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Wilhelm Nienstädt, II. Von der didaktischen Poesie, 12-23; darin: 18-23

Jedoch verlassen wir dieses Ziel, und kehren wieder ein wenig zurück, wo zugleich die Wichtigkeit der letztern Bemerkung desto heller hervorleuchten soll. Es wurde nemlich vorhin gezeigt, wie die wahre Philosophie selbst unter uns, bei so durchsichtigem Wesen und hoher Reinigkeit – und wie vielmehr dann zu andern Zeiten – dem Individuellen sich nähere und auf die Gegenwart hinstrebe, welches hauptsächlich daraus hervorgeht, daß sie, auch bei noch so geistiger Natur, immer das Gepräge von dem unbegreiflichen Gesetz, welches die Zeiten hervorruft, und welches wir, doch in der höchsten Bedeutung, Zeit- oder Geschichts-Geist nennen, gegen unser eignes Wissen an sich hat; so daß der Denker, wenn er glaubt, das Werk der Freiheit vollendet zu haben, fortwährend an dem eignen Innern, als der Spitze von allen, inne gehalten wird, und sich neu und tiefer verstrickt, aus welcher Verstrickung ihn nur die Macht der Gefühle oder die Allgewalt der göttlichen Phantasie, wiewohl nimmer als vollendeten Sieger emporträgt. In jene erste und ursprüngliche Berührung nun der Philosophie mit der Poesie, als die nur Individualität zu erzeugen sucht, setzen wir das Wesen der didaktischen Kunst, oder, wenn man recht es deutet, des Lehrgedichts, als der sich individuell gestaltenden Philosophie. An den Worten selbst wollen wir jenes Wesen erläutern, indem wir zuförderst handeln von dem didaktischen, dann von dem poetischen und endlich insbesondre von dem lyrischen in demselben.
Das didaktische, welches wir einen Augenblick in der Trennung vom organischen der Gattung, als einzelnen Bestandtheil setzen wollen, ist dasjenige, was am meisten der Philosophie angehört. Denn jede Individualisirung des Göttlichen, jede <19:> Erweckung der vom Endlichen umfangenen Vernunft, für die unendliche Ausrüstung, diese, so viel immer möglich, in sich, doch in den Gränzen der Eigenthümlichkeit, vollendet darzustellen, ist Didaxis, Lehre im ungetrübten Sinne. Soll das Gesetz des unendlichen individuellen Innern dem Gesetz der Totalität des Innern, welche wir Menschheit zu nennen pflegen, von der die Geschichte zeugt, gleich gesetzt werden, so entsteht Erziehung, die unserer Tage immermehr als die höchste Aufgabe im Leben aufgestellt zu werden anfängt. Dem Leben aber soll die Kunst jederzeit gleich gehen. Obgleich sich nun die Erziehung immerfort weigert, ein reines Produkt der Freiheit zu werden, so ist dieß doch minder der Fall mit der Lehre: allein auch sie hat es mit einem unergründlichen und unwandelbaren Individuellen zu schaffen, und berührt schon deshalb unvermerkt das Gebiet der Poesie, noch mehr aber, weil sie strebt, die Zukunft zu gestalten. Wegen des letztern wurden auch alle Lehrdichter der Vorwelt mit Recht Propheten genannt, und alle begeisterte Weisen unserer Zeit, und auch die, vielleicht von hoher Religiosität getrieben, mit deren eigenthümlichen Wesen sich eine übermächtige Fülle des Unendlichen verband, sind und waren, oft unbewußt, Lehrdichter. Von diesem Unbewußten aber, und was wir im Bewußtsein der Freiheit vermögen, späterhin. Weit entfernt indeß, daß der Lehrdichter nur andre lehre, lehrt er vielmehr sich selbst, indem er öffentlich sein Innres entfaltet, die eigne Harmonie nach dem Muster der unvergänglichen anstimmt, tiefer und tiefer aufregt, und sich vor dem Volke ins unendliche erzeugt nach dem Grundgesetz, das in allen lebendig wacht. Andre lehrt er nur, indem sein Werk sie ermuntert, dasselbe auch an sich zu vollbringen. So wie die obengenannten falsch Philosophirenden unbewußt Poeten waren, so ist er es als der richtig Philosophirende im Vorgefühl der Freiheit, schon deshalb, weil er nie verschmäht zu individualisiren, und dem, was er im innersten Heiligthum erschaut, menschlich lebendigen Hauch einzuflößen.
