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Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil. Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885]) (Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, XII-XV

Würzburger Reise

Im August 1800 litt es ihn in Berlin nicht länger; er ging auf acht Tage nach Frankfurt, um sich zu zerstreuen, weil ihn, wie er an Ulrike schreibt, das Brüten über die schwangere Zukunft wieder ganz verstimmt hatte. „In meinem Kopfe sieht es aus wie in einem Lotteriebeutel, wo neben einem großen Loose tausend Nieten liegen. Da ist es wohl zu verzeihen, wenn man ungewiß mit der Hand unter den Zetteln herumwühlt … Das Schlimmste bei dieser Ungewißheit ist, daß Niemand mir rathen kann, weil ich mich keinem Andern ganz erklären kann.“ Er hatte seine Braut vor einiger Zeit gebeten, ihm aufzuschreiben, was sie sich von dem Glück der zukünftigen Ehe verspreche; bei diesem Aufenthalt in Frankfurt teilte sie ihm das erste Blatt ihrer Bekenntnisse mit. Er las es sofort mit unaussprechlicher, aber bittersüßer Freude durch und nahm es unruhig mit nach Hause; am andern Morgen erklärte er, daß er abreisen wolle. Er müsse eine Reise unternehmen, deren Zweck sich nicht sagen lasse. Auf näheres Dringen versicherte er, es handle sich darum, durch diese Reise das Glück, die Ehre, vielleicht das Leben eines Menschen zu retten. Man mußte ihm eine Summe Geldes vorstrecken. Es gab aufgeregte Scenen und Thränen; aber er reiste noch an demselben Tage ab, ohne sich über sein Vorhaben näher zu erklären. Am 14. August war er wieder in Berlin und schrieb gleich am Abend seiner Ankunft an Ulrike und zwei Tage später an Wilhelmine, besonders zärtlich und liebevoll an letztere. „Als ich mich von Dir trennte,“ schreibt er der Braut, „legte ich mich noch ins Bett und lag da wohl noch 1½ Stunde, doch mit offenen Augen, ohne zu schlafen. Als ich im Halbdunkel des Morgens abfuhr, war mir’s, als hörte ich ein Geräusch an dem innern Fenster Eures Saales. Mir fuhr ein schneller Gedanke durch die Seele, ob Du das wohl sein könntest. Aber Du warst es nicht, ob ich gleich eine brennende Sehnsucht hatte, Dich noch einmal zu sehen. Der Wagen rollte weiter, indessen mein Auge immer noch mit rückwärts gewandtem Körper an das geliebte Haus hing. Mir traten Thränen ins Auge, ich wünschte herzlich zu weinen, aber ich bin schon zu lange davon entwöhnt … Als <XIII:> ich hineinfuhr in das Thor im Halbdunkel des Abends und die hohen, weiten Gebäude anfänglich nur zerstreut und einzeln umher lagen, dann immer dichter und dichter, und das Leben immer lebendiger, und das Geräusch immer geräuschvoller wurde, als ich nun endlich in der Mitte der stolzen Königsstadt war, und meine Seele sich erweiterte, um so viele zuströmende Erscheinungen zu fassen, da dachte ich: wo mag wohl das liebe Dach liegen, das einst mich und mein Liebchen schützen wird? Hier an der stolzen Colonnade? dort in jenem versteckten Winkel? oder hier an der offnen Spree? Werde ich einst in jenem weitläufigen Gebäude mit vierfachen Reihen von Fenstern mich verlieren, oder hier in diesem kleinen engen Häuschen mich immer wieder finden? Werde ich am Abend, nach vollbrachter Arbeit, hier durch dieses kleine Gäßchen mit Papieren unter dem Arme zu Fuß nach meiner Wohnung gehen oder werde ich mit Vieren stolz durch diese prächtige Straße vor jenes hohe Portal rollen? Wird mein liebes Minchen, wenn ich still in die Wohnung treten will, mir von oben herab freundlich zunicken, und auf dieser dunklen Treppe mir entgegen kommen, um früher den Kuß der Liebe auf die durstenden Lippen zu drücken, oder