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Adam Müller, II. Einleitung in die Betrachtung der griechischen Bühne, 10-14

II. Einleitung in die Betrachtung der griechischen Bühne.
(Aus A. Müllers Vorlesungen über dramatische Kunst.)

Das Leben des gemeinen Menschen wird recht dialogisch vom Zufall regiert, und dafür regiert der gemeine Dichter wieder recht monologisch und pedantisch sein Werk, und so unterscheiden sich denn, nicht der höhere, aber der gemeine Mensch und Dichter. Von Träumen, Phantasien und Lebensentwürfen wird das gemeine Leben fortgerissen, zu Plagen und Qualen aller Art, die arme Seele wird zum trotzigen oder geduldigen, aber immer leidenden Zuschauer der guten und bösen Stunden, die der Zufall über sie verhängt, und die sie hinnehmen muß wie es fällt: diesen sclavischen Zustand der Seele nennen wir dann ihren Verkehr mit dem wirklichen Leben. Dagegen nennen wir es wieder recht ungeschickt idealisches Leben der Seele, wenn sie sich mitunter losreißt vom Drucke der Wirklichkeit, sich mit sich selbst einschließt, in ihren vier Wänden den Herrn zu spielen anfängt, und zu dichten wähnt, wenn sie mit despotischer Absicht sich eine eigne Welt gründet, und monologisch ihren Willen, ihren Eigensinn armseligen Kreaturen aufdringt, die sich gegen ihren Schöpfer, den s. g. Dichter nicht wehren können, da sie ihr magres Leben ja allein durch seine Gunst besitzen, und die es geduldig leiden müssen, wenn der Dichter an ihnen sich schadlos hält, und die Stöße, die er in der Außenwelt empfangen hat, nun ihnen zurück giebt. So pflegt man im gemeinen Commerz das wirkliche Leben und das idealische Bilden des Dichters zu unterscheiden: so sehnt man sich im wirklichen Leben nach der Romanenwelt des Dichters; hat man sich in diese hinein begeben, so hebt unmittelbar die Klage an, daß in der wirklichen Welt doch alles anders, gar zu anders sei, und eben so unbefriedigt verläßt man den Roman: man taumelt, wie Göthes Faust, von Begierde zu Genuß, und im Genuß verschmachtet man nach Begierde; der Weltmann beneidet die Freiheit des Dichters, der Dichter möchte alle seine Freiheit um das Bedeutungsvolle des practischen Lebens hingeben.
Von Shakespear läßt sich nicht sagen, ob er lebe, ob er dichte: der colossale reißende Dialog der Wirklichkeit, jäher Wechsel von Hoheit und Fall, von Dunkel und Licht, ward von Shakespear ausgesprochen in Tönen, daß oft die weicheren Seelen ein Schaudern ergriff, daß ihr Gefühl sich empört wähnte, daß sie meinten, diese Wirklichkeit sei denn doch allzuwirklich, und diese Werke seien mehr das Leben selbst, als die Dichtung. – Wiederum wird in Shakespear Herrschaft über den noch so gigantischen Stoff allenthalben gespürt, und das Walten unermeßlicher Kraft in einer großen eigenthümlichen Welt jederzeit vernommen. Wir, die Beschauer, <11:> vermochten nicht Red und Antwort zu geben, ob wir in Shakespears oder in unsrer Welt umhergingen: wir fühlten uns in ungeheurer Bewegung, unwissend ob durch uns selbst oder durch ihn. Die Mauern seines Theaters trennten uns von der Welt, Proscenium und Orchester trennten uns wieder von ihm; und alle diese Schranken waren doch auch wieder nicht da, kein Verlangen in uns nach außen, keine Sorgen, draußen etwas zu versäumen, oder zu vergessen: kurz, Einheit, völlige Einheit von Leben und Dichtung.
Wer wie Shakespear in der Außenwelt und der Idee, in dem Dialog der übrigen und zugleich in sich zu leben oder zu dichten wußte, den nannten wir dramatischen Dichter oder dramatischen Menschen. – An seiner außerordentlichen Persönlichkeit haben wir unser Ideal erkannt: lassen Sie uns dieses durch die ganze Betrachtung festhalten, und so auf die einzelnen Zeitalter der Kunst übergehen.
