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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Bruno Hennig, Marie von Kleist. Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist (nach eigenen Aufzeichnungen), in: Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung (Berlin), 12. 9. 1909, 291-293; 19. 9. 1909, 301f.; darin: 19. 9. 1909, 301f.

<301:> Marie von Kleist.
Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist
(nach eigenen Aufzeichnungen).
Von  Dr. Bruno Hennig.
(Schluß.)

Ich lasse nunmehr die Briefe, die Marie in Kleists Todesjahre aus Groß-Giewitz an ihren Sohn schrieb,\1\ folgen, ohne die von selbst einleuchtende Wichtigkeit einzelner Nachrichten, wie die von der letzten Geldsendung Ulrikes, von Kleists Plan, Adam Müller nach Wien zu folgen, u. a. besonders hervorzuheben. Die in Klammern gesetzten Teile der Datumszeile sind in den Originalen vom Empfänger hinzugefügt. Meine Eingriffe in die Interpunktion der fast ohne Punkt hinter einander fortgeschriebenen Briefe beschränken sich auf Kommata und Punkte. Die Orthographie ist natürlich unverändert geblieben, abgesehen von der durch eingefügte Punkte notwendig gewordenen Einsetzung der Majuskel an Stelle kleiner Buchstaben.

I.

Großen Gievitz par Neu Strelitz
[Juni 1811]

(Schluß eines 8seitigen bis hierher deutsch geschriebenen Briefes.)
J’ai envoié a Henri Kleist deux lettres par la Poste et deux par l’Empire(?). S’il n’a pas reiçu celles par la Poste, il doit aller al la Poste pour les reclamer absolument. L’une étoit du 5 ou 6 Juin pour lui annoncer la réception de sa lettre et lui demander ses\2\ ouvrages, (von hier an quer an den Seitenrändern geschrieben) et une autre du neuf, pour repêter mes demandes et lui dire que j’avois reçu la seconde lettre, qu’il m’avoit écritte. Il doit donc s’informer a la Poste, car elles sont partie de Strélitz, car ici il y a un ordre pour la poste comme nulle part. Kleist doit m’écrire quelques mots pour me dire, s’il a reçu les lettres, dont je parle, et s’il ne les a pas, se donner de la peine pour se les procurer.

II.

den 24. octobre 1811. Gr. Gievitz

(Nach Klagen über Vernachlässigung durch Sohn und Schwester, die beide nicht zum Geburtstag gratuliert haben:) „Überhaupt sind meine Bekannten recht nachläßig. Heinrich Kleist hat in diesen 4 Wochen einmal geschrieben. Obgleich ich ihm 4 Briefe bey verschiedenen Veranlaßungen zu geschickt habe, so ist keine Antwort auf diesen 4 Briefen erfolgt. Gehe doch gleich zu ihm und sehe, woran das liegt. Voïez, si sa situation est peut-être si triste, qu’il n’a pas même envie d’en parler. Je vous avouerai que mon intention étoit de garder l’argent, que sa soeur\1\ m’a remis pour lui, jus qu’a l’occasion, pour la qu’elle cet argent est déstinée,\2\ mais s’il étoit trop malheureux, je lui en donnerai une partie tout de suite. Seulement il faut que je sache, s’il est a Berlin, pour que l’argent puisse lui être remis et ne se perde pas. Or comme je ne reçois aucune nouvelle, je commence a craindre qu’il n’aie quitté Berlin dans son désespoir sans me le dire, et qu’il ne soit parti pour Vienne a pied et sans argent, et cela me feroit une peine inéxprimable, pouvant le soulager dans ce mal la. Ecrivez moi donc tout de suite s’il est a Berlin et ce qu’il fait. Allez y des que vous recevez cette lettre. Mais ne le remettez pas, je vous en prie, car il ne faut jamais remettre de soulager un malheureux. Vous recevez cette lettre Dimanche vers le soir. Allez tout de suite chez lui et puis écrivez moi dans le même instant, il est a Berlin, voila tout. Si vous apportez ces deux lignes encore le Dimanche avant 7 heures a la poste, je les reçois Mercredi et alors je puis y repondre Jeudi le 31 octobre, et il reçoit son argent le même jour ou le lendemain au plus tard. Il n’est donc plus que huit jours dans la peine. Ne soïez donc pas négligent. Lors qu’on ne sauroit secourir les gens par de l’argent, il faut dumoins les secourir par la bonne volontée. Nachschrift auf der ersten Seite des Briefes: Mais ne lui parlez pas de cet argent.

III.

Groß Gievitz le 31 oct.
[1811]

„… Je n’ai pas reçu de nouvelles de Henri Kleist, comme je vous priois de m’en donner, et pourtant je suis fort inquiette de son silence. Les Massenbach ne l’ont pas vu nonplus, m’écrit aujourd’hui Adelaide,\3\ ainsi donnez m’en tout de suite de nouvelles, je vous en suplie … (In anderem Zusammenhang:) Vers le 15 je serai de retour a Berlin, votre Pere m’écrivant que Winterfeldt\4\ y arrivoit alors …“
Am 27. November schreibt sie jedoch, noch immer aus Groß-Giewitz: „Denke Dir, lieber Junge, daß ich sehr krank gewesen bin, seit dem ich Dir das letzte mal geschrieben, drey Tage bettlegerig und die übrige Zeit auf dem Sophah. Schreiben thue ich Dir noch aus dem Bette. Ich habe solche Krämpfe gehabt, daß ich habe geglaubt, ich müste sticken.“ Und noch ihr Brief vom 18. Dezember (No. V) beginnt: „Meine Gesundheit ist noch immer übel“.
Es ist bekannt, daß man ihrer Krankheit wegen ihr Heinrichs Tod verheimlichen und seine Briefe lange vorenthalten mußte.\5\

IV.

den 10.\6\ December [1811].

