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Wolfgang Goetz, Schutthaufen Kleist, in: Deutsche Zukunft, 30. 6. 1934

Georg Minde-Pouet

Auf einem Abend der Berliner Germanisten Kneipe sprach der unermüdliche Georg Minde-Pouet über neue Kleistfunde, sprach volle zwei Stunden, und welcher Art diese Mitteilungen waren, beweist die Tatsache, daß die Hörer sehr bedauerten, nicht noch mehr zu vernehmen. Dabei war der Vortrag nicht sauber paragraphiert, es war ein, freilich sehr gründliches, Geplauder.
Will man den reichen und bunten Inhalt dieses Berichts auf eine Formel bringen, so wäre zu sagen: hier wurde angeklagt. Angeklagt wurde die unbeschreibliche, die himmelschreiende Trägheit, mit der das Andenken Kleists behandelt wird. Minde-Pouet sagte klipp und klar: wir wissen ganz genau, hier, da und dort liegen wichtigste Dokumente, aber man läßt uns nicht darankommen. Wohl gibt es köstliche Ausnahmen; so die achtzigjährige Dame aus Greifswald, die nach Berlin fuhr, um Minde-Pouet in Kenntnis zu setzen von dem bis dahin völlig unbekannten Bildnis des Freundes und Würzburger Reisekameraden Brockes. Da sie in der Reichshauptstadt den Gesuchten nicht fand, fuhr sie weiter nach München. So jener Fabrikbesitzer im Sächsischen, der unter altem Makulaturpapier einen zweiten Brief Kleists an Iffland fand, sich seines Schatzes freute, bis schließlich die Forschung von diesem Fund erfuhr; obwohl nun das Herz des  Fabrikbesitzers just an der Heimlichkeit seines Besitzes große Freude hatte, stellte er bereitwillig das Schriftstück zur Verfügung. Rühmlichst ist auch der Dichter Stephan Zweig zu nennen. In der Handschrift des Zerbrochenen Krugs, waren die später verworfenen Verse: „Hier in der Mitte mit der heilgen Mütze hielt er den Hirtenstab und hinter ihm sah man den ganzen Klerus prangen“, von Kleist mit Siegellack angeklebt worden. Der Siegellack war noch da, aber die Verse waren, nachdem ältere Forscher, wie Brahm und Zolling, sie noch benutzt haben, plötzlich verschwunden. Ein sonderbarer Liebhaber hatte sich unzweifelhaft ihrer angenommen. Im Jubiläumsjahr 1927 tauchten denn die Verse auch in einem Antiquariatskatalog auf. Dort erwarb sie Zweig. Da nun der frühere Besitzer sein älteres Recht betonte, – die Sache war unterdes ganz unnötigerweise verjährt – und Zweig die Kaufsumme anbot, schenkte der Dichter das wunderschöne Stück dem früheren Besitzer, ohne Entgelt zu nehmen. Was es für einen Autographensammler bedeutet, sich eine solche Kostbarkeit wieder vom Herzen zu reißen, vermag nur zu ermessen, wer selbst Handschriften sammelt.
Aber das sind, wie gesagt, leider nur schöne und um so seltenere Ausnahmen. So wissen wir vom Nachlaß eines der besten Freunde Kleists. Es kann, so führte Minde-Pouet aus, gar keinem Zweifel unterliegen, daß hier eine große Anzahl allerwichtigster Kleistbriefe verborgen ist. Wir kennen nur drei, deren Inhalt dazu noch ganz abseitig ist, und es bedarf keiner gelehrten Spitzfindigkeit, um zu vermuten, daß zwei intime Freunde sich nicht nur über einen ausgefallenen Gegenstand unterhalten haben. Dort liegt auch die Selbstbiographie des Mannes, der mit Kleist die Reise nach Österreich unternahm; die Dunkelheit, die bisher über dem Zweck dieser Fahrt lagerte, lichtet sich jetzt: es ist mit ziemlicher Gewißheit anzunehmen, daß er in geheimer diplomatischer Mission reiste. Hier ist eine Fundgrube allerersten Ranges, deren heraufgeförderte Schätze viele weiße Flecken auf der Landkarte des Kleistschen Lebens verschwinden lassen würden. Aber all dies liegt brach. So ungern wir verzichten, wir könnten ja noch ein paar Jährchen warten, allein es besteht die Gefahr, daß unverständige Erben eines Tages den ganzen Schatz als Altpapier veräußern oder gar verbrennen.