In den ersten frühsten Zeiten, in der Kindheit unsers Geschlechts, lebte und verging der Mensch wie eine Blume: nahe seinem Ursprung, verflochten nach allen Seiten in die umgebende Natur wurde er mit sanfter Hand in alle Wechsel der Naturerscheinungen, von der Klarheit in die Finsterniß, von der Ruhe in die Ungewitter, unmerklich fortgezogen; was die wunderlichsten Veränderungen der Welt in ihm hervorbringen konnten, war nichts als jugendliche Lust, ein schönes Farbenspiel: die Stürme, welche die trotzigere Natur umher beugten und zerschlugen, vermochten gegen die Unschuld des Menschen nichts, als ihn sanft auf seinem Zweige zu wiegen. – Damals konnte ihm die große Frage noch nicht kommen: wer den andern beherrsche, der Mensch die Natur, oder die Natur den Menschen? – die Natur, ihr kleinstes und größtes, schien dem Menschen nicht mehr, nicht weniger als seines gleichen, und so war das Gespräch mit ihr ein liebevolles und unendliches, in welchem weder der Mensch noch die Natur recht, oder das letzte Wort zu behalten brauchte. – Wir mögen über den vergangenen Zustand der Menschheit nachdenken wie wir wollen, in die Vorzeit zurück gehen, durch jede Pforte, welche die Geschichte uns eröffnen mag, immer treffen wir zuletzt auf einen paradiesischen Anfang, dem ähnlich, den ich Ihnen beschrieben. Sonderbarerweise zeigt sich uns auf der andern Seite, wenn wir alle Orakel unsers Herzens, alle Deutungen des gegenwärtigen Zustandes der Dinge befragen, auch ein paradiesischer Zustand in der Zukunft zuletzt, da wo wir uns das Ende der Menschheit hindenken. Wir ahnden, daß sich alles getrennte, zerrissene, einst wieder treffen, ausgleichen und vereinigen müsse. – Wie unterscheiden sich wohl diese beiden Paradiese, das Vergangene und das Zukünftige? – das Paradies im Anfange scheint uns ein Werk der Natur; das zukünftige Paradies ein Werk unserer Kunst. Das Paradies im Anfange ein harmonisches Drama: der Geist der Natur, der Dichter des Drama: dagegen in dem Drama des zukünftigen Paradieses der Geist des Menschen, als der Dichter erscheint. So unterscheiden  sich die beiden Paradiese; hingegen gemeinschaft- <12:> lich ist in dem einem wie in dem andern der Gedanke des Friedens zwischen dem Menschen und der Natur.
Zwischen diesen beiden dramatischen Zuständen der Menschheit, liegt nun mitten inne ein weites Reich der Kriege des Menschen und der Natur: das alte Paradies verschwindet von Anfang bis heute und in die Zukunft mehr und mehr, und zu gleicher Zeit, von Anfang bis ans Ende erhebt sich das neue Paradies allmählich und immer sichtbarer. Zuerst in der alten Zeit tritt der Mensch durch seine Jugendkraft verführt monologisch aus dem Drama heraus, er hält sich für den Herrn des Lebens, für den Helden in der Geschichte, und so erheben sich die stolzen Republiken von Griechenland und Rom; dann eine Weltmonarchie über die andere, bis endlich alles in einen Coloß zusammen gefügt, als römisches Weltreich den Gipfel der übermüthigen Kunst erreicht, einstürzt und versinkt, und so endigt sich das große Lustspiel, welches wir nennen: Geschichte der alten Welt. – Der Mensch ist also nicht der monologische Held, der Despot in dem Weltdrama, die Natur nicht blos ein Spielwerk seiner Hand. Also ist vielleicht die Natur der Held; nieder im Staub vor ihrem unsichtbaren Geist, im Glauben, in Demuth, in Liebe, und so beginnt das große Trauerspiel: Geschichte der neuen Welt. Das unsichtbare allein soll herrschen, unsichtbaren Gesetzen wird gehuldigt, das zerbrechlichere, schwächere, den Einwirkungen der Natur mehr ausgesetzte, die Weiblichkeit, das Alter werden auf den Thron erhoben. Der Mensch ist Diener, Sclav der Natur, Beschützer ihrer Heiligthümer. So bilden sich die hierarchischen Verfassungen von Europa, denn nicht blos die Päpstliche, alle Verfassungen des Mittelalters waren hierarchischer Natur: ich verweise sie auf Shakespears Richard 2. Aber diesen Götzendienst verschmäht die Natur, und die unsichtbaren Weltreiche der neueren Welt werden von Menschenhänden verwüstet und zertrümmert, wie die Menschenwerke der alten Welt durch die Naturkräfte vernichtet wurden. Diese Tragödie: Geschichte der neuen Welt, existirt wirklich als geschriebenes Gedicht in ihrer wesentlichen Gestalt, und dies ist das von uns bereits von mehreren Seiten betrachtete Trauerspiel Shakespears: vom Untergange der Ritterzeit. Wer ist es denn also der herrscht? der Mensch nicht, dies beweist die alte, die Natur nicht, dies beweist die neue Geschichte: das stillste wie das unruhigste Herz in dieser Versammlung ist einmal und öfter schon unter ganz verschiedenen Gestalten von diesem Zweifel geängstet worden, dessen Lösung ich Ihnen als das höchste Geschäft der ganzen Menschheit dargestellt habe. – Meinungen, Grundsätze, Menschen, Helden, alten Glauben an bestimmte Institute, den wir mit der Muttermilch eingesogen haben – haben wir in Staub zertreten sehn: wem sollte nicht die Frage aufgestoßen sein: ist denn der Mensch nicht ein Spielwerk in den Händen einer unsichtbaren Naturkraft! – nichts sicheres ewiges, unverwüstliches kann er gründen.
