Friedrich v. Raumer, Lebenserinnerungen und Briefwechsel. 2 Bde. (Leipzig:
Brockhaus 1861), Bd. 1, 102-107
Ab 8. 5. 1810; in der Staatsschuldensektion des Finanzministeriums (Minister
Altenstein)
XI. Berlin. 1810-11.
Ich habe es stets für unpassend gehalten, wenn in die Lebensbeschreibung von
Privatpersonen gleichsam die ganze Weltgeschichte aufgenommen wird. Für die Jahre 1810-11
werde ich jedoch nicht blos von mir selbst im engsten Sinne sprechen: erstens weil ich
wirklich an vielen wichtigen Geschäften theilnahm; und zweitens weil vieles unbekannt
blieb, oder irrig dargestellt ward. Gleich nach meiner Ankunft in Berlin (den 8. Mai
1810) machte ich dem Herrn Minister von Altenstein meine Aufwartung. Er war sehr
freundlich und sagte: er werde mich bei seinem Generaldepartement und in Domänensachen
beschäftigen. Das erste war ehrenvoll, sofern es auf Bearbeitung wichtiger Gegenstände
hinwies; das zweite aber bedenklich. Mit Recht hatte der Minister kein Vertrauen zu den
Ansichten und Grundsätzen der Domänensection, anstatt aber diese zu berichtigen und den
Chef zu entfernen, bildete er zu den bereits allzu zahlreichen Instanzen, in meiner Person
eine neue Instanz, die durchaus überflüssig erschien, sobald die bestehenden Behörden
irgend das waren, was sie sein sollten.
Herr von Altenstein fuhr
fort: Vor allem aber fordere ich von Ihnen, die Schuldensection endlich in Bewegung
zu setzen, welches höchst dringend, bisjetzt aber noch keineswegs <103:> geschehen
ist. Ich werde, war meine Antwort, mich eifrigst
bemühen die Sachen nach den Weisungen des Chefs der Section, des Herrn Geheimen
Staatsrath Niebuhr zu fördern. So ist es nicht gemeint,
fuhr der Minister fort, Herr Niebuhr ist
ein gelehrter Mann, aber er ist kein Geschäftsmann, er bringt nichts von der Stelle. Ich
mache Sie dafür verantwortlich, daß Sie als praktischer Geschäftsmann diese wichtigen
Gegenstände in Ordnung bringen und zum Ziele führen. Wie kann
ich aber, einem Vorgesetzten gegenüber, ganz andere zweckmäßigere Wege einschlagen und
etwas durchsetzen? Da sehen Sie zu, schloß der Minister,
machte eine Verbeugung, ging fort und ließ mich rathlos allein.
Ich hatte Herrn Niebuhr
früher schon persönlich kennen lernen, nur nicht von der praktischen Seite, auf die ich
jetzt hingewiesen ward. Er war grundgelehrt, lehrreich mittheilend, von so empfindlicher
Moralität, daß er bei Cäsar und Alexander nur die Schattenseiten sah. Die Weichheit
seines Charakters ging in Schwäche über, sobald es nicht auf Raisonnement, sondern auf
schnellen Entschluß und festes Handeln ankam. Wenige Nummern machten ihn krank, mithin
war er nicht geeignet, eine Behörde zu leiten und ganze Administrationszweige in Bewegung
zu setzen. Die holländische Anleihe und die Bepfandbriefung der Domänen zeigten Mangel
an praktischer Einsicht und Geschicklichkeit. Niebuhr, sagte der Minister Stein, ist nur
als Lexikon zum Nachschlagen brauchbar. Als er, so erzählte mir ein wohlunterrichteter
Mann, einst eine Anleihe für Dänemark bis zur Unterschrift des Vertrags eingeleitet
hatte, sagte ihm der sie unternehmende Bankier: Ich habe doppeltes Vertrauen,
seitdem ich zweimal geträumt, der König von Dänemark werde sein Wort halten.
Niebuhr tadelte diesen Aberglauben in so verletzender Weise, daß der Bankier statt zu
unterschreiben den Vertrag zerriß. Wie der <104:> geringhaltige Herr von Oelßen
den ihm weit überlegenen Niebuhr dennoch täuschte, werden wir bald sehen.
