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Journal des Luxus und der Moden, November 1809, 675-694: Ideen über einen dramatischen Gesammtverein der Teutschen\1\. Pia Desideria. Darin: 681-684 (2. Kapitel; Z. 180-266)

„Der zerbrochne Krug“

2.
Die Klage der Kunst-Championen über den schlechten Geschmack, über die Korpulenz, die Anmaßung und den Despotismus des ästhetischen Janhagels ist zwar allgemein genug – und die Kontrolle derjenigen Stücke, welche im Laufe eines Jahrs den Directionen vom Publikum abgedrungen oder abgeschmeichelt werden, giebt zwar einen genügenden Beleg zu dieser Klage, dennoch aber muß man so gerecht seyn zu bekennen, daß der bessere Geschmack in den letzten Dezennien, viel Feld gewonnen habe. Es ist zwar wahr, der Pöbel ist wie das Unkraut, und er schiert sich wenig um Ehre überhaupt, und am allerwenigsten um die Ehre, welche nichts einbringt, – die, Donaunymphe wird öfter verlangt als – die Iphigenie, Kotzebue häufiger beklatscht, als Shakespear, bei Spektakelstücken ist das Haus voll, und der Jubel groß, bei den Meisterstücken nur der Aufwand von Kräften und der Tadel groß, die Befriedigung aber und die Einnahme gering, und die sogenannten Experimentirstücke, ein Alarkos, eine Phädra, ein Ion, ein zerbrochener Krug und wie sie sonst heißen mögen, wollen vollends gar nicht munden, – dennoch aber ist die Lust an veredelter Kunst, und die Sehnsucht nach ihr bei uns Teutschen gewiß eben so groß, wo nicht größer, als bei irgend einer andern Nation.
Wir, der Verfasser und der Autor dieses, haben keine andre Erfahrung vor Augen, als die, welche sich im letzten Lustro in Berlin, Charlottenburg und Potsdam schöpfen ließ. Des größten Zulaufs erinnern wir uns: bei der Einweihung des neuen Schauspielhauses, – bei den Aufführungen des Wernerschen Drama’s: Weihe der Kraft – ferner: als wegen des im Komödienhause veranstalteten großen Maskenballes mehrere teutsche Vorstellungen im Opernhause gegeben wurden – so oft auch die Opern am Ende des Karnevals zum Besten der Armen für Geld zu sehen waren – und endlich so oft für irgend einen beliebten Schauspieler eine sogenannte Benefiz-Vorstellung angekündigt war, oder ein fremder Schauspieler von Ruf bedeutende Gastrollen übernommen hatte. – Diese Beobachtung hat die Meinung in uns erzeugt, daß das Volk, falls es zum bessern Geschmacke sich hinüber bequemen soll, mehr gereizt als gezwungen werden will, daß es gewisser äußeren Veranlassungen, und von der Kunstausübung eigentlich unabhängiger Antriebe nothwendig bedarf. Winkten uns die Freuden des Paradieses nicht in den Stunden des Unglaubens, es würde kein Christ den Himmel verdienen wollen. Die Klasse des Pöbels, die aufs geringste doch so viel werth ist als ihr Geld, verlangt durchaus eine gespannte Erwartung, eine gereizte Neugier, eine verschönte Hoffnung, oder aber, daß neben dem zu lustigen Genusse der Kunst noch einem anderen allgemeinen Interesse zu gleicher Zeit gehuldigt werde. Dies verschmäht ja auch der bessere Theil des Publikums nicht, warum also sollte man sich hierin nicht billig finden lassen?
In Frankreich ist, oder war doch, seit Ludwig XIV. der Enthusiasmus für das Schauspiel so groß, weil fast jeder Franzos die Meisterstücke seiner gefeierten Nationaldichter auswendig konnte, weil sein nationales Gefühl durch die Verherrlichung dieser Kunstwerke geschmeichelt ward, und vielleicht auch – weil es zum guten Ton gehörte. Eine ähnliche Erscheinung finden wir seit dem Zeitalter der Göthe, Lessinge, Schiller, Mozarte, auch in Teutschland nicht selten. Dennoch dürfte dieser Enthusiasmus nicht an den der Engländer reichen, wann zur Zeit der Königin Elisabeth die Helden und Fürsten Britanniens durch Shakespears Genius aus ihren Gräbern gerufen wurden, oder als vor den versammelten Hellenenstämmen das Fest ihrer gemeinsamen Heroenzeit im feierlichen Pompe der Tragödie begangen ward. Etwas dem Ähnliches erinnern wir uns nur bei den Vorstellungen der Weihe der Kraft erlebt zu haben. Diesem dramatischen Producte, dessen ästhetischen Werth wir unbeachtet lassen wollen, und an dem im Geiste heutiger Zeit noch getadelt werden möchte, daß es Gegenstände berührt habe, die mit Religion und der Politik des Tages in zu naher Verknüpfung stehen, als daß man sie auf der Schaubühne dulden mag. Eines ähnlichen Enthusiamus für die dramatische Kunst aber bedarf es, wenn sie wahre Volksfeste veranlassen, Vergnügen und Veredlung zugleich bewirken soll. Eine ähnliche Ideenverknüpfung hat die Frage in uns hervorgerufen: sollte es heut zu Tage, wo die Surrogate an der Tagesordnung sind, nicht möglich seyn, ein Surrogat für solche Kunstfeste aufzufinden, als die olympischen Spiele einst den Griechen waren?

\1\ <Fußnote S. 675:> Episodisches Fragment aus einer, zu Ostern 1810 erscheinenden Reisebeschreibung; 583 Zeilen
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Experimentirstücke] am Weimarer Hoftheater uraufgeführt: Alarcos v. Friedrich Schlegel (29. 5. 1802), Phädra, Schillers Bearbeitung nach Racine (30. 1. 1805), Ion v. August Wilhelm Schlegel (2. 1. 1802) und Der zerbrochne Krug (2. 3. 1808)

Emendationen
so] fo J
lustigen] luftigen J

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Letzte Aktualisierung 10-Feb-2003
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