VII. Noch etwas
über den Unterschied des antiken und modernen Theaters.
Um den ganzen höchst wesentlichen
Unterschied der alten und neuen Kunst mit völliger
Bestimmtheit aufzufassen, muß ich einladen, sich zwei
gleich große Räume zu denken: in den Mittelpunct des
einen Raums denke man sich eine antike Statue; auf
den andern Raum hin versetze man eines von jenen runden
Gebäuden ganz neuer Erfindung, in deren Mittelpunct
sich der Zuschauer hinbegiebt, und nun durch die Malerei
der Wände und den Lichteffect gerade den Eindruck
erhält, als befände er sich im Mittelpunct einer reichen
und schönen Gegend; ein Panorama meine ich.
– Vergleichen wir nun die beiden Räume mit einander,
so finden wir folgenden höchst characteristischen
Unterschied: im ersten Raume steht das Kunstwerk,
die Statue im Mittelpunct, und der Beschauer bewegt
sich darum her; er muß es von allen Seiten umhergehend
betrachten, wenn er es verstehen will; mit andern
Worten, das Kunstwerk ist die Sonne, der Zuschauer
hingegen, der Planet. Im Panorama andrerseits kehrt
sich das ganze Verhältniß des Betrachters und des
Kunstwerks um: hier steht der Zuschauer im Mittelpunct,
und das Kunstwerk läuft um ihn herum; der Betrachter
ist hier die Sonne und das Kunstwerk ist der Planet. –
Wie die Blicke der Betrachter jener Statue nun alle
sich im Mittelpuncte, eben beim Kunstwerke begegnen
und kreuzen, so war das ganze Streben der alten Welt
immer auf die Erzeugung eines Mittelpunctes der Kunst
hingerichtet, und dies sowohl in jeder einzelnen Kunst,
als im Leben überhaupt, sichtbar. Erst Athen, dann
Alexandrien, dann Rom, sind solche plastische Mittelpuncte,
solche große zusammen gedrängte Werke, die zwar nicht
der Wille der einzelnen Alten, aber doch das Streben
des ganzen Alterthums erzeugen mußte. Mit innerer
Kraft, mit menschlicher Kunst die Sonne zu erschaffen,
um die sich das ganze unruhige Leben bewegen, an der
es sich halten könne, darauf hin wirkten fast alle
große Thaten des Alterthums. Jedes einzelne Gebiet
der alten Welt hatte Nationalkunstwerke der Art, im
höchsten Sinne des Worts; Tempel, Altäre, Statuen
der Götter. Rom ruhte nicht eher, als bis es alle
diese einzelnen Nationalgötter, diese einzelnen plastischen
Mittelpuncte, in einen einzigen, allermittelsten Tempel
versammlet, mit andern Worten, es ruhte nicht eher,
als bis es einen einzigen plastischen Mittelpunct,
ein einziges Pantheon zu Stande gebracht. – Werfen
wir nun dagegen einen raschen Blick auf die neue Welt,
nicht auf die beiden letzt verflossenen Jahrhunderte,
in denen sich ganz neue Zustände bereiteten; aber
auf die Zeit von Carl den Großen, bis auf die Reformation.
Von einer Hauptstadt der Welt, von einem Streben eine
solche zu erzeugen, ist kaum mehr die Rede, der Glaube
an menschliche Werke ist verschwunden; Rom ist dahin,
und größeres schien die bloße menschliche Kraft nicht
zu vermögen. Wie die Alten das Göttlichste, ein Werk
der Kunst, in den Mittelpunct stellten, und das ganze
Universum ihres Lebens <46:> sich darum her
bewegte, so wird von den Neueren die ganze Natur vergöttert;
nach allen Seiten sieht der Mensch in die Unendlichkeit:
das Ferne, Große, Weite, Reiche, erzeugt nun die göttlichen
Empfindungen in ihm, die in der antiken Brust, durch
das Nahe, Bestimmte, Gedrängte, Endliche erweckt wurden;
und so ist die Malerei seinem Gefühle, seiner ganzen
Natur willkommener. Die Beziehungen der Dinge auf
einander, das Bedeutende in ihrer Zusammenstellung,
ist dem neuen Menschen viel wichtiger, als die abgesonderte,
einzelne Tüchtigkeit und Trefflichkeit der Dinge.
