Bruno Hennig, Marie von Kleist. Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist
(nach eigenen Aufzeichnungen), in: Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung (Berlin),
12. 9. 1909, 291-293; 19. 9. 1909, 301f.; darin:
12. 9. 1909, 292
Marie von Kleist. Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist (nach eigenen
Aufzeichnungen)
Maries Verwandtschaft mit Heinrich ist nicht so nahe, wie die nach ihrem eigenen Vorgang
in der Kleistliteratur üblich gewordene Bezeichnung Cousine erwarten läßt. Ihr Mann
gehörte dem Muttriner, Heinrich dem Damenschen Ast einer Geschlechtslinie an, die sich
bereits im 15. Jahrhundert in diese beiden Äste teilt. Also lediglich
Geschlechtsgenossen, nicht Vettern im eigentlichen Sinne sind Friedrich Wilhelm und
Heinrich von Kleist. Marie ihrerseits stammte aus einer italienischen Familie, die erst um
die Mitte des 18. Jahrhunderts nach Preußen gekommen zu sein scheint und deren Name hier
um die Mitte des 19. wieder untergegangen ist. Sie war die Tochter des 1778 verstorbenen
Geheimen Rates Albert Samuel v. Gualtieri, dem erst im Jahre 1769 ein preußisches
Anerkennungsdiplom seines Adels ausgestellt worden war, und der Margaretha Bastide. Außer
einer Schwester, die an den vom Jahre 1806 her unrühmlich bekannten Obersten
v. Massenbach verheiratet war, kannte die Kleist-Forschung bisher noch einen Bruder
Maries, der als Major in den diplomatischen Dienst übertrat und als preußischer
außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister in Spanien, wie es scheint
durch Selbstmord, im Jahre 1805 starb. Die Rangliste von 1806 nennt jedoch noch zwei
Kapitäne, einen Stabskapitän und einen Premierlieutenant v. Gualtieri, die nach der
Annahme der Adelslexika sämtlich zur Deszendenz des 1769 in den preußischen Adel
aufgenommenen Albert Samuel gehören müssen. Wenigstens für einen finde ich in Maries
Briefen die nahe Verwandtschaft mindestens sehr wahrscheinlich gemacht: In einem Brief,
den sie im Dezember 1808 an ihren Sohn richtet, beklagt sie unter dem vielen Unglück
dieses Jahres namentlich la mort de votre bon et admirable oncle que je pleure
tous les jours. Der zweiten Auflage der Rangliste von 1806 (vom Jahre 1828)
zufolge starb im Jahre 1808 der Kapitän v. Gualtieri im Regiment Arnim. Marie
betrachtete sich als Berlinerin. Obwohl ihr Mann in Potsdam in Garnison stand und sie
selbst sowohl in den letzten Jahren vor der Ehescheidung als auch häufig nachher zu nicht
nur vorübergehendem Aufenthalt ihre Freundinnen und Verwandten auf dem Lande zu besuchen
pflegte, schreibt sie doch in einer ihrer undatierten Aufzeichnungen, wohl aus den
zwanziger Jahren, es sei ihr schwer geworden, Berlin zu verlassen, ein Ort, wo ich
gebohren, erzogen, alt geworden.\1\
Einem oder dem anderen Hofe der Residenz, möchte ich annehmen, hat sie schon frühzeitig
nahegestanden, vielleicht als Hofdame angehört.
16 Jahre älter als Heinrich
ragt Marie v. Kleist doch etwas tiefer ins 18. Jahrhundert hinein als dieser. Sie
verfällt in ihren Briefen leicht und wie gewohnheitsmäßig ins Französische in
ein Französisch freilich, das sie nicht eben mit höfischer Eleganz handhabt. Aber auch
in ihrem Deutsch hört man gelegentlich die Rokkoko-Eindrücke ihrer Jugend nachklingen.
Lasse mich, mich erwärmen an den Stralen Deiner Tugenden schreibt sie einmal
an ihren 17jährigen Sohn. Alles Gespreizte und Unnatürliche jedoch, das unserm Empfinden
nach solchen Phrasen anhaftet, war ihrem Wesen völlig fremd. In ihrem warmen,
lebhaften Empfinden schmolz sie unbewußt allen überkommenen Rokkokozierrat zu
organischen Gebilden um, und selbst dem verblasenen Tugendbegriff, der stets
das Zentrum ihrer Lebensphilosophie gebildet hat, wußte diese warmherzige,
charakterstarke Frau für ihr eigenes Leben einen sehr konkreten Inhalt zu geben, der ihr
Ruhe, Festigkeit und einen sicheren Richtepunkt in manchen Stürmen gegeben hat. Nie
zeigte sie eine bloße kalte Verständigkeit sie, deren ganzes Wesen nach ihrem
eigenen Ausdruck Herzlichkeit war. Diese Wärme ihres Empfindungslebens und die
daraus hervorgegangene, vielleicht nicht eigentlich tiefe, aber ihrer selbst gewisse und
Tun wie Denken stets wesentlich mitbestimmende Religiosität weisen Marie v. Kleist
trotz einzelner Reminiszenzen an die Welt Friedrichs des Großen, in der sie aufgewachsen
war, doch einer völlig anderen Epoche zu. Verstand bei mir ist Begeisterung
des Gemütes schreibt sie echt romantisch, die hervorgehobenen Worte mehrfach
unterstreichend. Nur war ihr andererseits auch jedes unklare Schwärmen und jedes
