BKA-Brandenburger Kleist-Ausgabe Start Übersicht Suchen Kontakt Andere interessante Websites Institut für Textkritik e. V.

[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

[ ]

H

Bruno Hennig, Marie von Kleist. Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist (nach eigenen Aufzeichnungen), in: Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung (Berlin), 12. 9. 1909, 291-293; 19. 9. 1909, 301f.; darin: 19. 9. 1909, 302

Marie von Kleist. Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist (nach eigenen Aufzeichnungen)


V.

Groß Gievitz den 18. [December 1811].

Nach verschiedenen Anordnungen zum bevorstehenden Fest: „… Heinrichs Todt zerreißt mein Herz. Ein Mensch mit diesen umfaßenden Anlagen, mit diesen Talenten, mit diesem Gemüthe, so nichts nutzig endigen wie ein Lafontainischer Romanen Held. – Mit einer ganz gemeinen Frau, wie man sagt, daß diese gewesen ist, in der er nicht einmal verliebt war, die häßlich, alt, Eitel und Ruhmsüchtig, und sich eine Célébrität hat geben wollen auf diese Weise. Nein Du hast kein Begriff von dem, was ich empfinde bey dem Gedanken. Für mich ist der Verlust dieses Menschen, der mir so ergeben war, unersetzlich. – adieu.\3\
Außer diesen gleichzeitigen Briefen finde ich in Marie von Kleists Papieren noch zwei spätere Aufzeichnungen über die Katastrophe vom Jahre 1811, die wohl beide im Jahre 1830 entstanden sind, wenngleich nur die eine datiert ist. Die an zweiter Stelle gedruckte scheint mir der Beginn eines größer angelegten Aufsatzes zu sein, zu dem das erste Stück nur eine vorläufige, skizzenhafte Niederschrift darstellt. Ich nehme dabei an, daß der, wie bei Marie gewöhnlich, etwas vage Begriff „poetische Natur“\4\ (in der eigentlichen Bedeutung des griechischen Wortes?) das Verbindungsglied für die beiden disparaten und nur durch Zufall in Maries Gedanken verbundenen Themen „Fernow“ und „Heinrich von Kleist“ bilden sollte. – Jeder der beiden Aufsätze steht für sich auf besonderem Bogen geschrieben.

VI.

„Der Aufsatz im Fernow\5\ über Raphael und über Bildende Künste überhaupt hat mich vielfach schmerzlich und angenehm berührt. Das Studium der Kunst versetzt mich in schöner lebendiger Jugendzeit und wieder in sehr schmerzlich ergreifende Momente meines Lebens. Die intimste und beste Freundin Heinrichs kann nicht leichtsinnig durchs Leben wallen. Jedes Studium beynahe muß sie zerreißend berühren!!! –
Fernown laß ich, anno 11, in der Zeit der Furchtbaren Katastrofe!! –
Dieser Theil war mir gar nicht erinnerlich, auch habe ich ihn vielleicht noch nicht gelesen. Sagen kann ich nicht, daß dieser Theil Neues für mich enthielt“ … (Folgt eine kurze, sehr allgemein gehaltene, günstige Kritik Fernows) … „Es (das Buch) spricht eine ganz poetische Natur aus, das ist bey mir alles gesagt, denn unter ganze poetischer Natur verstehe ich alles, was der Mensch fähig ist zu leisten. Das können nur wirklich Poetische Naturen verstehn, für alle andern ist es eine dunkle Phrase. Gewiße Menschen bedürfen überhaupt ganz verwandte Naturen, um verstanden zu werden, man lob[t] sie, man rühmt sie, ohne zu ahnden was sie sind.“ (Hier brechen diese Aufzeichnungen auf der Mitte der Seite ab.)
Aus diesen etwas unfruchtbaren Reflexionen der beinah 70jährigen ging nun aber der letzte, allmählich zu hohem, schönem Schwunge sich steigernde Nachruf an den toten Freund und seine Liebe hervor, den sie dann in richtigem Stilgefühl isoliert hat stehen lassen, ohne ihn mit einem andern Thema zu verbinden:

VII.

In Manze über Fernow den 17. Febr. 1830.