Ferner: mit einem Übermuthe, dem selbst die alte Welt nichts ähnliches entgegen stellt, haben wir den Menschen wieder über die Natur herrschen, und alle ihre <13:> Erzeugnisse zu seinem eigensinnigen, despotischen Bau mißbrauchen sehn. Da mußten wir uns eben so natürlich wieder fragen: sind denn die heiligen Werke, die die Natur in Jahrtausenden bildete, nur Spielzeuge in der Hand des übermüthigen Menschen? – Kurz, wir alle haben bald das Schicksal, eine dunkle unbekannte Macht, und bald wieder die Willkühr herrschen sehn. – Der Gedanke eines unwiderstehlichen, unversöhnlichen, unvermeidlichen Schicksals, ist durchaus monologischer Natur: gefühllos gegen die dringendste Einrede unsers Herzens, gegen unsre Klagen, ja gegen unsre Thaten selbst waltet ein feindseliger Geist über unsere Wohnungen, dem erst unsere Werke, dann auch wir selbst unterliegen. Dieser Gedanke ist der beständige Begleiter des monologischen Schmerzes: eben so ist der dialogische Gedanke der Willkühr der beständige Begleiter aller einseitigen undramatischen Lust: daß nemlich der Dinge Wechsel, ihre Erscheinung und ihr Untergang von uns abhänge, daß die Natur, unser Sclav, unser Spielzeug sei. Zwischen diesen beiden Gedanken fieng die Menschheit zu schwanken an, da die erste paradiesische Unschuld verloren war. – Bald schien der Mensch das Schicksal zu spielen: bald wieder das Schicksal mit dem Menschen zu spielen.
So herrscht nun in der griechischen Tragödie der Gedanke des Schicksals, in der griechischen Komödie hingegen der Gedanke der Willkühr; freilich das eine und das andre gemildert durch die Kunst; beide religiös und nationell veredelt. Das Schicksal und die Willkühr errichteten bei den Griechen einen friedlichen, künstlerischen Verein, eine häusliche Verfassung, eine Art von Ehe. Beiden wurden ihre Rechte zugestanden, und jedes waltete für sich und doch als schönes Gegengewicht des andern. Die Vorzeit Griechenlands ward in den Kreis des Trauerspiels hineingezogen: alle hohen Wendungen des Schicksals bei der ersten Bildung der griechischen Staaten, wurden in den bedeutendsten Momenten ergriffen und auf die Bühne getragen. Eben so wurde das Außerordentlichste, was der Übermuth der griechischen Freistaaten in der Gegenwart vermochte, im schönen Rausche der Kunst an die Komödie angeschlossen: kurz, es ward dem Menschen mit seinen Rechten ein Tribunal eröffnet, vor dem er zeigen konnte, wie viel er durch seine Willkühr über die Natur vermag: die Komödie. – Ferner saß das Volk wieder zu Gericht, wenn in der Tragödie das Schicksal sich in seiner Macht über den Menschen geltend machte. Und so konnte der griechische Zuschauer, wie einfach und edel er selbst war, erkennen, an dergleichen Unbefangenheit und dem Kunstsinne, mit denen er hier das Schicksal im Hause der Atriden rasen, und dort die Götter, die Heroen, und die Weisen in der Komödie von dem Menschen Aristophanes wieder verspotten, freveln und in den Staub treten sah. Die Ideen des Schicksals und der Willkühr walten überall unsichtbar auf der griechischen Bühne: da nun alle Fragen, alle Zweifel, alles Wirken und Denken sich endlich auf diese Ideen beziehen, so ist schon von selbst die innerliche Erhabenheit, die Bedeutung, der religiöse und heilige Character der griechischen Bühne klar. – Gedenken Sie dagegen des eben so innerlich armseligen, bedeutungslosen, <14:> und recht unheiligen Characters unsrer heutigen Specktakel, die den sinnvollen Beobachter freilich auch erheben, aber auf eine ganz andere Weise, dadurch nemlich, daß sie ihm zeigen, ein einziger Gedanke, ein einziger Flügelschlag seines  Gemüths sei mehr werth, sei dramatischer, heiliger, als der ganze Plunder von Täuschungen, der ganze Aufwand von Künsten, der gemacht wird, um das allergemeinste, was die Nation hervorbringt, noch recht ans Licht zu stellen.
Den innerlich religiösen Character der griechischen Bühne, brauche ich also weiter nicht heraus zu heben: er leuchtet von selbst ein. Indeß muß auch in der äußeren Gestalt ganz etwas anders sich offenbaren; das antike Theater muß eine tempelähnliche Gestalt haben. Man trägt nur zu leicht die Vorstellungen von dramatischer Poesie und Theater, von unsern sehr verschieden organisirten Brettergerüsten auf die ganz andre und eigne Form der griechischen Bühne über, deshalb erlauben Sie mir eine flüchtige Vergleichung unsers Theaters mit dem griechischen. Die Eigenthümlichkeiten der Griechen sind freilich in Deutschland von der ihnen gewachsenen Kraft Göthes, Schillers und A. Wilh. Schlegels selbst auf die Bühne gebracht worden, aber sie haben doch beim Publikum noch zu wenig Eingang gefunden, als daß ihrer Wirkung nicht immer noch durch ruhige Untersuchung in die Hände gearbeitet werden müßte.

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