werde ich sie in diesem weiten Pallast suchen und eine Reihe von Zimmern durchwandern müssen, um sie endlich auf dem gepolsterten Sopha unter geschmückten und geschminkten Weibern zu finden? Wird sie in diesem dunkeln Zimmer nur den dünnen Vorhang zu öffnen brauchen, um mir den Morgengruß zuzulächeln, oder wird sie von dem weitesten Flügel jenes Schlosses her einen Jäger zu mir schicken, um sich zu erkundigen, wie der Herr Gemahl geschlafen habe? – – Ach, liebes Minchen, nein, gewiß, gewiß wirst Du das letzte nicht. Was auch die Sitte der Stadt für Opfer begehrt, die Sitte der Liebe wird Dir gewiß immer heiliger sein, und so mag denn das Schicksal mich hinführen, wohin es will, hier in dieses versteckte Häuschen oder dort in jenes prahlende Schloß, Eines finde ich gewiß unter jedem Dache, Vertrauen und Liebe. Aber, unter uns gesagt, je öfter ich Berlin sehe, je gewisser wird es mir, daß diese Stadt, so wie alle Residenzen und Hauptstädte, kein eigentlicher Aufenthalt für die Liebe ist. Die Menschen sind hier zu zierlich, um wahr, zu gewitzig, um offen zu sein. Die Menge von Erscheinungen stört das Herz in seinen Genüssen, man gewöhnt sich endlich, in ein so vielfaches, eitles Interesse einzugreifen, und verliert am Ende sein wahres aus den Augen.“ Und gleich darauf giebt er ihr, wie zwei Tage zuvor schon seiner Schwester, geheimnisvolle Andeutungen über seine geplante Reise. „Ich fühle mich zu schwach, ganz allein zu handeln, wo etwas so Wichtiges auf dem Spiele steht. Ich suche mir daher jetzt, ehe ich handle einen weisen, älteren Freund auf, den ich Dir nennen werde, so bald ich ihn gefunden habe.“
Welchen Zweck sollte diese Reise haben? Wir können aus Kleists dunklen Andeutungen darüber auch heute noch nicht klug werden. Das Glück, die Ehre, vielleicht das Leben eines Menschen steht auf dem Spiel, <XIV:> versichert er einmal; ein anderes Mal könnte man auf eine geheime diplomatische Mission raten; ein drittes Mal macht er Andeutungen, als handle es sich um eine Erfindung im Fabrikwesen, um schließlich immer wieder zu bestätigen, daß sein eigenes Lebensglück und das seiner Braut davon abhängt. Kleist, dünkt uns, wollte sich selber und den drückenden Berliner Verhältnissen entfliehen, sich für seine Kämpfe gegen den ihm von seiner Familie aufgezwungenen Beruf stählen, allein mit sich und dem wahlverwandten Brockes und unter neuen Umgebungen und Eindrücken sich sammeln und in der Ferne peripatetisch die Krisis, die ihn zum Dichter machen sollte, überwinden. Das Reisefieber gehört ja zu den eigensten Schrullen Kleists; es ist als ob er dabei sich selbst entfliehen und in der äußerlichen Unruhe sich innerlich beruhigen wollte. Schon im ersten Briefe an Wilhelmine spricht er in der Nachschrift von einer geplanten Reise; der ganze Zweck eines Aufsatzes über den Weg des Glücks\1\ scheint nur der zu sein, Rühle zu einer zweiten gemeinsamen Reise zu bewegen. Da er die wahren Motive seiner Wandersucht, die von seinen Verwandten nimmermehr gebilligt worden wären, nicht nennen konnte, so zog er vor, seinem romantisch-phantastischen Zuge folgend, die ganze Reise in Geheimnis zu hüllen und Anspielungen auf diplomatische und andere Zwecke einfließen zu lassen.\2\ Daher die dunklen, widerspruchsvollen Andeutungen gegenüber der Braut, welche die Erlaubnis, und gegen die Schwester, welche das Geld geben sollte, damit sie auch ja von der Wichtigkeit der Reise überzeugt sein würden. Wo es seinen „höheren Zweck“, seinen Dichterberuf galt, da <XV:> kannte Kleist keine Rücksicht, keine Uneigennützigkeit. Wilhelmine sollte diesen idealen Egoismus noch an sich erfahren.
