Theophil Zolling
(Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke.
Erster Teil. Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez
(Berlin, Stuttgart: Spemann [1885]) (Deutsche National-Litteratur,
149. Band), Einleitung, IX-XII
Verlobung
Wilhelmine von Zenge, am 20. August 1780 geboren\1\,
war die Tochter einer kinderreichen Familie und mit Kleists
Schwestern eng befreundet. Die älteste Zenge, Minette,
schreibt Kleist am 12. November 1799 an Ulrike, hat
einen feinen Sinn, der für schönere Eindrücke zuweilen empfänglich
ist; wenigstens bin ich zufrieden, wenn sie mich zuweilen
mit Interesse anhört, ob ich gleich nicht viel von ihr wieder
erfahre. Um die Jahreswende von 1799 bis 1800 mag die
Annäherung zwischen beiden stattgefunden haben. Wilhelmine
scheint für das zwar sonderlinghafte, aber durchaus edle und
ideale Wesen des Jünglings ein tieferes Interesse gefaßt zu
haben, und dieser wiederum war glücklich, von einem liebenswürdigen,
gefühlvollen Mädchen sich verstanden zu sehen. Eine sonderbare
Laune des Liebenden hätte beinahe gleich anfangs das Verhältnis
wieder zerstört. Kleist verlangte von Wilhelmine und deren
nächstältesten Schwester Luise\2\, die allein um die Liebe der beiden wußte, dieses
Verhältnis solle streng vor Fremden und sogar vor den Eltern
Wilhelminens verborgen gehalten werden. Dazu wollte sich letztere
nicht verstehen. Endlich entschloß sich Kleist auf ihre und
Luisens Bitten und Vorstellungen, dem General von Zenge sich
zu entdecken und dessen Genehmigung zur Verlobung mit seiner
Tochter zu erbitten. Es muß wohl ein mündliches Gespräch mit
dem General, dem er übrigens damals zum Neujahr 1800 einen
holprigen Glückwunsch in schwer erkennbaren Distichen gewidmet
hatte\3\, vorausgegangen sein, wobei gegen ihre Liebe kein
Widerspruch erhoben wurde, aber man scheint auch verlangt
zu haben, daß Kleist vorerst einen sicheren Beruf wählen müsse.
So kam also Heinrich vorläufig fast täglich mit seiner Braut
zusammen, die neben seinem Elternhause in der Kommandantur
wohnte; die Höfe beider aneinander gebauten Häuser waren nur
durch eine Thorfahrt getrennt. Er schrieb auch der Braut,
die er gewiß fast täglich sah, häufige und gründliche Briefe\4\, wie zuvor seiner Schwester Ulrike von Stube zu Stube.
Als echter Selbstquäler sucht er sich gleich anfangs zu vergewissern,
ob sie ihn auch wirklich wahr und echt liebe. Aber darf
ich meinen Augen und meinen Ohren, darf ich meinem Witze und
meinem Scharfsinn, darf ich dem Gefühle meines leichtgläubigen
Herzens, das sich schon einmal von ähnlichen Zeichen
Kleist meint seine frühere Neigung zu Louise von Linkersdorf
täuschen ließ, wohl trauen? Muß ich nicht mißtrauisch
werden auf meine Schlüsse, da sie mir selbst schon einmal
gezeigt haben, wie falsch sie zuweilen sind? Was kann ich
im Grunde, reiflich <X:> überlegt, mehr glauben, als
was ich vor einem halben Jahre auch schon wußte, ich frage,
was kann ich mehr glauben, als daß Sie mich schätzen und daß
Sie mich wie einen Freund lieben? Er fragt die Braut
auch um ihren Rat, für welches Amt er sich bilden soll. Die
Rechte mag er nicht studieren, denn was soll er von einer
Wissenschaft halten, die sich den Kopf darüber zerbricht,
ob es ein Eigentum in der Welt giebt; auch das diplomatische
Fach hat keinen Reiz für ihn, denn er erkennt nur ein höchstes
Gesetz, die Rechtschaffenheit, während die Politik nur ihren
Vorteil kennt; besser behagt ihm schon das Finanzfach, denn
für den ihm nicht angenehmen Klang rollender Münzen mag ihn
der Einklang der Herzen entschädigen; das akademische