Von Altenstein ging ich zu
Niebuhr, der mir meines Anfluges von Gelehrsamkeit halber geneigt war, und in mir wol
einen praktisch brauchbaren Arbeiter zu finden hoffte. Er sprach belehrend mit mir über
tausend Dinge; trotz meines wiederholten Andringens erhielt ich aber von ihm nicht die
geringste Auskunft über das Schuldenwesen; aus dem einfachen Grunde, weil
Niebuhr (obgleich er schon so lange an der Spitze der Section stand) davon gar nichts
wußte. Ich eilte jetzt zu der sogenannten Registratur der Section, fand aber daselbst zu
meinem großen Erstaunen nur ein einziges, dünnes Actenstück über die neuen
Thalerscheine. Ich verschaffte mir jetzt die Acten des Finanzministeriums, des
Ministeriums des Innern u. s. w., und nachdem ich dann das
Zerstreute aus hundert Winkeln zusammengesucht und zusammengestellt hatte, so ergab sich
sehr deutlich, daß man den Betrag der Provinzial- und Communalschulden theils nur sehr
oberflächlich, theils gar nicht kenne; daß noch keine Übersicht des Zustandes der Bank,
kein genügender Abschluß der Seehandlung, des Brenn- und Nutzholzcomptoirs, kurz keine
Zusammenstellung der Staatsschulden vorhanden war.
Zunächst entwarf ich mit
Herrn von Bärensprung eine Darstellung des Schuldenwesens der Kurmark und fügte hinzu,
welche dringende Maßregeln eiligst zu ergreifen seien. Diesen Aufsatz übergab ich an
Niebuhr, erinnerte täglich an die Nothwendigkeit, ernste Beschlüsse zu fassen, schrieb
zuletzt: Ich wasche meine Hände in Unschuld wegen der übeln
Folgen alles vergeblich, nie habe ich davon wieder gesehen oder gehört.
So verschwanden alle Sachen in Niebuhrs großem Schreibtisch, aus ihm nulla
redemtio.
Diese Unthätigkeit meines
angeblichen Vorgesetzten gewährte mir indeß keine Muße; theils weil ich, nach
Altensteins be- <105:> stimmter Weisung, nunmehr eigenmächtig vorgehen
mußte, theils weil Einrichtungen und Ansichten, die schon von Potsdam aus bekämpft
worden waren, jetzt von neuem meine Thätigkeit in Anspruch nahmen. Hieher gehörte vor
allem die Frage über die Verwandlung der sogenannten Laßiten in Eigenthumsbauern. Viele
Gutsherren beschrieben sich als treffliche Väter einer wohlerzogenen, in allem freudig
und unbedingt gehorsamen Familie, an deren glücklichen Verhältnissen gar nichts zu
ändern sei. Hiervon war aber in der Wirklichkeit äußerst wenig anzutreffen, und die
Nothwendigkeit von Änderungen blieb selbst den Vertheidigern des Alten, zweifelsohne
Mangelhaften, nicht verborgen. Sie stellten jedoch Grundsätze auf, deren Befolgung den
Bauernstand zu Grunde gerichtet hätte, weshalb die Regierung in einem von mir entworfenen
Berichte lebhaft widersprach. Sie behauptete, das sogenannte Obereigenthum war keineswegs
für den Gutsherrn von großem Werthe, sondern ein Grund bedeutender lästiger
Verbindlichkeiten; denn jener durfte die Abgaben der Unterthanen gesetzlich nicht
erhöhen, den ordentlichen Laßiten nicht verjagen. Gegen den liederlichen Laßiten stand
der Weg Rechtens auf Exmission, auf Ausweisung allerdings offen, allein dieselbe war
schwerer als die eines Eigenthümers; weil der Beweis vorgehen mußte, daß kein Unfall
den Laßiten zurückgebracht und der Gutsherr die gesetzliche Unterstützung gegeben habe.