Wie nun aber alle frühere Philosophie aus verschiedenen Gründen, sowohl im Alterthum als der neuen Zeit die didaktische Poesie streifte, dort vornehmlich, weil sich in Allem die Fülle menschlicher Natur offenbarte, hier, weil der Mensch von sich aus das Unendliche erobern zu wollen glaubte: mag es, bei so bestimmter Klarheit und Geschiedenheit, als ihr nunmehr zu Theil geworden, immer noch bedenklich scheinen, wie sie so innigem Verein sich fügen könne mit dem Lyrischen. Dies aber darzuthun ist schon deswegen höchst belohnend, weil desto deutlicher auf eine Vermittelung zwischen Philosophie und Poesie überhaupt hingewiesen werden kann, je genügender dargethan ist, wie innig jene diese selbst in dem durchdringe, was wir gleich anfangs als ihren entferntesten Endpunkt dargestellt haben. Die Gründe dafür müssen um so leichter Eingang finden, da sie schon durch so vieles bereits gesagte vorbereitet, ja einem Theile nach hinlänglich entwickelt sind. In der letztern Rücksicht werden sie hier der Kürze halben übergangen und allein noch einmal daran erinnert, wie wir oben die nahe Verwandtschaft der Philosophie mit aller Poesie zeig- <20:> ten. Immer aber liegt der letztern das Lyrische zum Grunde, wie ein das Ganze durchströmender Accord, denn alle Darstellung derselben entsprang aus dem Innern der Empfindung und was auch immer dargestellt werden mag, so ist dieß der Freiheit des Dichters unterworfen, die er in gleichem Grade bei dem Empfangenden erwecken will: unbedingt frei aber ist der Lyriker. Gleichwie demnach die Philosophie das Reich der Wissenschaften hervorruft, die sie beseelt, deren jede aber zur Basis eine Wirklichkeit, ein Endliches hat, dabei aber stets ihre unendliche Natur bewahrt, eben so durchdringt das Lyrische eine Reihe von Dichtungsarten, mehr oder weniger auf dem Wirklichen, welches man auch die prosaische Basis nennen kann, erbaut, behauptet jedoch nichts desto weniger sein flüchtiges, unergreifbares Wesen. Jenes Wirklichen, Endlichen wegen gesellt sich auch keine Form so leicht mit der Wissenschaft des Unendlichen als die Lyrische. Diejenige Gattung der Poesie, welche die äußere Natur am deutlichsten im Einwirken auf die unendliche Empfindung darstellt, und wo das Lyrische sich am engsten verschlingt mit dem Wirklichen, ist die dramatische; das Band aber, welches dieß bewerkstelligt, der Dialog; eben so muß sich auch in den Gesetzen der Behandlung der didaktischen Form das Band späterhin finden, welches zur Verknüpfung der innern, ewigen Natur – im Gegensatz jener äußern – mit dem individuellen Innern erforderlich ist. Jemehr indeß der Dichter sich von der äußern Wirklichkeit entfernt und nach innen sich kehrt, desto gereinigter und geweihter darf die Basis sein, über der er seine Empfindungen laut werden läßt. Ein neuer Grund ist noch in dem Bestreben der lyrischen Poesie enthalten, die unermeßliche Verschiedenheit der Dinge zu tilgen und aufzulösen, unter der Gewalt des mächtig erregten Innern, welches er nur allein erkennt und wohin er Alles, gleichwie in einen unbändigen Strom, hinanzieht, weshalb er einem Jeden selbst das Fremdeste kühn gesellt und beimischt. Eben diese Einheit des Gesammten sucht auch die Philosophie hervorzubringen, und wie sie so der lyrischen Poesie entgegen kommt, so vermählen sie sich durch die reinste, erhabenste Begeisterung, diese über dem Anschaun des errungenen Ziels, jene über der Eröffnung der innern Tiefen des Gemüths. Wenn man ferner – welches sehr wohl erlaubt ist – die verschiedenen Epochen der Philosophie mit den einzelnen Dichtungsarten vergleicht (indem überall Einheit und Verwandtschaft herrscht) könnte man die früheste Philosophie die Epische, die neueste hingegen die Lyrische nennen, oder doch einen solchen Character derselben zugestehn. Man darf auch dem Lyriker keinesweges vorwerfen, daß er der begränzteste sei, daß er unter allen die engsten Schranken seinem Geschäft gesetzt; vielmehr werden es uns diejenigen, die sich der stillen Selbstbeschauung geweiht, bezeugen, daß Niemand weder die Höhe noch die Tiefe, noch die Ausdehnung des eignen Innern, mißt, daß vielmehr dort Alles wohne, was die Meisten erst hinein zu tragen wähnen. Weshalb man auch wohl sagt, daß die Poesie, die das Innre darstellt, die freiste und ungebundenste sei, obgleich man auch wiederum sagen könnte, daß sie überall Schranken habe; ist dem aber nicht so, und ist die Urwissenschaft allein geschlossen und gebunden: so müssen auch in der Vereinigung <21:> beide, Nothwendigkeit und Freiheit, eins werden. Von dem aber, daß der Philosoph des Individuellen sich nicht entrathen könne, ist schon oben gehandelt.