Amt, von dem man freilich als Bürger des Staates nicht,
wohl aber als Weltbürger weiter schreiten kann, reizt
ihn nicht minder als die Ökonomie. Dann könnte ich,
ein freier Mensch, mein ganzes Leben Ihnen und meinem höchsten
Zwecke widmen. Hier haben wir also schon die Anfänge
seiner idyllischen Pläne, denen vielleicht schon Dichterträume
zu Grunde lagen. Kleist äußert auch bereits in diesen ersten
Briefen seinen Hang zum Philosophieren und Docieren. Wunderlicher
Weise behandelt der eben erst Verlobte zunächst das doch fernliegende
Thema: Welcher von zwei Eheleuten verliert am meisten bei
dem Tode des anderen? Er übernahm Wilhelminens Erziehung mit
einem Eifer, als ob ihr Wesen erst unter seinen Händen geformt
werden müßte. Doch war es für Kleist eine schöne Zeit, und
die beiden Nachbarhäuser sahen das reinste Glück. Noch später
denkt er mit Entzücken an jene Orte zurück, welche die Zeugen
seines jungen Liebesglückes waren. Namentlich die Erinnerung
an die Laube im Zengeschen Garten kehrt öfter wieder, wo die
Liebenden Voß Luise mit einander lasen und
in mondhellen Nächten hohe Freuden genossen. In Gedanken sucht
er aus der Ferne die Geliebte auf: des Morgens an Deinem
Fenster in der Hinterstube, Nachmittags an dem Fenster des
unteren Saales, gegen Abend in der dunklen Laube, und wenn
es Mitternacht ist, in Deinem Lager, das ich nur einmal flüchtig
gesehen habe und das daher meine Phantasie nach ihrer freiesten
Willkühr sich ausmalt. Er schenkte
ihr in dieser Zeit eine Tasse, die noch heute in ihrer Familie
aufbewahrt wird: auf dem Boden der Schale steht: Vertrauen,
auf dem der Untertasse: und und auf der Rückseite
des Bodens derselben: Einigkeit, so daß das Ganze
eine Art Rebus bedeutet: Vertrauen auf und Einigkeit
unter uns. Besieh Deine neue Tasse von oben und unten!
wird er später nicht müde, ihr zu wiederholen, wenn er ein
Opfer von ihr verlangt. Da der junge Freundinnenkreis an der
Aufführung von Sprichwörtern Vergnügen fand, so
richtete er ihnen nicht nur vorhandene für die Darstellung
ein, sondern schrieb auch einige selbst, wobei er allen Fleiß
auf die Einstudierung verwandte und vielen Beifall fand. Hier
und in den Gelegenheitsgedichten für Familienfeste, z. B.
in den unbeholfenen Distichen der zwei Neujahrswünsche von
1800, sind die <XI:> unscheinbaren Anfänge jener inneren
Umwälzung zu suchen, die ihn nach gewaltsamen Kämpfen zum
Dichter machte.
Sein
Verhältnis zu Wilhelmine mußte auch seinen Lebensplan notwendig
umgestalten und seiner eigentlichen Studienzeit ein vorzeitiges
Ende bereiten. Schon im Sommer 1800 war es damit zu Ende.
Jetzt entschloß er sich, wohl auf den Wunsch der Eltern Wilhelminens,
es mit dem Staatsdienste zu versuchen. Wie sehr er darunter
litt, verraten seine Briefe an Ulrike; er fühlte, daß er sich
zu irgend etwas werde entscheiden müssen, und doch reizte
ihn noch immer sein früheres höheres Ziel, und
noch konnte er es nicht verächtlich als unerreichbar
verwerfen, ohne vor sich selbst zu erröthen. Er verließ
Frankfurt und ging, statt nach Göttingen, wie er wohl als
Student geplant, nach Berlin, um sich auf eine
künftige Anstellung vorzubereiten. Vorderhand trat er als
Volontär in ein anscheinend ziemlich äußerliches Verhältnis
zu dem Minister von Struensee, dem Chef des Accise-
und Zolldepartements.\1\ Mit dem Staatsdienste kann es
ihm freilich nicht recht Ernst gewesen sein. Er schreibt an
Ulrike: es sei genug, wenn die Welt wisse, er habe Geschäfte
beim Minister Struensee, welches, setzt
er sogleich hinzu, zum Theil wahr ist.