Mein liebes gutes theures Kind. Den Gram, den ich über Heinrichs Todt habe, kann ich keinem Menschen aussprechen und am wenigsten Dir, der Du zu jung bist, um das ganze schreckliche dieser Sache einzusehn. Heinrich war ein vortrefflicher Mensch, in den meisten Dingen der Vortrefflichste, den ich je gesehn habe. Diese angeborene Güte, Liebe, Sanftmuth habe ich bey keinem Menschen noch nie so eingefleischt gefunden, kein Engel vom Himmel kann sie in einem höheren Grad besitzen. Auch war er von Natur gottesfürchtig und fromm. Französische Litteratur, umgang mit Freigeistern hatten leider Zweifel in ihm gebracht. Er rang, um sie loß zu werden, er kämpfte nach Überzeugung. Das Griff seinen schwachen Körper an, dem er in seiner Jugend gewiß geschadet hatte durch Genuß mancher Art. Übrigens war er ein Dichter. Und wenn er kein einziges Gedicht erzeugt hätte, so war er doch seiner Natur nach ein Dichter. Er war der Poetischste, der Romantischste <302:> Mensch, den ich je gesehn, und so war vieles in ihm, was wir nicht erklären können, noch begreifen. Er war würklich ein Genialischer Mensch, und in einem solchen giebt es viele Dinge, die sich nicht erklären laßen. Aber er war von einer Rechtlichkeit, Biederkeit, ächtheit des Caracters, die mir eigen tlich einen so großen Abscheu für allen Schein, für alles Prahlen, für alles Absichtliche im Lebensschein\1\ gegeben. Ach! er ist nicht mehr! ich habe einen Freund verloren wie wenige Frauen sich rühmen können einen zu haben. Sein Verlust wäre mir immer schmerzhaft gewesen, aber die Umstände, die ihn begleiten, machen das Gefühl zerstörend in mir. Wenn Heinrich mehr gebetet, mehr religieuse Bücher gelesen hätte, so hätte er diesen schauderhaften Entschluß nicht gefaßt. Wenige Menschen sind würklich ganz irreligieus, aber sie haben das Réligieuse Gefühl so im Hintergrund Ihres Herzens, daß in Ihrem Thun und Handeln wenig davon bemerkbar wird. Ach! Adolph beschäftige Dich jeden Tag mit Gott, sei von seinem Willen ergriffen, habe seine Gesetze immer vor Augen, trage sie über in allen Deinen Handlungen, um daß Du Seelig werdest und einen sichern Maaßtab für die Zeitlichkeit habest. Adolph schone Deine Gesundheit, denn auch das will Gott von uns haben, hast Du sie aber einst aufs Spiel gesetzt, so häufe nicht Verbrechen über Verbrechen, sondern vertraue Deine Fehler dem Mutter Herz …\2\

\1\ Vorher finde ich Heinrich Kleist nur einmal genannt, in einem Briefe aus Bialokosch vom 21. April [1810]: „… Hier on m’appelle en m’annonçant un Cavallier, qui demande a me voir. Je sors, je vois par derriere un homme baissé vers Lulu, et dans le premier instant je crois que c’etoit vous. Et qui étoit-ce? devinez? Eh bien? Allons qui étoit-ce? – Henri Kleist. – Non. – Rühle. – non. Henri Putkamer – oui, c’étoit lui qui est venu a pied de Franckfort passer les fètes ici …“
\2\ oder les? Marie schreibt am Wortanfang ein langes s, das hier dicht am unteren Seitenrand vom l kaum zu unterscheiden ist.
\1\ geschrieben: souer.
\2\ Vermutlich die Hauptmannsequipierung. Vgl. Briefe No. 188.
\3\ Adelheid von Massenbach, Maries Nichte.
\4\ Im Brief vom Juni 1811 (oben No. I) schreibt sie bereits, sie müsse vor dem Winter einige Wochen in Berlin zubringen, denn „der éxécutor des Testaments … wird wahrscheinlich gegen diese Zeit in Berlin sein.“
\5\ Siehe ihren Brief vom 12. Dez. in der „Gegenwart“ IV. No. 32, S. 89.
\6\ oder 16? Die Ziffer ist korrigiert. – Ist der Brief vom 10. 12., so hat Marie (nach ihrem in der „Gegenwart“ a. a. O. gedruckten Briefe vom 12. 12.) die letzten Briefe Heinrichs noch nicht erhalten. Nur von seinem Selbstmord ist sie schon ungefähr am 5. Dez., wie es scheint ohne nähere Details, unterrichtet worden. Von Henriette Vogel scheint sie in diesem Briefe daher noch nichts zu wissen.
\1\ Schreibfehler, durch das vorangegangene „Schein“ veranlaßt?
\2\ Ich drucke diese Ermahnungen mit ab, um zu zeigen, daß die vorhergehende Charakterschilderung schon teilweise durch pädagogische Nebenabsichten beeinflußt ist.

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Letzte Aktualisierung 29-Jan-2003
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