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Zeitung für die elegante Welt, 24. 11. 1810, Nr. 235, Sp. 1865-1869

Erzählungen I

Schöne Literatur.
Erzählungen. Von Heinrich von Kleist. Berlin in der Realschulbuchhandlung 1810.
Es hat sich unter unsern gewöhnlichen Kritikern die Meinung festgesetzt, und einer sagt sie, wie es zu gehen pflegt, getrost dem andern nach, im Fache der Erzählungen ständen wir unsern westlichen Nachbaren noch gar sehr nach, und in diesem Felde der schönen Literatur möchten wir wohl immer hinter ihnen zurückbleiben, weil sie als eine ganz in der Gesellschaft lebende und für sie gebildete, beständig konversirende Nation, da gleichsam von Hause aus schon einheimisch wären, wohin wir erst durch Kunst uns versetzen müßten. Man kann nun zwar nicht läugnen, daß in einer gewissen Art des Erzählens die Franzosen Meister sind, in jener konversationsmäßigen Manier nämlich, die rasch und flüchtig forteilend, mit behender Leichtigkeit selbst das Wesentliche nur berührend, und mit den fixirten konventionellen Redensarten und Worten von weitem Anspielungen und Doppelsinnigkeiten herbeiführenden Umrissen witzig spielend, ein Abbild ist von ihrer besondern nationellen Bildung. Ist denn aber diese eigenthümliche Manier schlechthin die allerbeste, die allein nachahmenswerthe? und wenn kein Deutscher im Stande seyn sollte, in ihr es zur Meisterschaft zu bringen, folgt daraus, daß wir Deutschen in der Kunst des Erzählens nichts Vorzügliches leisten können? Sind wir denn nicht berechtigt, auch hierin unsere eigene Manier zu haben, die man uns doch in anderen Gattungen der redenden Künste nicht mehr abspricht, seitdem uns Lessing und andere literarische Reformatoren von der Sklaverei befreit haben, in welcher wir sonst unter französischen Kunstregeln uns gefangen sahen? Ist denn etwa die Art und Weise, wie die Italiäner und die Spanier erzählen, schlechthin zu verwerfen, weil sie dem französichen Kanon nicht gemäß sind? – Es wäre lächerlich, solche sich selbst beantwortende Fragen ernsthaft beantworten zu wollen, und sie stehen nur hier, um auf die Grundlosigkeit jenes Vorurtheils gewisser Kritiker, die noch immer ihre verwirrenden Urtheile mit einer vornehmen Miene hören lassen, in der Kürze aufmerksam zu machen.
Die Erzählungen nun, welche Herr von Kleist dem Publikum übergibt, sind keinesweges französischer, sondern durchaus deutscher Art, und nur um so vortreflicher. Sie verdienen unstreitig den besten beigezählt zu werden, welche unsere Literatur aufzuweisen hat, und sind besonders in Rücksicht der Gründlichkeit, der Tiefe und des reinen Lebenssinnes, so wie der kraftvollen, anschaulichen und tiefwirkenden Darstellung nicht genug zu rühmen. Für die Menge sind sie freilich nicht geschrieben, die sich nichts lieber wünscht, als empfindungsselige Liebesgeschichten oder triviale Szenen aus dem häuslichen Leben, mit breiten Reflexionen und moralischen Nutzanwendungen ausstaffirt, oder tolle Abenteuerlichkeiten, von einer fieberkranken Phantasie ausgeboren. Hier ist alles außerordentlich, in Sinnes- und Handlungsart wie in den Begebenheiten; aber diese Außerordentlichkeit ist immer natürlich, und sie ist nicht um ihrer selbst willen da, um etwa schlechte Gemüther zu einiger Thätigkeit und Theilnahme zu zwingen, und sie durch diese erzwungene Theilnahme über ihre Kraftlosigkeit schmeichlerisch zu täuschen; sie ist im Gegentheil, wie es jederzeit seyn soll, aus dem Charakter der ungewöhnlichen Personen und aus solchen Lagen der Welt, die das Ungewöhnliche mit sich führen, nothwendig hervorgehend, und so ein schönes Mittel, Menschennatur und Welt in ihrer ursprünglichen Kraft und ihrem unerschöpflichen Reichthum heraufzufördern, daß jedes nicht unkräftige Gemüth sich daran erlabe und stärke, und der durch die einförmigen Gewöhnlichkeiten des Tages beschränkte Blick sich höher hebe und erweitere. Die Darstellung spricht stets durch sich selbst, klar und verständlich, und so bedarf sie der kümmerlichen Aushülfe von Betrachtungen und Zurechtweisungen nicht, womit die gemeinen Erzähler ihren leblosen Produkten aufzuhelfen suchen. Auch geht die Darstellung auf sprechende Individualität, oft in die kleinsten Details eindringend, ohne sich in diese zu verlieren; und dieß scheint uns ein Hauptverdienst zu seyn, weil es ein eigenthümlicher Vorzug der Erzählung ist, das Menschliche, in welcher Gestalt es auch erscheinen möge, von allen Seiten zu erfassen und mit Bestimmtheit vollständig darzulegen, da andere Gattungen der Poesie, wie z. B. das Drama mehr andeuten als ausführen, oder wie das Lied nur eine Empfindung oder einen bestimmten Kreis von Empfindungen aussprechen – womit keinesweges gesagt seyn soll, daß die Erzählung es vornämlich mit psychologischen Entwickelungen der Charktere zu thun habe; dadurch würde sie zur bloßen Naturbeschreibung herabsinken.
