VI. Die Schule
Johann von Müllers.
Es sind jetzt einige zwanzig Jahre,
seitdem mit ungewöhnlich männlicher Kraft, mit seltener
Gelehrsamkeit und allen Erfordernissen eines großen
Beginnens ausgerüstet, Johann von Müller in seiner
eignen Manier die Historie seines Vaterlandes schreibt
und noch überdies bei jeder großen Gelegenheit der
Welt irgend ein bedeutendes Wort oder Muster vor Augen
hält. Wer von den später gebornen Deutschen kann <40:>
seiner eignen Jugend, ohne des Einflußes gedenken,
den dieser Meister auf ihn gehabt? – Die glückliche
Indiskretion, welcher die Bekanntmachung seines Briefwechsels
zu verdanken ist, hat allein so viel Herzen für Wissenschaft
und Alterthum entzündet, als die meisten Lehrstühle
der Historie in Deutschland zusammen genommen. Wie
schwer wird es Herr zu werden über die eigne Dankbarkeit,
und ihr Schweigen aufzulegen, wenn es darauf ankommt
ein freies Wort über ihn zu sagen! – Freilich
wer so wie er, theils von der Natur dazu berufen ist,
theils noch, mit Lessing, sich Knall und Fall entschlossen
hat, in der Wissenschaft „ihm selbst zu leben“ –
was soll über den die Kritik: zumal ähnliche Eigenheit
in Deutschland selten ist, an der seine Geistesform
erprüft werden möchte, ob Bestand und Ewigkeit in
ihr sei.
Aber
zuförderst giebt es jetzt Nachkommen seines Geistes,
deren Verhältniß zum Ahnherrn nicht gleichgültig ist,
weil es viel darauf ankommt, den erhabnen Anstoß welchen
er gegeben, frei von allen Unwesentlichkeiten, fortgesetzt
zu sehn; und dann, da der größte Gewinn des Lebens
darin besteht, kluge und innige Zeugen seines Wirkens
und Strebens unter den Zeitgenossen gefunden zu haben,
wer kann sich die Freude versagen, grade seinem Meister
solch Zeugniß abzulegen? Wer endlich, da der leichteste
Zweifel an das recht Bewunderte in der Seele zum Zorne,
und das Mißverstehn des recht Geachteten zu Bitterkeit
und zum Unmuth wird, wer kann sich versagen ihm das
Gepräge zu zeigen, das er in uns hinterlassen, ferner
die Stellen, wo man ihn minder begreift, und das fremdartige
Beiwesen, wovon der vortrefflichste selbst nicht verschont
bleibt, und welches das Urtheil der flacheren Menge
doch so leicht besticht oder verderbt. – Es ist
den Zeitgenossen nicht gleichgültig, ob sie es in
Worten ausdrücken können, wer der Johannes Müller
sei, den sie seit zwanzig Jahren mit Ehrfurcht und
Scheu nennen, wo seines Lebens Kern und bleibende
Gestalt gefunden werde, an welchen Zeichen die Jugend
ihn finden und die Nachwelt ihn erkennen werde.
In
einer so thatenreichen Laufbahn, als die Seinige,
ist Raum genug für zwei Leben; theilen wir demnach
dieselbige, wie die Geschichte eines Volks, in zwei
Perioden; deren eine bis auf die Erscheinung des vierten
Theils seiner Schweizergeschichten im Jahre 1805 klar
vor uns da liegt, zumal da das Geheimniß einer schönen
Jugend durch freundschaftliche Voreiligkeit verrathen
worden, die andre hingegen, wie es das Ansehn hat,
glänzendere und wirksamere noch erst erfüllt werden
soll, und in Zukunft einen eben so gewissenhaften
und begeisterten Zeugen finden möge. Wir halten uns
bescheiden an die eine, an die erste!
Auch
ich habe mich hinreichend in der Kälte geübt, welche
die gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit gesitteten
Leuten zur Pflicht machen, und die auch der Natur
der Umstände angemessen ist, wie ein Fieberschauer,
wenn eine jähe und heftige Erhitzung vorangegangen –
dennoch kann ich die unanständige Begeistrung vorstehender
Zeilen nicht unterdrücken. Wer, wie ich eben jetzt,
einmal wieder zu <41:> den Reisen der Päpste
zurückkehrt, wird sie verstehen und schonen. In dieser
vortrefflichen Schrift zeigt sich am reinsten und
offensten die ausserordentliche Natur des Autors.
Ist irgend einer von den Feldherrn unsrer Literatur,
Winkelmann, ja Lessing nicht ausgenommen, unter dem
Zauber des wieder erwachenden giechischen und römischen
Alterthums so gerecht geblieben, als Müller?