Weitere Briefe an Ulrike oder Wilhelmine aus dieser ersten
Berliner Zeit sind unerklärlicher Weise nicht vorhanden. Treue
und aufopfernde Freunde gewann er an seinen beiden Kameraden Rühle
und Ernst von Pfuel\2\
und besonders an dem Mecklenburger Louis von Brockes.\3\
Diesen hatten Heinrich und Ulrike früher einmal auf Rügen
kennen und achten gelernt, und Kleist schildert später in
seinen Briefen das Wesen dieses herrlichen Menschen
eingehend und auf das überschwenglichste. Durch Brockes
Freund, den Grafen Alexander zur Lippe\4\,
scheint Kleist in die ästhetischen Kreise Berlins eingeführt
<XII:> worden zu sein. Die Eindrücke, die er hier empfing,
waren geeignet, ihm die juristische Laufbahn wieder gründlich
zu verleiden. Er konnte zu keinem Entschlusse kommen. Mehr
als einmal war er nahe daran, sich geduldig in sein Amt zu
fügen und sich mit Apollo zu trösten, der ja auch verdammt
war, Knechtdienste auf Erden zu thun; aber immer noch schwebte
ihm sein früheres höheres Ziel vor, worunter er
wohl die Ausbildung seiner dichterischen Anlagen verstand.
Deutlicher spricht er sich später in einem Brief an die Geliebte
aus: Du weißt, daß ich mich jetzt für das schriftstellerische
Fach bilde. Ich selbst habe mir schon ein kleines Ideenmagazin
angelegt, das ich Dir wohl einmal mittheilen und Deiner Beurtheilung
unterwerfen mögte. Ich vergrößere es täglich. Wenn Du auch
einen kleinen Beitrag dazu liefertest, so könntest Du den
Stolz haben, zu einem künftigen Erwerb auch etwas beizutragen.
\1\ Sonderbarerweise
hat Kleist in dem Briefe aus Würzburg 10. Oktober 1800
den Geburtstag seiner Braut, ebenso wie seinen eigenen, verfrüht.
\2\ Die an Geist
hervorragende goldene Schwester der Braut, die
unverheiratet als Domina des adligen Fräuleinstiftes in Lindow
starb und in Beziehungen zu den höchsten Berliner Kreisen
stand.
\3\ Vgl. Gedichte
IIb.
\4\ Vgl. Biedermann
S. 1ff. Durch die jetzt vollständig nach dem Original
abgedruckten Liebesbriefe wird das ganze Verhältnis in ein
wärmeres Licht gerückt. Bülow hatte nur 16 Briefe, zum
Teil unvollständig, veröffentlicht.
\1\ Karl Gustav von
Struensee, ein Bruder des dänischen Ministers, war von 1791
bis zu seinem Tode 1804 kgl. preußischer Staatsminister.
\2\ Ernst von
Pfuel, 1780 zu Berlin geboren, trat 1797 in die Armee, war
später in österreichischen und russischen Diensten, dann im
preußischen Generalstab, ward 1815 Oberst unter Blücher und
nach der Einnahme von Paris Kommandant dieser Stadt, Gouverneur
von Neuchatel, General der Infanterie, 1847 Gouverneur von
Berlin und Ministerpräsident und Kriegsminister, 1858 liberales
Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Er starb am 3. Dezember
1866.
\3\ Kleist
schreibt den Namen irrtümlich Brokes. Dieser war von 1797
bis April 1800 als Begleiter eines Herrn v. Dewitz in
Göttingen. So oft er zu seinen Verwandten und Bekannten nach
Pommern und Mecklenburg reiste, verweilte er längere Zeit
in Berlin. Hier mag er viel mit Kleist verkehrt haben. Brockes,
1768 geboren, starb im September 1815. Varnhagen schreibt
in den Biographischen Denkmälern III, 85 über ihn: Eine
in vielen deutschen Lebenskreisen bedeutende und vertraute
Erscheinung, ein edler, gebildeter Mann voll hohen Ernstes
der Seele und von großer Geradheit des Gemütes, in seiner
Anspruchslosigkeit und Stille wirkte er stark auf seine Freunde,
und Männer und Frauen hingen mit Leidenschaft an ihm. Sein
Name ist nirgends in die Litteratur oder sonst in die Öffentlichkeit
durchgebrochen; aber er verdient um so mehr festgehalten zu
werden, da vielleicht noch künftig Denkmale seiner vielfach
eingreifenden Persönlichkeit an das Licht treten. Vgl.
auch Varnhagens Denkwürdigkeiten I 282.
\4\ Auch von ihm
spricht Varnhagen in seinen Denkwürdigkeiten I, 282ff.
als von einem wunderlichen Menschen, edel, zartsinnig,
gebildeten und strebenden Geistes, aber auch wirrköpfisch,
einbilderisch und abschweifend.
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