Paul
Lindau, Über die letzten Lebenstage
H. v. Kleists und seiner Freundin, in: Die Gegenwart 4 (1873), Nr.
31-34, 69-72, 87-90, 101-103, 117-119; darin: Nr. 31, 69f.
Peguilhen-Material über Kleist
Das hauptsächliche, fast das gesammte Material, welches Peguilhen
zu der beanstandeten Schrift gesammelt hatte, ist sorgfältig aufbewahrt und durch den
jetzigen Besitzer dieser werthvollen Documente, einen Freund der Gegenwart,
dem Herausgeber dieser Blätter zur Sichtung und Bearbeitung mit nicht genug
anzuerkennender Bereitwilligkeit zur Verfügung gestellt worden.
Auf diese Weise ist es uns gegönnt, das Unrecht, welches die
kurzsichtige Mitwelt durch das Präventivverbot der Peguilhenschen Schrift an der
Literatur begangen hat, wieder gut zu machen, zu den <70:> lückenhaften Angaben
über das Ende des Dichters und seiner Todesgefährtin einige bemerkenswerte
thatsächliche Ergänzungen hinzuzufügen und zu den verdienstvollen Veröffentlichungen
von Bülow, Koberstein\1\ und Adolf Wilbrandt\2\ einen sachlich nicht unwesentlichen Nachtrag geben
zu können.
Ganz im Gegensatz zu Peguilhen, der durch sein intimes
Freundschaftsverhältniß zu Frau Vogel und seine persönliche Verehrung für Kleist,
seine Aufgabe naturgemäß als eine subjective auffassen mußte, der mit seiner Schrift
den Todten die letzte Ehre, die ihnen kirchlich versagt war, wenigstens literarisch
erweisen, eine Apologie der Verewigten, eine Polemik gegen Schmäher schreiben wollte,
wird uns die größte Objectivität bei der Veröffentlichung zur Pflicht. Wenn es unsrer
Darstellung an der Wärme fehlt, mit welcher der tiefergriffene Freund Henriettens seine
Schilderung durchglüht haben würde, so wird sie dafür um so wahrer sein und sich keine
jener leicht begreiflichen Entstellungen zu Schulden kommen lassen, welche wie
wir aus den Fragmenten Peguilhens ersehen sich wider Willen in die
Vertheidigungsschrift des enthusiastischen Freundes eingeschlichen haben würden. Mehr
denn sechs Jahrzehnte trennen uns von dem Todestage der Unglücklichen. Unser Urtheil wird
durch persönliche Einflüsse nicht mehr verwirrt. Wir sind ruhig genug geworden, um die
Thatsachen reden zu lassen.
Das Material zu der beanstandeten Peguilhenschen Schrift, von
welchem in den uns bekannten, auf Kleist bezüglichen Werken noch nicht eine Zeile
veröffentlicht worden ist, läßt sich in folgenden Rubiken ordnen:
I. Kleists Briefe an seine Cousine Marie, sämmtlich wenige
Tage vor seinem Tode geschrieben. Dieselben bilden den interessantesten Theil der
Peguilhenschen Sammlung und behandeln eingehend Kleists Verhältniß zu seiner
Schwester Ulrike, zu seiner Cousine Marie und zu Henrietten; sie ergänzen und bestätigen
in vielen wichtigen Punkten die Angaben der früheren Biographen über die Motive, welche
Kleist zum Selbstmord getrieben haben.
II. Mittheilungen über Adolfine Henriette Vogel.
III. Die letzten Anordnungen Kleists und
Henriettens &c.; Briefe von diesen, wie von den Geschwistern Kleists an Peguilhen,
Mahnbriefe von Gläubigern.
IV. Actenstücke bezüglich des Verbots der Peguilhenschen
Schrift über Kleist und Henriette.
In dieser Anordnung lassen wir die bezüglichen Briefe
&c. mit Beibehaltung der orthographischen Absonderlichkeiten
hier folgen.
\1\ Heinrich von Kleists Briefe an seine Schwester
Ulrike. Von A. Koberstein. Berlin 1860, E. H. Schröder.
\2\ Heinrich von Kleist. Von Adolf Wilbrandt.
Nördlingen 1863, Beck.
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