Damals, als Friedrich und Joseph die Tonangeber von
Europa waren, als Deutschland im ersten Rausch einer
geistigen Revolution allen Autoritäten des Herzens
abzuschwören, und allem Beistande der Jahrhunderte
zu entsagen, und auf das kümmerliche Licht des Augenblicks
sich zu beschränken schien – ward er – der
in den Sinn jeder Parthei, also auch der Aufklärung
einging, wie wenige – der Wortredner derjenigen,
über welche die Zeitgenossen alle Schmach ausschütteten; –
Vertheidiger der Päpste. –
Wenigen
Menschen ward die Klarheit und Unbefangenheit des
Blicks bei Würdigung der Partheien, und die Characterschönheit
im Beistande der unterdrückten zu Theil, welche aus
diesen wenigen Blättern hervorleuchtet. Darin nemlich
beruht alles republicanische Wesen wie alle Staatskunst:
klare Erkenntniß der unendlichen Partheien, deren
rastloser und gewaltiger Conflict das ausmacht, was
wir Gesellschaft nennen, und dann, beständiges Zugegensein,
Fördern, Beistehn, da – wo irgend eine Parthei,
welche zum Gleichgewichte des Ganzen nothwendig ist,
schwankt, oder ihrer selbst vergißt. Dorthin, bis
das Gleichgewicht hergestellt ist, alle Gewichte seines
Genies werfen, den einschlummernden Geist dieser Parthei
anregen und spornen, ihr vorfechten – damit sie
lebendig erkenne, welche Waffen ihr noch zu Gebot
stehn, und wie selbige gebraucht werden müssen. –
Nicht blos auf die Seite der äußeren Armuth und Noth
soll sich der souveraine Geist werfen, wenn es auch
nicht grade unanständig ist, sich ihn als einen hülfreichen
Genius für die unterdrückten Zeitgenossen zu denken.
Es giebt auch unsichtbare Noth, unterdrückte Ideen,
die belebt, gehoben und bewaffnet werden wollen. Diese
erhabene Beweglichkeit und Unbefangenheit des Geistes
gegen alle einzelnen Partheien, neben der Kraft jede,
wenn es die Umstände erfordern, zur Herrschenden zu
erheben – bezeichnet das wahre Talent zur Regierungskunst,
wie zu aller ächten Kunst überhaupt. Wo sie sich findet,
wird es auch an reinem eigenthümlichen Stil des Lebens
und der Denkungsart nicht fehlen; solche Naturen können
sich getrost in jedes Feld werfen, welches Schicksal
oder Neigung ihnen eröffnen mögen; keine bestehende
Form der Wissenschaft oder des practischen Lebens,
kein Wetter der Zeit oder des Glücks wird ihrer innerlichen
Gesundheit etwas anhaben können, in wiefern sie nur
fortdauernd die Kräfte üben, welche der Unbefangenheit
und Unpartheilichkeit die Stange halten; in wiefern
sie ihre Jugend bewahren, das heißt den Stolz unter
allen den unendlichen Partheien, welche sie verstehn
und zu leiten wissen, nun selbst wieder eine Parthei
zu bilden, wie es dem Menschen ziemt, der, wenn er
auch viele Länder und Völker und Menschen übersieht,
doch an einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit
und an eine bestimmte, wenn auch noch so erhabne Hand-
<42:> lungsweise selbst wieder gewiesen ist.
Ein Vaterland, einen Boden, wo er sein Heereslager,
seinen Waffenplatz aufschlage, braucht jeder Held,
also auch der Wissenschaftliche; wäre er allgegenwärtig,
überschaute er das innerliche Getriebe aller Staaten,
Helden und Herzen, so könnte er keinen Feind haben,
und nach menschlicher Ansicht der Dinge auch nicht
Held sein. Also wie viel Partheien in dem Vaterlande
seines Herzens er auch übersehn und auf die beschriebene
Art beherrschen möge, so wird er dennoch nur ihnen
gegenüber unpartheiisch heißen können; partheiisch
aber selbst wieder dem Feinde gegenüber, der die von
ihm befriedigte Partheienwelt antasten möchte. An
solchem Feinde läßt es die Natur nie fehlen, sie muß
ihn herbei rufen, damit das in Frieden vereinigte
nun auch zusammen halte, damit es nicht durch die
Unbefangenheit zerspittert werde und zerfalle. Neben
der Liebe, die an und für sich leicht verdirbt, muß
der menschliche Haß stehn und sie lebendig erhalten:
beides im Herzen gleich lebhaft bewahren, heißt die
Jugend bewahren.