Kann der Philosoph indeß nur das Individuelle erklären, und sucht vielmehr der Dichter es zu ergründen, so müssen sich beide ergänzen und erst ein Zusammen, ein vollendetes Schaffen, und hierin die Grund-Strebungen des menschlichen Geistes, wie die Sprache, sein Abbild, durch die Metapher, Stetigkeit und Einheit erhalten. Wir fühlen indeß gar wohl, daß durch alles dieses der Begriff der didaktischen Poesie noch nicht gehörig entwickelt, geschweige völlig bestimmt worden sei; denn erst im Verfolge dieser Untersuchungen soll sich dieselbe immer mehr vor unsern Augen individualisiren, daher wir auch über das, was die Gesetze derselben betrifft, Manches an einen bequemern Platz des zweiten Theils verweisen werden. Es könnte nun Manches, was bisher von dem didaktischen Gedicht gesagt worden, füglich auch auf das Lyrische angewandt werden. Von diesem unterscheidet es sich aber schon durch sein Streben nach Totalität, welches es von der Wissenschaft überkommen hat, jedoch nicht in der Art, daß es, wie jene, kunstgemäß die Begriffe entwickeln, abschränken und richten sollte: es erfaßt vielmehr das Ganze aus dem erfüllten Gemüth, und wird empor getragen von demselben. Daher wird es dieser Gattung auch immer anheim gestellt bleiben, wie sie die Totalität organisch gestalte; wenn nur überall Einheit der Behandlung und ungestörte Harmonie zwischen dem darstellenden und dem dargestellten herrscht. Denn wie im Drama das Lyrische eine objektive Richtung gewinnt, ist im didaktischen subjektives und objektives im Bunde, und eins durch das andre: die Wahrheit gilt dem Dichter über Alles, aber, indem ihr ungetrübter Glanz an seinem Innern sich bricht, will er sie als Schönheit, gleich dem ächten Künstler, darstellen, keine jedoch soll von der andern verdunkelt werden. Wegen des Lyrischen ist ihm auch sinnliche Gestaltung, sei sie nun beschreibender, oder vergleichender oder mythischer Natur, erlaubt, denn der Lyriker sucht gern nach außen hin das Gegenbild seiner Empfindungen auf, und schafft Tropen, ja er bedient sich sogar der reinen Darstellung in Erzählung, in Bildern und Gesichten, worein es ihm gerade am schicklichsten dünkte, sein eigenthümliches Gefühl auszuprägen, so daß dieses gleichsam die Seele jenes Leibes wird. Nur weil er in jener Gattung auch nie das Unsinnliche, das ewig Wahre aus den Augen verlieren darf, und sein Innres von demselben gestimmt und geordnet bleiben soll, kann er kein plastisches Gesetz befolgen, nach stetigen Umrissen und abgeschlossenen Formen trachten, und obgleich dies den didaktischen Dichtern der Vorzeit oftmals wiederfahren ist, so wird sich der Grund davon und wiefern uns das nicht verführen darf, späterhin ergeben. In der Berührung nun des heiligen Ernstes der Philosophie mit der aufgeregten Empfindung erzeugt sich, was die äußre Behandlung betrifft, die erhabne Ruhe, die über dem Ganzen, wenn auch nicht über dem Einzelnen waltet, das Rednerische, wie dort im Drama das Dialogische. Eine bestimmte äußere Form wagen wir nicht zu gebieten, eben weil dieß dem Innern des Dichters selbst obliegt, der sich überall in die Mitte <22:> der Darstellung setzt, und nie sein Individuelles vor dem Unendlichen verleugnet; vielmehr je nachdem er dieses erblickt, wird er die Töne in sich