
                            wieder das Schicksal mit dem Menschen zu spielen.
                            
So 
                            herrscht nun in der griechischen Tragödie der 
                            Gedanke des Schicksals, in der griechischen Komödie 
                            hingegen der Gedanke der Willkühr; freilich das eine 
                            und das andre gemildert durch die Kunst; beide religiös 
                            und nationell veredelt. Das Schicksal und die Willkühr 
                            errichteten bei den Griechen einen friedlichen, künstlerischen 
                            Verein, eine häusliche Verfassung, eine Art von Ehe. 
                            Beiden wurden ihre Rechte zugestanden, und jedes waltete 
                            für sich und doch als schönes Gegengewicht des andern. 
                            Die Vorzeit Griechenlands ward in den Kreis des Trauerspiels 
                            hineingezogen: alle hohen Wendungen des Schicksals 
                            bei der ersten Bildung der griechischen Staaten, wurden 
                            in den bedeutendsten Momenten ergriffen und auf die 
                            Bühne getragen. Eben so wurde das Außerordentlichste, 
                            was der Übermuth der griechischen Freistaaten in der 
                            Gegenwart vermochte, im schönen Rausche der Kunst 
                            an die Komödie angeschlossen: kurz, es ward dem Menschen 
                            mit seinen Rechten ein Tribunal eröffnet, vor dem 
                            er zeigen konnte, wie viel er durch seine Willkühr 
                            über die Natur vermag: die Komödie. – Ferner 
                            saß das Volk wieder zu Gericht, wenn in der Tragödie 
                            das Schicksal sich in seiner Macht über den Menschen 
                            geltend machte. Und so konnte der griechische Zuschauer, 
                            wie einfach und edel er selbst war, erkennen, an dergleichen 
                            Unbefangenheit und dem Kunstsinne, mit denen er hier 
                            das Schicksal im Hause der Atriden rasen, und dort 
                            die Götter, die Heroen, und die Weisen in der Komödie 
                            von dem Menschen Aristophanes wieder verspotten, freveln 
                            und in den Staub treten sah. Die Ideen des Schicksals 
                            und der Willkühr walten überall unsichtbar auf der 
                            griechischen Bühne: da nun alle Fragen, alle Zweifel, 
                            alles Wirken und Denken sich endlich auf diese Ideen 
                            beziehen, so ist schon von selbst die innerliche Erhabenheit, 
                            die Bedeutung, der religiöse und heilige Character 
                            der griechischen Bühne klar. – Gedenken Sie dagegen 
                            des eben so innerlich armseligen, bedeutungslosen, 
                            <14:> und recht unheiligen Characters unsrer 
                            heutigen Specktakel, die den sinnvollen Beobachter 
                            freilich auch erheben, aber auf eine ganz andere Weise, 
                            dadurch nemlich, daß sie ihm zeigen, ein einziger 
                            Gedanke, ein einziger Flügelschlag seines  Gemüths 
                            sei mehr werth, sei dramatischer, heiliger, als der 
                            ganze Plunder von Täuschungen, der ganze Aufwand von 
                            Künsten, der gemacht wird, um das allergemeinste, 
                            was die Nation hervorbringt, noch recht ans Licht 
                            zu stellen.
                            
Den 
                            innerlich religiösen Character der griechischen Bühne, 
                            brauche ich also weiter nicht heraus zu heben: er 
                            leuchtet von selbst ein. Indeß muß auch in der äußeren 
                            Gestalt ganz etwas anders sich offenbaren; das antike 
                            Theater muß eine tempelähnliche Gestalt haben. Man 
                            trägt nur zu leicht die Vorstellungen von dramatischer 
                            Poesie und Theater, von unsern sehr verschieden organisirten 
                            Brettergerüsten auf die ganz andre und eigne Form 
                            der griechischen Bühne über, deshalb erlauben Sie 
                            mir eine flüchtige Vergleichung unsers Theaters mit 
                            dem griechischen. Die Eigenthümlichkeiten der Griechen 
                            sind freilich in Deutschland von der ihnen gewachsenen 
                            Kraft Göthes, Schillers und A. Wilh. Schlegels selbst 
                            auf die Bühne gebracht worden, aber sie haben doch 
                            beim Publikum noch zu wenig Eingang gefunden, als 
                            daß ihrer Wirkung nicht immer noch durch ruhige Untersuchung 
                            in die Hände gearbeitet werden müßte.