Ob die Leute recht haben, die Kleist einen Romantiker nennen, sei hier nicht untersucht. Sicher ist nur, daß es um seine Dokumente tragisch und ironisch, also romantisch grimmassiert. Die Eltern jener vortrefflichen Greifswalderin besaßen auch den Nachlaß von Brockes, der wertvollstes Material enthalten haben muß. Ein guter Freund nahm sich seiner an. Und verschwand. Minde-Pouet hat nach großen, abenteuerlichen Mühen den Wackeren festgestellt. Aber er läßt sich nicht sprechen.
Man muß erwägen, ob der neue Staat nicht sich Rechtshandhaben schnitzen soll, derartige Leute zur Veröffentlichung ihres Besitzes, der ja ideell dem ganzen Volke gehört, zu zwingen, ohne daß die materiellen Belange dieser Menschen unbillig gefährdet werden.
Und so geht es fort, hinab zu jener österreichischen Durchlaucht, die genug für die Wissenschaft getan zu haben glaubt, wenn sie den Kleistbrief in ihrem Besitz vor Jahren einmal jemandem gezeigt hat und hartnäckig-schlampert die Veröffentlichung verweigert. Und was ist der Grund? Vermutlich das liebe Geld, das mächtiger ist als das Gefühl, mit dem Vorspann Kleist in die Unsterblichkeit zu kutschieren. Für die in übertragenem Sinne gewiß unbezahlbaren Papiere wird ein sinnloser Preis gefordert. Großzügige Angebote, die weit über dem üblichen Katalogwert liegen, werden abgelehnt. Der Blick schweift sehnsüchtig ins Ausland, das nun aber – und wir sagen in diesem Falle: Gott sei Dank – für Deutschlands größten Dramatiker herzlich wenig übrig hat.
Es wäre auch sonst noch vielerlei zu berichten, wie von einem Brief an die Braut Wilhelmine, dessen letzter Abschnitt vernichtet ist. Man soll nie abschneiden oder auslassen, denn der betrübte Nachfahre in seiner Erbitterung ergänzt meist viel Schlimmeres als ehedem da gestanden hat. (Vgl. die Verbrennung der anderthalb hundert Goethebriefe durch Brions.) Auch wäre die seltsame Rolle Tiecks zu erwähnen, der Kleist nur ganz oberflächlich gekannt hat, aber kühn die Einleitung zu seiner Kleistausgabe von Wilhelm von Schütz abschreibt. Oder die neue und sehr wichtige Lesart des berühmten Wortes über die Penthesilea, die nicht, wie wir früher lasen, den ganzen Schmerz, sondern den ganzen Schmutz der Kleistischen Seele enthält. So das neue Rätsel, das uns aus einem Brief an den Buchhändler Sander entgegenblinzelt. Kleist fordert Honorar für ein Werk, wir wissen nur nicht welches. Sollte hier noch eine Dichtung, wie der Roman, verlorengegangensein?
Kurz, man kann nicht sagen, daß die Ausführungen Minde-Pouets geignet waren, zu entzücken. Wir Deutschen sind mit Recht stolz auf unsere Genies; wir tun nur herzlich wenig, ihr Andenken lebendig zu halten. Du sollst aber nicht töten, sondern lebendig machen, womit denn die Heldenverehrung am knappsten umschrieben ist. Weniger Bronze, mehr Taten!
Damit diese Zeilen nicht völlig in Moll verklingen, sei mit der höchst erfreulichen Nachricht geschlossen, daß die große Kleistausgabe, die Minde-Pouet nach dem Hingang seiner Mitarbeiter Erich Schmidt und Reinhold Steig allein verwaltet, in großzügiger Weise vom Bibliographischen Institut um drei Bände vermehrt werden soll. Der gelehrte Apparat wird zusammengefaßt, der Satz vergrößert, so daß also auch das Auge des Bücherliebhabers mit besonderem Wohlgefallen auf diesen Blättern ruhen wird, das bisher über Zeilenzählung und Anmerkungen stolperte und gar über viele Seiten hüpfen mußte, um einen Kommentar zu finden. Auch schweben noch Erwägungen, der Ausgabe eines Bilderatlas anzugliedern. Es braucht nicht gesagt zu werden, mit welchem Jubelgeschrei dieser Sonderband von uns begrüßt werden würde. Aber auch ohne so überreiche Gabe: hier ist schönste Verantwortlichkeit. Diese Tat – wir dürfen das Unternehmen so bezeichnen – wird hoffentlich die Trägen und Geizigen kräftig aufrütteln. Das wäre der reichste Lohn, der dem Entschluß des Bibliographischen Instituts werden kann.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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