lauter hervorrufen und dämpfen. Im Ganzen dürfte diejenige Form am zweckmäßigsten sein, die, ihrem Ganzen nach organisch vollendet nicht bloß, sondern auch durch kunstreiche Schranken gefügt, im Einzelnen aber unendlicher Abstufung und Mannichfaltigkeit empfänglich wäre. Es befänden sich dann auch, wie (nach dem folgenden) im didaktischen Gedicht, die besondern Gattungen der Poesie, so auch in der äußern Form die verschiedenen einzelnen Formen dieser Gattungen, gleichsam versteckt und eingewickelt; die Ordnung indeß, welche das Ganze beherrscht, deutete an, daß das Streben des Gedichts darauf ginge, das bewegte Gemüth zu sättigen und zu dämpfen, die Empfindung abzumessen nach dem Maaßstab des Unendlichen, und das Innre zu umkreisen; wie dagegen das rein-lyrische uns immer selbst am Schluß noch eine unabsehbare Tiefe dahinten ahnen läßt, und seine Wirkung auf uns erst recht beginnt, wenn sein eigner Ton verhallt.
Noch Etliches von dem Verhältniß dieser Gattung zur Allegorie versparen wir für den dritten Theil. Daß sie übrigens nichts mit den bloß darstellenden Gedichten gemein habe, erhellt schon daraus, daß diese immer bedingt sind durch das Dargestellte, sei es ein Äußeres oder Inneres, dem der Dichter sich fügt; hier ist ein Nothwendiges, dem er seine Freiheit anzupassen sucht, dort ein Produkt der Freiheit mit einem schlechthin freien im Bunde. Es verdienten aber vor allen viele Gegenstände aus dem Gebiete der Religion didaktisch behandelt zu werden, indem das Meiste, welches wir der Art besitzen, lyrischer Natur ist, und dennoch das Lyrische wohl nirgend leichter den Bund eingeht mit einer weltumfassenden Idee, als gerade hier – dasselbe gilt auch von den geheimnißvollen Erscheinungen im Leben, wie von den Offenbarungen des Weltgeists in der Natur und Geschichte, jedoch allezeit nur solchem, dessen Wahrheit unvergänglich ist, und über der Antastung schnöder Zeiten hinaus besteht. Das aber bedarf kaum der Erwähnung, und dazu haben wir von der didaktischen Poesie einen zu hohen Begriff aufgestellt, daß wir keinesweges solche Werke in seinem Gebiet länger gestatten, als wohl oftmals dahin gerechnet sind. Besonders haben die Engländer uns mit solchen Lehrgedichten versehen, die, wie sie denn einen reinlichen Putz über alles lieben, und auch das rauheste und selbst was an das gemeinste Bedürfniß erinnert, geglättet und von sauberm Anstrich oder kostbaren Stoff sich wünschen, auch die dürresten Gegenstände, wie sanctionirte Systeme und das Handwerk sogar, wie in ihren Gärten die Natur, durch die rednerische Pracht der Dichtkunst haben schmücken und verschönern wollen. Eben so die Franzosen im Trachten nach Eleganz, und wir im jugendlichen Aufflug der Sprache, da Prunk im Ausdruck und ein kräftiger Ton übermäßig hochgeschätzt ward, haben diesen Zweig mit Früchten bereichert. Jetzt aber, da die vergängliche Form, das an sich Reelle uns immer weniger genügt, und wir in Allem nur ein ewiges Gesetz verehren, hingegen das Vorübergehende uns nicht mehr dergestalt anlockt, <23:> daß wir es ausschließlich durch den Glanz der Kunst verherrlichten; können wir jene Werke nur den vorhin erwähnten darstellenden beizählen.

(Die Fortsetzung folgt.)

Nienstädt.

 

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