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Heinrich Zschokke, Der zerbrochene Krug, in: Heinrich Zschokke u. a. (Hrsg.), Erheiterungen. Eine Monatschrift für gebildete Leser. Dritter Jahrgang, 1. Bd. (Aarau: Sauerländer 1813), 137-175; darin: 168-175

Heinrich Zschokke: „Der zerbrochene Krug“

Wunderbare Fügungen.

Colin ritt noch gleichen Tags nach Grasse zum Herrn Landvogt, und kam andern Morgens in der Frühe zurück. Herr Hautmartin aber lachte nur dazu und redete der Frau Manon allen Argwohn aus, und schwor, er wolle sich die Nase abschneiden lassen, wenn Colin nicht dreihundert Livres für den zerbrochenen Krug zahlen müsse. – Auch ging er mit Frau Manon zum Pater Jerome, wegen der Trauung, und schärfte ihm wohl ein, Marietten ernsthaft ihre Pflicht vorzustellen, als gehorsame Tochter dem Willen der Mutter und der Vermählung nicht zu wider- <169:> streben. Das versprach auch der alte, fromme Herr, obwohl er nur die Hälfte von allem verstand, was man ihm ins Ohr schrie.
Aber Mariette nahm den zerbrochenen Krug in ihre Schlafkammer, und hatte ihn nun erst recht lieb, und ihr war, als wäre das Paradies in ihre Brust eingezogen, seit es auf dem Krug durchlöchert worden.
Als nun der Montag Morgen kam, sprach Mutter Manon zu ihrer Tochter: „Kleide dich wohl an, und trage dieses Myrthenkränzlein zum Pater Jerome; er verlangt es für eine Braut.“ – Mariette kleidete sich sonntäglich, nahm ohne Arg den Myrthenkranz und trug ihn zum Pater Jerome.
Unterwegs begegnete ihr Colin, der grüßte sie freundlich und schüchtern; und als sie sagte, wohin sie den Kranz trage, sprach Colin, ich gehe den gleichen Gang, denn ich muß dem Pfarrer das Geld bringen für den Kirchenzehnten. Und wie sie beide gingen, nahm er schweigend ihre Hand; da zitterten beide, als hätten sie große Verbrechen gegen einander im Schilde.
„Hast du mir vergeben?“ flüsterte ängstlich Colin. „Ach, Mariette, was hab ich dir gethan, daß du so grausam gegen mich bist?“ <170:>
Aber sie konnte nichts sagen, als: „Sei nur ruhig, Colin, das Band sollst du wieder haben. Und ich will deinen Krug behalten. Gelt, er ist doch von dir?“
„Ach, Mariette, kannst du zweifeln? Sieh, was ich habe, dir mögt ich alles geben. Willst du mir künftig freundlich sein, wie andere?“
Sie antwortete nicht. Als sie aber in das Pfarrhaus traten, blickte sie ihn seitwärts an, und da sie seine schönen Augen naß sah, lispelte sie ihm zu: „Lieber Colin!“ – Da bog er sich und küßte ihre Hand. Da ging die Thür eines Zimmers auf, und Pater Jerome in ehrwürdiger Gestalt stand vor ihnen. – Die jungen Leute waren wie vom Schwindel befallen, denn sie hielten fest eins am andern. Ich weiß nicht, war das die Wirkung des Handkusses, oder die Ehrfurcht vor dem Greis?
Da reichte ihm Mariette das Myrthenkränzlein. Er legte es auf ihr Haupt und sprach: Kindlein, liebet euch unter einander! und redete nun dem guten Mädchen auf das Beweglichste und Rührendste zu, den Colin zu lieben. Denn der alte Herr hatte wegen seiner Harthörigkeit den Namen des Bräutigams entweder falsch <171:> gehört, oder wegen des alternden Gedächtnisses vergessen, und meinte, Colin müsse der Bräutigam sein.
Da brach unter dem Zuspruch des Greises Mariettens Herz, und mit Thränen und Schluchzen rief sie: „Ach, ich lieb ihn ja schon lange, aber er hasset mich.“
„Ich dich hassen, Mariette?“ rief Colin; „meine Seele lebte nur in dir, seit du nach La Napoule gekommen. O Mariette, wie konnte ich denn hoffen und glauben, daß du mich liebtest? Betet dich nicht ganz La Napoule an?“
„Warum flohst du mich, Colin, und zogest alle meine Gespielen mir vor?“
„O Mariette, ich ging in Furcht und Zagen, in Kummer und Liebe unter, wenn ich dich sah. Ich hatte den Muth nicht, dir nahe zu sein; und war ich nicht bei dir, war ich noch unglückseliger.“
Als sie so gegen einander redeten, meinte der gute Pfarrer, sie haderten. Und er legte seine Arme um beide, führte sie zusammen und sprach flehend:  „Kindlein, liebet euch unter einander!“
Da sank Mariette an Colins Brust, und Colin schlug beide Arme um sie, und beider Antliz <172:> strahlte in schöner Verklärung. Sie vergaßen den Pfarrer, die ganze Welt. Colins Lippe hing an Mariettens süßem Munde. Es war zwar nur ein Kuß, aber wahrlich ein Kuß der lieblichsten Vernichtung. Beide waren in einander aufgelöset. Beide hatten so ganz ihre Besinnung verloren, daß sie, ohne es zu wissen, dem entzückten Pater Jerome in die Kirche folgten und vor den Altar.
„Mariette!“ seufzte er.
„Colin!“ seufzte sie.
In der Kirche beteten viele Andächtige; aber mit Erstaunen wurden sie Zeugen von Colins und Mariettens Vermählung. Viele liefen noch vor Beendigung der Feierlichkeit hinaus, es links und rechts in La Napoule verkünden zu können: Colin und Mariette sind vermählt.
Als die Trauung vollbracht war, freute sich Pater Jerome redlich, daß es ihm so gut gelungen, und von den Brautleuten so wenig Widerstand geleistet war. Er führte sie in’s Pfarrhaus.

