Zeitung für
die elegante Welt, 10. 10. 1811, Nr. 202. Sp. 1609-1611
Erzählungen II
- Literatur.
- Erzählungen.
VonHeinrich von Kleist. Zweiter
Theil. Berlin, 1811.
Der ungemeine Beifall,
welchen der erste Theil dieser Erzählungen gefunden, ist
ein sehr erfreulicher Beweis von der Empfänglichkeit der
Lesewelt für das Vortrefliche , und von ihrer Bildungsfähigkeit,
an welche Viele, weil sie nur auf das Schlechte und Mittelmäßige
sehen, das in jeder Messe erscheint, keinen rechten Glauben
haben. Es ist gewiß, daß dieses Schlechte und Alltägliche
gleichfalls nicht wenig gelesen wird; man hält sich aber,
weil das Bedürfniß des Lesens nun einmal, gleichsam als
ein Ersatz für das minder reiche und selbstständige Leben
unserer Zeit, allgemein gefühlt wird, an solche werthlose
Produkte blos deshalb, weil man eben keine bessern hat;
man nimmt mit ihnen vorlieb, wie man überhaupt mit nur zu
vielem Gewöhnlichen im täglichen Laufe des Lebens vorlieb
nehmen muß. Darum ist aber der Sinn für das Bessere und
wahrhaft Schöne keinesweges erstorben, höchstens wird er
nur mehr oder weniger durch den nothgedrungenen Genuß des
Kraft- und Leblosen abgestumpft. Würde nur viel Gutes und
Trefliches dargeboten, die Allerwenigsten möchten dann nach
dem Verwerflichen und Gemeinen noch greifen, von dem sie
eben nichts zu sagen wissen, als daß es doch immer besser
wie gar nichts sey, dahingegen das Vorzügliche all ihre
Lebenskraft aufregt und in Schwung setzt, daß sie gleichsam
staunen über das dunkele Gefühl, welch eine Fülle von Kräften,
guten und bösen, in der Brust des Menschen wohnt.
Dieser zweite Theil nun darf sich fast gleichen
Beifall versprechen, und wir können auch an ihm im Ganzen
alles das Gute rühmen, was wir im vorigen Jahrgange Nummer
235. von dem ersten gesagt haben. Auch hier zeigt der
Verfasser sein außerordentliches Talent in der Kunst, die
innersten verborgensten Gefühle darzulegen, den Stufengang
der Leidenschaften mit einer ergreifenden tiefwirkenden
Kraft abzuschildern und die besondern Gemüthslagen so anschaulich
zu vergegenwärtigen und so lebendig vor den innern Sinn
hinzuzaubern, daß der Leser an die Dichtung, wie an eine
wirkliche Erscheinung, zu glauben sich gezwungen fühlt.
Vornämlich ist dies der Fall bei der ersten Erzählung:die Verlobung in St. Domingo, und ganz
insbesondere in der Hauptszene, wo geschildert wird, wie
die Allgewalt der Liebe allen Trug und Lug eines mißleiteten
Mädchenherzens durchbricht, und die edle Natur aus ihrer
Unterdrückung zum höchsten Gipfel der Freiheit hinaufhebt.
Diese Szene ist in jeder Hinsicht meisterhaft, und bei aller
Außerordentlichkeit, mit einer so überzeugenden Wahrheit,
mit einer solchen individuellen Anschaulichkeit dargestellt,
daß sie zugleich wie ein lebensvolles Gemälde und wie ein
ewig wahrer Gedanke wirkt. Man wird dabei an Göthes Bajadere
von fern erinnert, doch so, daß die Vergleichung den Genuß
nicht stört; denn hier wie dort vermißt man nichts. Den
Ausgang dieser Geschichte möchte man weniger entsetzlich
wünschen; er ist fast zu gräßlich, um ein wahrhaft tragisches
Gefühl zu erwecken; in der schnellen Vernichtung beider
Liebenden liegt jedoch etwas Milderndes. Überhaupt
ist es etwas auffallend, daß die sämmtlichen Erzählungen
ins Gräßliche gehen, und ein überwiegender Hang zum Düstern
und Schauderhaften ist an der Wahl des Stoffs wie an der
Behandlung nicht zu verkennen.
Das Bettelweib von Locarno ist eine schauerliche
Gespenstergeschichte, treflich und ganz in dem eigenthümlichen
Tone vorgetragen, der einem solchen Stoffe zukommt. Von
jener erkünstelten Zusammenhäufung gespenstlicher Apparate
und von jener alle Wirkung wieder aufhebenden, inconsequenten
Ungläubigkeit, die den Aberglauben zu befördern fürchtet,
und in manchen beliebten und bekannten Gespenstergeschichten
sich so possierlich ausnimmt, ist hier nicht die geringste
Spur. Die Sage ist schlicht erzählt, und gibt sich wie ein
räthselhaftes Faktum, das man dahin gestellt seyn läßt.
ImFindling ist ein höchst
düstres, grausenhaftes Gemälde wilder Leidenschaft und teuflischer
Bosheit aufgestellt. Theilweise thut es große Wirkung, die
auch das Ganze machen würde, wenn nicht ein Hauptumstand,
die täuschende Ähnlichkeit des Bösewichts mit dem Retter
seiner Pflegemutter, etwas zu viel Glauben verlangte.
Der Zweikampf ist eine Rittergeschichte,
wie es deren mehrere gibt: der Vortrag ist hier etwas schwerfällig
und gezwungen. Noch mehr ist dies der Fall in der Legende:
die heilige Cäcilie, oder die Gewalt der Musik,
wo uns der wahre Ton überhaupt nicht getroffen scheint.
Beifall]vgl.
die Kritiken >> Zeitung
für die elegante Welt, 24. 11. 1810, Nr. 235,
Sp. 1865-1869
>> Morgenblatt
für gebildete Stände, 28. 12. 1810, Nr. 311,
(Anhang:) Nr. 22. Übersicht der neuesten Literatur.
1810 (Darin 88: Schöne Redekünste.) 88
Nummer 235.]
cf. >> Zeitung für die elegante Welt, 24. 11. 1810,
Nr. 235, Sp. 1865-1869
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