Deutungen, Symbole, Allegorien, sieht der Mensch nun
in allen Verknüpfungen und Verbindungen, und so liebt
er mehr den ruhigen festen Standpunkt; von dem aus
ungestört, durch eigne Bewegung, die magischen Figuren,
welche die Natur in ewigem Wechsel erzeugt, mit Sicherheit
wie ein großes und unendliches Panorama betrachtet
werden können. – In den redenden Künsten der
Alten war menschliches Maaß der Bewegung und des Tons
die Hauptsache; den Neueren ist das Gespräch der Natur
wichtiger, den Alten das Gespräch des Menschen; daher
werden die Naturklänge dem neueren Menschen so bedeutend,
Reim und Assonanz bemeistern sich der ganzen Poesie;
die Klänge endlich reißen sich unter der Gestalt der
Musik eigenthümlich los, und begleiten als reinstes
Mittel der Begeisterung allen Dienst der Kunst. –
Wenden wir jetzt diese Betrachtung näher auf das Theater
an. Das alte Theater zeigt uns das plastische in der
Bewegung; in den kleinsten Raum wird die größte Handlung
zusammen gedrängt; das neue Theater ist durchaus malerischer
Natur, ein unendliches Panorama in der Bewegung; der
Zuschauer in Ruhe, die Bühne im zauberhaften Wechsel
des reichsten, bewegtesten Lebens; da hingegen im
antiken Publicum, sich das ganze wirkliche Leben in
seiner üppigsten Fülle, um die einfache ruhige Handlung
auf der Bühne zu bewegen scheint. Einheit und Zusammenhang
der Handlung sind in beiden das Erforderniß aller
Kunst, aber auf dem antiken Theater, um das Ganze
noch mehr zu concentriren, auch Einheit des Orts und
der Zeit; in derselben Tragödie durchaus keine Veränderung
der Decoration, keine poetische Zeit auf der Bühne,
welche rascher verflöge als die wirkliche Zeit; in
der neuen Welt und bei Shakespear beständige Verwandlung
des Orts, die Ereignisse langer Jahre in eine Stunde
zusammen gehäuft; die entferntesten Dinge durch die
Zaubereien der Bühne magisch an einander gereiht,
um tiefe Allegorien des Lebens und der Natur durch
die wunderbare Zusammenstellung bezeichnen zu können.
– Naturklänge, späterhin die Musik, offenbarten sich
unsichtbar durch alle theatralische Darstellungen
der Neuern um die grellen Farbencontraste, die hingeschrieben
werden mußten, damit das Ganze seine tiefe, symbolische
Wirkung machen konnte, um diese zu mildern, zu verflößen,
ohne jedoch die heiligen Zeichen selbst in ihrer Deutlichkeit
zu stören. – Unser gegenwärtiges Theater in so tiefem
Verfall es sich befindet, trägt in seiner ganzen Form
noch die Spuren jener modernen romantischen Bühne.
Das Orchester, die Scheide von Musik, die das idealische
Leben der Bühne noch bei uns vor dem wirklichen Leben
des Parterres trennt, ist der Ersatz für die Abwesenheit
des Gottes, der bei den Alten grade an derselben Stelle
stand; die Musik ist das <47:> einzige Band
unsrer Bühne mit der Religion, mit den allgemeinen
religiösen Gefühlen unsers Herzens, sie löst die unfreundlichen
Contraste sogar jenes fabricirten nachgemachten ifflandischen
Familienlebens, mit dem wirklichen Leben, – die beide
grade deshalb, weil sie auf ein Haar einander ähnlich
sehn, in desto engherzigere Collisionen in der Seele
des Zuschauers gerathen, – diese sogar löst sie in
eine Art von Beruhigung auf, und ist deshalb bei allen
unsern Vorstellungen durchaus unentbehrlich. –