unkritische Gehenlassen ihres Dranges nach reiner, herzlicher Freundschaft fremd. Es war,
wie Hedwig v. Olfers, die ihr ebenfalls nahegestanden hat, bei ihrem Tode schrieb:
Der Begriff von Geist und Herz konnte bei ihr nicht getrennt werden; ihre Gedanken
waren von der Wärme und Innigkeit gütevoller Gefühle, und diese Gefühle von der
Besonnenheit und Klarheit ihres Verstandes durchdrungen.\1\
Sie hatte keine
hervorstechenden äußeren Talente, auch kein eigentlich schriftstellerisches,
trotz ihres treulich betätigten Grundsatzes So lange der Mensch sehen kann, muß er
schreiben und auch trotz manch treffenden Ausdruckes und trotz des hohen Schwunges,
zu dem sie sich hie und da in ihren Aufzeichnungen erheben kann. Aber sie war eine
Lebenskünstlerin von nicht gewöhnlicher Begabung. Voll lebendiger Anteilnahme an allen
künstlerischen, insbesondere allen literarischen Erscheinungen, und auch für
philosophische und wissenschaftliche Lektüre interessiert, war sie, wie es scheint,
gewöhnt, sich mit jedem Werk, das ihr Interesse erregte, sich in einer kurzen, am
liebsten schriftlichen Kritik auseinander zu setzen. Nur übte sie jene höhere Art der
Kritik, die selbst dem Unbedeutenderen gegenüber in erster Linie auf das Positive
gerichtet ist, und die, nicht als eigentlicher Zweck der Lektüre betrachtet, deshalb auch
den literarischen Genuß nicht beeinträchtigt. Wir wissen, daß Kleist ihr seine
Manuskripte zuzusenden pflegte,\2\ und für
ihre Anteilnahme an seinen Werken gibt einer der unten gedruckten Briefe einen neuen
Beweis. Aber das eigentlichste Gebiet ihrer Lebenskunst war doch der gesellige Verkehr von
Mensch zu Mensch. Sie nahm es ernst mit allen ihren Beziehungen zu Mitmenschen, ja sie war
gewöhnt, jede auf tieferer geistiger Verwandtschaft basierte Freundschaft als
unmittelbare Fügung Gottes zu betrachten. Das gab ihrem von Natur warmen, herzlichen
Entgegenkommen auch einen sittlichen Ernst, der wohl geeignet sein konnte, in allen, denen
sie nahe getreten ist, jenen Enthusiasmus zu erregen, den sie in ihrem Alter
einmal im Gegensatz zu Passion und Liebe als die eigentliche
Empfindung bezeichnet, die ihr in ihrem Leben stets entgegengebracht sei. Eine besondere
Seite ihres lebendigen Interesses für den Mitmenschen waren ihre ausgesprochenen
pädagogischen Neigungen vielleicht weniger glücklich in der Praxis betätigt, in
den mit Ermahnungen und Warnungen ein wenig überladenen Briefen an den Sohn, als in
trefflichen theoretischen Erörterungen.\3\
Der Überlegenheit ihrer eigenen ernsten Liebefähigkeit über die gewöhnliche
Oberflächlichkeit gesellschaftlichen Treibens war sie sich wohl bewußt. Eine
Aufzeichnung über ihren Umgang mit der Königin Luise läuft in die dankbare Anerkennung
aus, daß doch einige Male in diesem kalten Leben die großen,
riesenhaften Forderungen ihres Herzens befriedigt worden seien, d. h. die
Forderung von Geist, Verstand, Gemüth, verbunden mit der größten Liebe für mich
[und] mit einer Würdigung meines Geistes. Daran schließt sich dann aber eine
Klage, wie selten sie doch auf Erden solche wahre Anteilnahme am Nebenmenschen gefunden
habe: Die meisten Menschen habe ich gratis geliebt, mich wenig darum bekümmert wie
sie gegen mich gesind waren, ob sie mich nur verstehn konnten. Ihr Lieben war kein Lieben,
es war kein Hassen, aber ich amusirte sie, das ist überhaupt, was die
meisten Menschen Lieben nennen. Wenn man betrachtet, wie lau, wie zerstückelt die
menschliche Liebe zu Gott ist, so kann man sich nicht wundern, das es so wenig Liebe giebt
für den Neben Menschen. Mangel an Nachdenken ist der Haupt Grund zu dieser Kälte im
Menschen. <293:>
\1\ Sie war geboren am 24. Oktober 1761 und
starb am 16. Juni 1831 zu Manze in Schlesien. Ihr Grab befindet sich in Grün-Hartau,
dem Pfarrdorfe von Manze.
\1\ Kondolenzbrief an Maries Sohn
Adolf, vom Empfänger datiert Berlin 23. 6. 31.
\2\ Werke V, S. 327, 492.
\3\ Ich führe zur Illustrierung einige
Sätze aus ihrem Aufsatz Über Töchter-Erziehung höherer Stände an: (Nach
Klagen über die gewöhnliche Erziehung durch Gouvernanten.)
Keine Ahnung
haben diese Miethlinge von dem, was wahre Erziehung ist. Sie halten Erziehung für eine
Arbeit, die zu gewissen Zeiten und Stunden abgemacht werden kann, wie man ein Zimmer
Schäuert, ein Kleid garnirt &c.
Erziehen heißt bey den meisten
Menschen Verbieten, Befehlen und sagen, das muß man thun, das muß man lassen. Ach! sie
ahnen nicht, daß das Haupt-Erziehungsprinzip ist: Sein
Sieht der Zögling
nichts als Vortreffliches, so wird er vortrefflich, ohne es zu ahnen, ohne es zu wissen,
und das ist die wahre Erziehung
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