Ich laß den Fernow in Gievitz anno 11, als die Furchtbar[e] Katastrofe mich abzog von jeder geistigen Beschäftigung, mir sogar eine Art von Schauder für schöne Künste einflößte, die mich in Jugend und poetischen Zeiten versetzten, denen ein so grausames Ziel gesetzt war. Ich warf mich in Herders theologischen Schriften und in der Fichtischen Philosophie. Ich fand beruhigung in der Tugend, wie ich sie in allen unfällen meines Lebens gefunden. Gewaltsam war ich aus meinem Geleise gerißen, mit blutigem Herzen suchte ich die Spuhr meines verlornen Lebens, strebte nach Haltung. Der Verlust des einzigen Freundes, der mich durch und durch kannte, wäre schon hinreichend gewesen, ein Gemüth wie das Meine gänzlich zu zerreißen. Welchen Eindruck muste ein so bisares tragisches Ende auf meinen Geist, auf mein Herz, auf meiner Individualität machen. Ich war verloren ohne meine Kinder und sehr liebe Freunde, bey denen mir dieses unglaubliche Schicksal traf. Ich lebte still und eingezogen in meinem Zimmer. Das Lesen und wieder Lesen der letzten Briefe, geschrieben in den letzten augenblicken seines Daseins, war eine Art Trost durch den heftigen Schmerz, den sie in mir verursachten. Ich hofte, kein Sterblicher könnte den überleben, und so nährte ich mich von diesen Briefen. Je m’abreuvois de douleurs! je me nourrissois de douleurs. Oh! jamais tant que le monde éxiste, il n’a éxisté des lettres de ce genre, jamais une douleur comme la mienne. Elle étoit si gigantesque, sie fort hors de la vie vulgaire que cet éxcés servoit quelque fois a me tranquiliser. Alle große Schicksale der Alten, alle Dichtungen der Alten waren mir begreiflich. Ich sah deutlich eine höhere Macht. Hätte er diese Frau geliebt, so war es nichts. Daß er aber mit der selben glühenden Leidenschaft für mich zu den Füßen einer andern sich erschoß, davon hat die Menschheit noch kein Beispiel. Daß seine letzten Worte, seine letzten Gedanken nur mir waren, mit der selbigen Glut, wie in der ersten Zeit seiner Liebe, das geht über allen menschlichen Begriff, diese Glut, die er nur fühlen und ausdrücken konnte. Was ist alle Liebe der Sterblichen hier auf Erden, was sind alle Romane, alle Gedichte in Vergleich mit seiner Liebe und seinen Briefen. Solch ein Feuer konnte nur in seiner Seele, in seinem Herzen, in seinem Busen lodern. Aber eben daher muste ich sie verbrennen.\1\ Solche Briefe können nur für einen Gegenstand geschrieben sein, die sind das heiligste im Menschen. So spricht er sich nicht 2 Mahl im Leben aus und so kann sich auch keiner wieder aussprechen, weil Keiner so empfinden, so fühlen kann, wie dieser unbegreifliche Sterbliche!! Eine Poesie wie die in seinem Brief hat noch nie éxistirt, so wie nie eine solche Art Liebe, geschöpft aus allen Dichter[n] und Dichtungen der Vorwelt.“

\3\ Vgl. den ebenso abrupten Schluß in Kleists letzten Briefen.
\4\ Vgl. No. IV.
\5\ Carl Ludwig Fernow, Kunstschriftsteller, geb. 1763 zu Blumenhagen i. Uckermark, gest. 1808 in Weimar als Bibliothekar der Herzogin Amalie. Bekannt namentlich durch seine „Römischen Studien“ (3 Bände, Zürich 1806-1808), in derem drittem Bande auch der hier besprochene Aufsatz „Über Rafaels Teppiche“ enthalten ist. 1810 war „Fernows Leben, herausgegeben von Johanna Schopenhauer“ erschienen, ein Buch, das Arnim in Kleists Abendblättern günstig besprochen hatte.
\1\ Vgl. hierzu Minde-Pouet Brief S. 445, Anm. zu S. 10!

[ H ]

[ ]

Copyright © 2000 by Institut für Textkritik e. V., Heidelberg
Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
[ Webdesign: RR 2000 ]