So
Johann von Müller in seinen Jugendschriften, in den
Reisen der Päpste, im Fürstenbunde, und in den Reden
an die Schweizer. Die Historie, Darstellung des politischen
Lebens und seiner Schicksale, muß den hier beschriebenen
Character vornehmlich ausdrücken können; denn, während
der wirkliche Staatsmann nur zu oft durch die unwiderstehliche
Gewalt des Augenblicks die Unbefangenheit verliert,
die dazu gehört, um das ganze Leben einer Nation,
wie es sich in der Folge der Jahrhunderte darstellt,
im Auge zu behalten, schwebt der Geschichtschreiber
über den Streit der einzelnen Partheien, ja ganzer
Generationen, mit einander, in Ruhe und Unbefangenheit.
Er kann den Genius seiner Nation ausdrücken, wenn
er die andre Klippe vermeidet, wenn er die oben beschriebene
Partheilichkeit, als beste und schönste Schranke seines
Werks, neben aller Unbefangenheit behauptet; wenn
er in der Hingebung, und in dem schönen Gehorsam gegen
die Quellen und die verschiedenen Partheiansichten,
aus denen er seine Geschichte bildet, nicht den eigenthümlichen
Character, d. h. nicht die erhabene Vorliebe
für das Vaterländische und den jugendlichen gerechten
Haß für das Fremde verliert. Damit ist nicht gesagt,
daß er das Ausländische als barbarisches bei Seite
setzen soll: vielmehr wird ein klarer Haß verlangt,
der den Werth des Ausländischen sehr wohl erkennen
kann, dem aber die Liebe des Vaterländischen viel
zu sehr ans Herz gewachsen ist, als daß sein Gemüth
sich je von ihr abwenden könnte.
Deshalb
hat in Deutschland, wo man sich so leicht in das Ausländische,
in fremde Sprachen und Sitten findet, und keine Nationalvorliebe
dulden will, die Universalgeschichte zum großen Nachtheil
der deutschen vaterländischen Geschichte, so viel
Glück gemacht, – und der Philanthropismus zum
Nachtheil der vaterländischen Gesinnungen. –
Unbefangen sind wir bis zur Ausschweifung, aber die
nöthige Partheilichkeit fehlt uns, um vollständige
Menschen zu sein. Wir haben längst vergessen, daß
auf die Freundschaft dessen mit Recht wenig Werth
zu legen ist, der Jedermanns Freund ist und aus Schwäche
nicht hassen kann. Zwischen der Freundschaft <43:>
gegen alle Einzelne, und der Freundschaft gegen die
Menschheit, ist ein Unterschied, und so widerspricht
unsre weltbürgerliche Denkungsart der Menschheit,
und nutzt doch den Einzelnen nichts. –
Daß
man die Historie in unsern Tagen, vornehmlich in Deutschland,
aus großen allgemeinen Gesichtspuncten der Staatenbildung,
der Geisteskultur und der Erziehung des Menschengeschlechts
zu betrachten, unternommen, ist löblich und verdienstlich.
Der Mensch strebt ja überall unter den Erscheinungen
ein Band zu stiften, und mehrere zerstreute Bilder
in ein großes Bild, mehrere streitende Partheien in
eine einzige große Parthei zusammen zu fügen, auch
ist diese philosophische Kunst der Composition der
Begebenheiten, wesentliches Glied aller historischen
Kunst. Indeß, wohin führt dieses Wesen, wenn der historische
Künstler die Composition vornimmt, ehe er das zu componirende
in seiner Tiefe empfunden hat? wozu alles Gruppiren
und Entgegenstellen, wenn der Kern des Lebens und
der Staaten unter Schmerzen und Glück noch nicht berührt
worden? Ein junges Talent wird unter den jetzigen
literarischen Conjuncturen in Deutschland schon in
der Wiege mit Weltansichten genährt; anstatt daß die
feste gesunde Natur von der Erkenntniß der Facten
ausgeht, diese auf Treu und Glauben tüchtiger Zeugen
sich aneignet, und hierauf erst in späteren Jahren
zur eigenthümlichen Bildung der Ideen schreitet, so
eignet man sich bei uns zuerst die Ideen an, und bildet
nachher mit eigenmächtiger Willkühr nach Herzenslust
die Facta aus. So entsteht dann jene altkluge, nichtswürdige
Schwelgerei mit den Heiligthümern aller Jahrhunderte;
der Geist, zieht ungestaltet, kern- und herzlos wie
eine Wolke um die Erde, ohne Vaterland, ohne Vorliebe
für das Nähere, Ältere und Verständlichere. Ein Heer
solcher Skizzisten und Gruppirer der Geschichte hat
Deutschland schon vorüberziehn und verschwinden sehn.