Jedenfalls durfte der Hof nicht eingezogen, er mußte neu besetzt werden. Der
Laßit hatte bisher das Recht auf freies Bauholz, auf Remissionen, auf Vertretung durch
den Gutsherrn bei der Unfähigkeit die landesherrlichen Abgaben zu bezahlen. Mithin würde
der Gewinn für den Laßiten bei Überlassung des Eigenthums häufig nicht so groß sein,
als der Verlust bei Aufhebung jener sogenannten Beneficien. So viel als kurze
Andeutung über ein oft unrichtig betrachtetes und behandeltes Verhältniß; ja dies zeigt
so viel Verschiedenheit <106:> der Abstufungen, der Rechte und Pflichten, daß eine
ganz allgemeine Verfahrensregel immer unpassend bleiben muß.
Andere Gegenstände, mit
denen ich schon in Potsdam beschäftigt gewesen, kamen wieder in meine Hände, so die
unglückselige Bepfandbriefung der Domänen, wodurch, wie gesagt, ein ungeheueres Kapital
um der geringen holländischen Anleihe willen allen einträglichern und heilsamern
Operationen entzogen und eine doppelte, thörichte Verwaltung eingeführt ward.
Unterdessen hatte man auf dem
Landtage in Berlin einen Entwurf zur Einführung einer Einkommensteuer ausgearbeitet, und
der Minister Dohna hatte geäußert: er finde dagegen keine großen Bedenken. Hier kein
Bedenken; er, der sonst gewöhnlich nur zu viele Bedenken sah. In Wahrheit stellte jener
Entwurf auf eine ungeschickte, eigennützige Weise Grundsätze auf, welche den Adel auch
hier fast steuerfrei gemacht, die übrigen Stände aber ungeheuer bedrückt hätten. Nur
einige Beispiele. Der Ertrag der Gewerbe und der Bauergüter sollte nach dem wahren
Werthe und nur mit Rücksicht auf öffentliche Lasten ausgemittelt werden;
dagegen der Ertrag der adelichen Güter nach der äußerst geringen ritterschaftlichen
Taxe und mit Rücksicht auf alle hypothekarischen und Personalschulden!
Gab ein Pächter jährlich 1000 Thaler, so ward angenommen, er habe davon jährlich 500
Thaler reinen Gewinn, und er steuerte nach diesem Maße; der adeliche Verpächter
hingegen, welcher baar und unbezweifelt 1000 Thaler empfing, zahlte die Steuer nicht von
diesem Einkommen, sondern von dem, was nach jenen äußerst niedrigen ritterlichen
Taxprincipien einkommen dürfte u. s. w. u. s. w.
Als ich (Regierungscommissar
bei dem nach Berlin berufenen Landtage) jenen ungerechten Grundsätzen bestimmt
widersprach, nannten mich die Urheber des Gesetzentwurfs <107:> einen Jakobiner. Ein
Geistlicher rief: Wir bilden das hochwürdige Corpus der heiligen Kirche, es muß
geschont werden. Pommern, schrie ein zweiter, reservirt sich jura!
Ein dritter: Ich reservire mich gegen diese Reservation! u. s. w.
u. s. w. Es war ein verwirrtes Hin- und Herreden ohne Ziel und Zweck. Das
Ungenügende dieser Pseudorepräsentanten der Nation, die Parteilichkeit der Ansichten,
die Entbehrlichkeit der Beschlüsse ward mir über alle maßen klar; Einzelnes
aufzuzählen lohnt nicht der Mühe. Das einzige praktisch merkwürdige Ergebnis war, daß
(nachdem man die Zeit vertrödelt) in der letzten Sitzung vorgetragen ward, man brauche
Geld; und nun binnen Einer Stunde ein neues Ausschreiben auf 300000 Thaler
beschloß, nach ebenso ungerechten und unvernünftigen Grundsätzen, wie die
frühern. Überall zeigte sich Einseitigkeit, Vorurtheil, Eigennutz. Die oligarchischen
Häupter entwarfen Vorstellungen an den König: die Cavalerieverpflegung auch künftig
allein dem contribuabeln, steuerpflichtigen Stande, d. h. den Bauern,
aufzulegen! Herr Geheimrath von G. erklärte: er könne es gegen seine
Gläubiger nicht verantworten, auch nur eine Metze Hafer abzuliefern. Er mußte selbst
über diese feierliche Protestation lachen, welche aber Chorus sehr beifällig aufnahm.
Herr von P. unterschrieb, indem er sagte: Mit den Wölfen muß man heulen.
Emendation
fort] fort D
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