Ende dieser merkwürdigen Geschichte.

Da kam athemlos Mutter Manon. Sie hatte zu Hause lange auf die Ankunft des Bräu- <173:> tigams gehofft. Er war nicht gekommen. Beim letzten Glockengeläut hatte die Angst sie getrieben, und sie selbst sich auf den Weg zum Herrn Hautmartin gemacht. Dort aber war neues Entsetzen über sie gekommen. Sie erfuhr, der Herr Landvogt nebst den Dienern der Vigurie sei erschienen, habe Rechnungen, Kassen und Protokolle des Richters in Untersuchung genommen; dann den Herrn Hautmartin in der gleichen Stunde verhaften lassen.
„Das hat gewiß der gottlose Colin gestiftet!“ war ihr Gedanke. Nun hatte sie sich eilfertig zum Pfarrhaus begeben, um beim Pater Jerome den Aufschub der Trauung zu entschuldigen. Da trat ihr lächelnd, und mit Stolz auf sein Werk, der gute Greis entgegen, und an seinen Händen das neuvermählte Paar.
Jetzt verlor Frau Manon in vollem Ernst Gedanken und Sprache, als sie das Vorgefallene vernahm. Aber Colin hatte der Gedanken und Sprache jetzt mehr, als sonst in seinem ganzen Leben. Er fing von seiner Liebe an und dem zerbrochenen Kruge und von des Richters Falschheit, und wie er diesen Ungerechten zu Grasse in der Vigurie entlarvt habe. Dann bat er um <174:> Mutter Manons Segen, weil es nun geschehen sei, ohne daß Mariette noch er daran Schuld wären.
Pater Jerome, der lange nicht verstand, was geschehen sei, faltete, als er über die Vermählung durch Mißverständniß den vollsten Aufschluß empfangen, die Hände fromm, und rief mit emporgehobnem Blick: „Wunderbarlich sind des Himmels Fügungen!“ – Colin und Mariette küßten ihm die Hände; Mutter Manon, aus bloßer Ehrfurcht vor dem Himmel, gab dem jungen Ehepaar ihren Segen, bemerkte aber zwischenein, der Kopf sei ihr wie umgedreht.
„Aber bin ich denn nun wirklich eine Frau?“ fragte Mariette, „und wirklich schon Colins Frau?“
Mutter Manon nickte mit dem Kopf, und Mariette hing sich an Colins Arm. So gings auf Colins Meierhof, zu seinem Wohnhaus, durch den Garten.
„Sieh hier die Blumen, Mariette!“ rief Colin; „wie sorgsam pflegte ich sie für deinen Krug!“
Colin, der das schöne Abentheuer nicht erwartet hatte, rüstete nun ein Hochzeitfest aus dem Stegreif. Zwei Tage hat es gedauert. Ganz <175:> La Napoule ward bewirthet. Wer könnte Colins Freude und Verschwendung beschreiben? Frau Manon selbst ward ihres Schwiegersohns froh, als sie seinen Reichthum erst recht kennen lernte, und besonders da Herr Hautmartin gefangen, sammt seiner Nase, nach Grasse abgeführt ward.
Der zerbrochene Krug aber ward in der Familie bis auf den heutigen Tag als Andenken und Heiligthum aufbewahrt.


Emendationen
Myrthenkränzlein] Myrrhenkränzlein D
so] fo D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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