Wenn
Johann von Müller einen jugen Freund dergestalt über
alle Zeitalter der Menschheit herschweben und flattern
sieht, ungewiß, auf welchem er sich niederlassen soll,
weil die anderen unterdeß ihn, oder er die anderen
entbehren möchte, pflegt er ihm zu sagen: Laß das,
Kleiner! was du da willst, ist Gottes. Sehe in die
Geschichte deines Volks und deines Stammes; treibe
das Nächste, damit du überhaupt etwas treibest. Gieb
erst zu, daß es für dich, den Menschen, allerdings
ein Groß und Klein, ein Nahe und Fern, ein Bedeutend
und Unbedeutend giebt; dann wird die Ruhe und Indifferenz,
die erhabene Gleichgültigkeit gegen den Stoff, die
du dir etwas zu frühe angeschafft hast, dir wohl zu
statten kommen.
Das
ist der männliche Character der Geschichtschreibung
Johanns von Müller, der sich schon in mehreren glücklichen
Nachfolgern, unter denen ich vor allen andern Luden,
und dann Hormayr und Dippoldt nennen will, fortgepflanzt
hat. Was der Meister auf seinem unermüdeten „Wandel
durch die Jahrhunderte“ erworben, kennt die Welt theils
schon, theils weiß sie, was sie noch zu erwarten hat.
Die Form seiner Werke prägt sich vornehmlich jungen
Gemüthern durch ihre Erhabenheit und <44:> Gewalt
tief ein, und wie sollte sie es nicht, unter aller
Formlosigkeit dieses Jahrhunderts; es ist nur das
eine zu befürchten, daß sie sich in den Nachfolgern
des großen Meisters versteinern könnte; der östreichische
Plutarch und die tyrolische Geschichte von Hormayr
erwecken diese Besorgniß. – Das was ich nothwendige
Partheilichkeit des Geschichtschreibers nannte, das
Gemüth muß ihm durch und durch selbst angehören;
er muß es im Leben selbst erwerben; von andern erborgen,
abformen oder nachahmen kann er es nicht, eben so
wenig die Manier, welche nichts andres ist, als die
in der ganzen Darstellung allgegenwärtige Spur des
Gemüths. Je größer der Meister, um so weniger läßt
er sich mechanisch nachconstruiren; um so mehr, indem
er anzieht, schreckt er zugleich von sich zurück,
denn um so eigenthümlicher ist er.
Gefährlicher,
als bei irgend einem andern, ist die Nachahmung bei
Johann von Müller, denn wie groß er auch in seinen
Jugendwerken erscheine, er gehört viel mehr vergangenen
Zeitaltern, als dem unsrigen an; vielmehr den Alten,
als uns, die er gering zu schätzen scheint. Seine
Partheilichkeit ist bei denen von Thermopylä und Theben;
in der neueren Geschichte, wie gründlich auch dort
sein Streben sei, scheint uns die historische Unpartheilichkeit
mehr und mehr allein aufzutreten, ohne das Gegengewicht
eines großen und gewaltigen persönlichen Interesse.
Bei den neueren scheint der vortreffliche Geschichtschreiber
nur zu lustwandeln; bei den Alten zu wohnen und mit
ihnen Krieg zu führen. Daher die antike Luft in der
seine Eidgenossen sich bewegen.
Wir
zielen nicht auf vermeintliche Nachahmung des Tacitus,
die man ihm Schuld gegeben; wir meinen nur, es ließe
sich auch in unsrer Zeit, wie gesunken das Vaterland,
wie zersplittert die Kräfte, wie vertheilt das Recht
und Unrecht auch bei allen Partheien sein möge, dennoch
eine Parthei und dem zufolge ein wahrer historischer
Standpunct ergreifen, und also auch hier das sein,
was die von Therenopylä und Theben zu ihrer Zeit waren.
Unbefangenheit und Partheilichkeit, Milde und Strenge,
sollen beide allenthalben verbunden sein, scheint
es uns: nicht in welchem Grade das Alterthum und seine
Helden nachgeahmt werden, soll über das Urtheil der
Neueren allein entscheiden; auch bei uns ist mancherlei
Parthei zu bilden, zu bekämpfen, zu bewaffnen und
zu ergreifen. Der Geschichtschreiber braucht sein
Jahrhundert nicht leichter als irgend ein früheres
zu nehmen. Ohne den Rechten der Alten etwas zu vergeben,
auch wir verdienen es, daß sich der Geschichtschreiber
wenigstens zwischen uns entscheide, nicht seine Pflicht
erfüllt glaube, wenn er wie ein Proteus nur den Character
jeder Zeit vollständig annimmt.
Diesen
Unterschied zwischen den früheren und späteren Schriften
Johann von Müllers, glaubten wir anzeigen zu müssen,
zuerst um der Nachfolger willen, unter denen Luden
uns ganz verstehen wird, weil er unsrer Erinnerung
nicht bedarf, dann um zu beweisen, daß wir auf unsre
Art verständige Bewunderer des großen Meisters sind.