Bruno Hennig, Marie von Kleist. Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist
(nach eigenen Aufzeichnungen), in: Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung (Berlin),
12. 9. 1909, 291-293; 19. 9. 1909, 301f.; darin:
12. 9. 1909, 291f.
Marie von Kleist.
Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist
(nach eigenen Aufzeichnungen).
Von Dr. Bruno Hennig.
Erst die neueste Kleistforschung hat begonnen, sich der Person Marie v. Kleists
zuzuwenden, die als des Dichters Cousine und vertraute Freundin, wie seine Briefe erkennen
lassen, in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hat und die doch in seiner Biographie
nur hier und da als ein ungreifbares Schattenbild plötzlich und flüchtig zu erscheinen
pflegt. Aber nur eben die Aufmerksamkeit ist neuerdings auf sie gelenkt worden, noch
ists nur ein Name, keine Gestalt. Und doch war Marie von Kleist eine lebensvolle,
nach Betätigung drängende Persönlichkeit, die, mitten im reich bewegten geistigen und
Hof-Leben der preußischen Hauptstadt stehend, in diesem Kreise gerade den Besten ihrer
Zeit genug getan hat wie wenige: die nahe Freundin Luises, die zuerst der preußischen
Königin die Welt der Literatur erschloß und damit den Grund legen half zu der
folgenreichen Verbindung preußischen Hof- und deutschen Geisteslebens; Heinrich v.
Kleists vertrauteste, allein ebenbürtige und trotz Henriette
Vogel letzte Freundin und Geliebte; und in ihrem Alter wieder als mütterliche
Freundin Elisa Radziwills deren Trost und Beistand in schweren Herzenskämpfen.\1\
In der Kleistforschung hat
zuerst Siegfried Rahmer durch sein Kleistproblem (1903) die Aufmerksamkeit auf
sie gelenkt, nachdem schon 1873 durch Paul Lindau jene drei unvergleichlichen Briefe
veröffentlicht waren, die Kleist kurz vor seinem Tode, am 9., 10. und 12. November 1811,
an seine Cousine gerichtet hat\2\ und
die als einzige Überreste eines reichen Briefwechsels ein
plötzliches helles Licht auf einen Freundschaftsbund werfen, der in all seiner Reinheit
und Schönheit uns sonst völlig verborgen geblieben war. Rahmers Hypothese, daß ein
Zusammenhang zwischen Maries Ehescheidung und ihren Beziehungen zu Heinrich bestehe, ist
inzwischen von Minde-Pouet, den Herausgeber
von Kleists Briefen, widerlegt worden. Das schmälert indes Rahmers Verdienst nicht, die
Forschung nachdrücklich auf diese bisher vernachlässigte Freundin des Dichters und ihre
Bedeutung für seine letzten Lebensjahre hingewiesen zu haben. Er selbst hat seitdem neue
Nachrichten über das Ehepaar Friedrich Wilhelm und Marie v. Kleist erbracht,\3\ und von Minde-Pouet ist die Publizierung
eines größeren Materials, das er zum Teil bereits in seiner Edition der Kleistbriefe
verwertet hat, wohl demnächst zu erwarten. Im Folgenden bin ich in der Lage, ebenfalls
einige Briefe und Aufzeichnungen Maries darzubieten, die ich auffand, als ich in den
letzten Monaten zu völlig anderen Zwecken den nach Berlin
vererbten Teil ihres schriftlichen Nachlasses durchlas. Sie werden, hoffe ich, das zu
erwartende Material Minde-Pouets in willkommener Weise ergänzen.
Der Versuch einer
biographischen Skizze dieser Frau wird sich vielleicht einmal lohnen, wenn erst das ganze
Material vorliegt, denn ihr Lebensweg verbindet aufs eigentümlichste und <292:>
charakteristischste verschiedene Centren und verschiedene Epochen preußischer Geschichte.
Heute sollen nur auf Grund des ganzen mir zur Verfügung stehenden handschriftlichen
Materials einige Angaben über äußere Lebensumstände und Charakter dieser Frau geboten
werden, soweit sie zur Illustrierung ihres Verhältnisses zum Dichter und zur Erläuterung
ihrer unten wiedergegebenen eigenen Aufzeichnungen notwendig erscheinen.
\1\ Über ihr Verhältnis zur Königin
Luise sind wir durch Bailleus großes Werk jetzt unterrichtet (s. namentlich
S. 114ff.) Über Elisa Radziwills freundschaftliche Beziehungen zur Familie Marie von
Kleists gedenke ich selbst demnächst ein größeres Material zu veröffentlichen.
\2\ Die Gegenwart, Bd. IV,
Jahrg. 1873 No. 31; jetzt im 5ten, von Minde-Pouet bearbeiteten Band der Schmidtschen
Kleistausgabe No. 190-192. Es sind das übrigens nicht die letzten Briefe Heinrichs an
seine Cousine: die in Kleists letzten Aufträgen an Peguilhen (in der
Gegenwart IV No. 32 S. 89) genannten Briefe müssen noch anderen Inhaltes
sein, denn Marie spricht (ebenda) von einer Bitte ihres Vetters, dem Rendanten Vogel die
Begräbniskosten zu erstatten, die in den uns bekannten Abschiedsbriefen nicht enthalten
ist. Erst von diesen Briefen konnte Marie mit Recht sagen, daß sie in den letzten
Augenblicken seines Daseins geschrieben seien (unten No. VII).
\3\ Heinrich v. Kleist als Mensch und
Dichter, Berlin 1909, I, 1, und über Marie besonders, allerdings ohne die nötigen
positiven Grundlagen, S. 392 ff. Heinrichs Vetter wird in der Kleistliteratur
gewöhnlich Christian benannt. Ich habe hier (in Übereinstimmung mit Schuster, dem
Herausgeber der Tagebücher Delbrücks) den richtigen Namen nach der Familiengeschichte
wieder eingesetzt, die ihn als Friedrich Wilhelm Christian bezeichnet, die beiden ersten
Namen hervorhebend. Er war in Dessau mit dem dortigen Erbprinzen Friedrich, nicht, wie
Rahmer eigentümlicherweise annimmt, mit dem späteren König Friedrich Wilhelm III.
zusammen erzogen worden. (Geschichte des Geschlechts v. Kleist III 3, S. 136, vergl.
auch Delbrücks Tagebücher I 63.)
Emendation
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