Nachdem er Karl von Zenge\1\ das Versprechen abgenommen, weder das Ziel noch den Zweck seiner Reise zu erforschen, und auch an Wilhelmine eine förmliche Instruktion gesandt, reiste Kleist am 18. August mit der Stettiner bedeckten Post, trotz einer leichten Unpäßlichkeit, über Oranienburg, Templin, Prenzlow nach Coblentz bei Pasewalk. Dort weilte der Freund, den sich Kleist ausersehen, auf dem Landgute seines Vetters, des Grafen von Eickstedt (+ 1812), dessen alte, würdige Gemahlin Kleist auf Rügen kennen gelernt hatte. Es ist der schon genannte Louis Brockes. Kleist eröffnete ihm seine Lage. Brockes sah die „Wahrscheinlichkeit eines glücklichen Erfolges, zum mindesten die Gefahrlosigkeit des Planes“ ein und besann sich nicht einen Augenblick, dem Freunde, dessen Zweck er ehrte, zu folgen, trotzdem er selbst damals im Begriffe stand, ein Amt zu nehmen und innig an seiner Schwester hing. Auf das uneigennützigste opferte er 600 Rthlr. von seinem Vermögen, um Kleist „glücklich“ zu machen, und gab der ganzen Reise seiner Familie gegenüber den Anstrich, als geschehe sie nur um seinetwillen. Die beiden Jünglinge besuchten noch die gräflichen Güter und reisten den 20. August nachmittags mit der Post nach Berlin. Hier wurde wieder an Ulrike um Geld geschrieben: sie möge es nach Wien schicken, da Brockes seinen Wechsel aus verschiedenen Gründen nicht einkassieren könne. Und Ulrike entsprach diesem Wunsche abermals.

\1\ Kleine Schriften, S. 267-82.
\2\ Eine geheime diplomatische Mission, an die auch Ulrike glaubte (Koberstein 27), hätte schwerlich aus Privatmitteln bestritten werden müssen, wenn man sie überhaupt einem jungen Zoll- und Accisevolontär ohne diplomatische Erfahrung anvertraut hätte. Wenn Biedermann aus Brockes’ Beteiligung darauf schließt, daß von einem solchen Manne kaum anzunehmen sei, er habe eine bloße Phantasterei des jüngeren Freundes gutgeheißen und sogar mit eigener Aufopferung ohne Hoffnung auf einen reellen Erfolg unterstützt, so können wir jetzt nach Durchsicht von Brockes’ Nachlaß, den uns eine Großnichte desselben zur Verfügung stellte, versichern, daß Brockes, trotz Kleists stark rhetorisch gefärbtem Panegyrikus, damals den Geniestreichen gar nicht abhold war. Brockes selbst urteilt um jene Zeit nicht so günstig über sich selbst. Er schreibt am 22. Mai 1800, also zwei Monate vor Antritt der Würzburger Reise, an einen Freund: „Dewitz’ [seines Zöglings] Pläne für die Zukunft sind noch nicht ganz reif, so wenig wie die meinigen, aber ich ahne, daß die seinigen die vernünftigsten sein werden, denn leider kann ich der Vernunft noch immer nicht viel Geschmack abgewinnen, und kann etwas gerathen, was man nicht con amore treibt?“ Demzufolge wäre also der neun Jahre ältere Brockes der prädestinierte Teilnehmer an einer abenteuerlichen Reise. Im übrigen haben sich unsere Hoffnungen, aus den Briefen und dem Tagebuch Brockes’ dem Zwecke dieser Reise auf die Spur zu kommen, nicht erfüllt. Unter den wenigen Briefschaften aus jener Zeit spricht nur ein einziges Billet einmal flüchtig von unserem Dichter. Brockes’ Freundin, Louise Westfeld (nachmalige Professorin Bouterwek) schreibt aus Göttingen am 24. Februar 1802, während Kleist in der Schweiz weilte, folgendes Postkript: „Haben Sie keine Nachricht von Wytenbach und Kleist? … Von Ihnen möchte ich noch wissen, was Kleist so ungefähr erfahren hat. Ich glaube gewiß, ich sehe ihn wieder, vielleicht bald und möchte nicht unvorbereitet sein.“ Bezieht sich dies „Erfahren“ auf das Geheimnis der Würzburger Reise? In Brockes’ Tagebuch – letztes Datum darin 1804 – fand sich endlich neben vielen Auszügen aus Büchern und eigenen Gedanken des Schreibers ein langer Aufsatz mit der Anrede: „Mein lieber Heinrich!“ Wir wagen es aber nicht, diesen moralisierenden Brief an einen Freund, der ihm frühere Ausschweifungen gebeichtet, auf die bloße Anrede hin auf Kleist zu beziehen, der schon genug des Jammers zu tragen hat.
\1\ Lieutenant, der älteste Bruder Wilhelminens, der mit Kleist in Berlin zusammen wohnte. Er war den 23. August 1777 geboren und starb schon am 30. Januar 1802 an einer Halsentzündung.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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