In Betreff des Stiles bemerken wir, daß der Verfasser zwar in seiner Darstellung auf Objektivität hinstrebt, und diese auch im Ganzen sehr glücklich erreicht, daß jedoch dieses Hinstreben im Einzelnen öfters noch zu sichtbar ist, als daß man nicht eine gewisse Künstlichkeit verspüren sollte. Es scheint seiner Schreibart noch etwas Hartes, Strenges, zu Nachdrückliches eigen zu seyn, und ihr zum Theil jene Anmuth abzugehen, die alle Kunst vergessen und einen ganz ungestörten, reinen Genuß erst möglich macht. Diese Strenge und etwas harte Nachdrücklichkeit des Stils ist jedoch nichts weniger als erkünstelt, sie geht vielmehr aus der Individualität des Erzählers unmittelbar hervor, und da sie ganz aus der Quelle fließt und vermöge ihrer Ursprünglichkeit einartig und mit sich selbst übereinstimmend ist, so ist sie, an sich betrachtet, durchaus tadellos; sie macht sich nur in so fern auf eine nicht angenehme Weise bemerkbar, als sie, die doch immer etwas Einseitiges, Beschränktes mit sich führt, dieses Einseitige nicht genug zu mildern und völlig zu dem Grad von Anmuthigkeit zu bilden weiß, dessen sie, um ganz zu gefallen, fähig scheint.
Drei Erzählungen machen den Inhalt des Buchs aus. Unter diesen nimmt die erste: Michael Kohlhaas, die aus einer alten Chronik entlehnt ist, den meisten Raum wie den ersten Rang ein. Sie enthält die ungemein merkwürdige Geschichte eines Roßhändlers, „den das Rechtsgefühl zum Mörder und Räuber machte.“ So umständlich und ins Einzelne gehend die Schilderung oft ist, so ermüdet man doch nie darüber, weil alles zum Ganzen paßt und es mehr oder weniger fördert – und steht man nun am Schlusse, so kann man sich des Staunens und der Bewunderung nicht erwehren, welcher Kraftäußerungen dieser Mensch fähig war, der sich von einer Idee begeistert fühlte; wie er sie zu relisiren Gut und Blut nichts achtete, und wie, als ihm die versagte Ausführung seines Willens zur Eigenmächtigkeit verleitete und die neue Vereitelung auch dieses Versuches, seinen Willen durchzusetzen, ihn zuletzt bis zur Raserei und unmenschlichsten Grausamkeit fortriß, daß eine ganze Provinz darunter litt – wie bei dem allen er den Menschen Achtung abnöthigte, und sie zu dem Geständniß zwang, daß selbst die durch Ausschweifung oder Schwärmerei entstellte Idee nicht ohne eine gewisse Größe ist. Manches gränzt ans Mährchenhafte, wie der Umstand, daß aus einem so kleinen Gegenstand des Streits als die zwei Rappen sind, so wichtige und gefahrdrohende Folgen für ein ganzes Land entstehen, wie die Szene, wo jene Rappen in die Hände des Abdeckers gerathen u. s. w. Die Erscheinung der wahrsagenden Zigeunerin wird manchen überflüssig scheinen, allein auch in der hartnäckigen Verweigerung des prophetischen Zettels ist der unerschütterliche Sinn des Mannes treffend geschildert; und mit dieser Festigkeit macht die Beängstigung des Kurfürsten einen wunderbaren Konrast. – Die zweite Erzählung: Die Marquise von O… ist, wenn wir nicht irren, schon einmal erschienen, und von vielen als anstößig getadelt worden. Ist nun gleich der Gegenstand dieser Geschichte indecent zu nennen, so ist doch die Behandlung desselben nichts weniger als die guten Sitten beleidigend. Der Abscheu vor der schändlichen That ist laut ausgesprochen, un die bösen Folgen derselben sind in iher ganzen Stärke geschildert – ja die Schandthat dient nur dazu, die hohe Charkterwürde der unglücklichen Marquise in ihrer ganzen Herrlichkeit zu entwickeln, und die Mutter derselben, als sie sich von der Unschuld der Tochter völlig überzeugt und die Ungerechtigkeit ihres harten Verfahrens gegen sie eingesehen, hat völlig Recht, wenn sie in die Worte ausbricht: „ich will keine andere Ehre mehr als deine Schande.“ – Die letzte Erzählung: Das Erdbeben in Chili, ist ein kraftvolles Gemälde von den Wechseln des Glücks, in den erschütterndsten und rührendsten Situationen. –


Der Verfasser dieses Artikels ist offenbar mit dem von >> Zeitung für die elegante Welt, 10. 10. 1811, Nr. 202. Sp. 1609-1611 identisch.
machte.]vgl. BKA II/1, S. 8/S. 64
erschienen] in Phöbus, 1. Jg., 2. St., Februar 1808, S. 3-32
getadelt]z. B: BKB 3, S. 79-81
Schande.] vgl. BKB II/2, S. 84.

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