V. Philosophisch-kritische
Miscellen.
1. Vom Organismus in Natur und Kunst.
Man hat alle Kunstforderungen in
der einzigen vereinigt: das wahre Kunstwerk müsse
organisch sein. In diesem Ausdrucke liegt die Forderung:
ein unsichtbares, geheimnißvolles, magisches Band
müsse alle Theile eines Kunstwerks zusammen halten,
so wie die einzelnen Organe des Thiers oder der Pflanze
sich zu einer unergründlichen Einheit organisch verbinden.
Indeß sind bei der Idee des Organismus zwei Irrthümer
mit großer Vorsicht zu vermeiden.
a.
Daß man die organische Verbindung der mechanischen,
chemischen, architektonischen, nicht unbedingt
entgegen setze. Die organische Verbindung muß bei
allen Gegensätzen des Universums möglich sein: die
organische Einheit des menschlichen Körpers scheint
blos complicirter. Wie es aber keine anatomische Zerlegung
und Unterscheidung, ohne physiologische Verbindung
der Organe, die die Anatomie getrennt hat, zu einer
einzigen Lebenserscheinung, giebt; so kann überhaupt
nirgends, an keiner Stelle in der Natur, im Menschen,
im Geiste, ein Unterschied, eine Trennung, Zerlegung,
Spaltung, Differenz wahrgenommen werden, ohne das
unmittelbare Bedürfniß diese Differenz aufzulösen,
die getrennten Theile wieder organisch zu einem Ganzen,
zu einer Einheit zu verbinden. Man pflegt im gemeinen
Leben gar zu gern den mechanischen Zusammenhang einer
Maschine, eines Gebäudes, gegen die Einheit z. B.
des menschlichen Körpers, zurück zu setzen. Man nennt
verächtlich das agens in einer Maschine todte Kraft,
vergessend, daß wie wir auch für das gemeine Leben
dieses agens bezeichnen mögen, Wasser, Wind, Dampf,
Schwere – dennoch die eigentlich belebende Kraft eben
so unbegreiflich, so völlig unergründlich sei, als
die Einheit im organischen Körper, par excellence.
Mit Recht bezeichnet man die schlechten Handwerkermotive,
die transparente Absichtlichkeit eines Gedichts, durch
den verachtenden Ausdruck mechanische Composition
oder Einheit; eben weil der Organismus eines Gedichts
ein ganz andrer ist, als der einer <34:> Spinnmaschine,
und weil der Arbeiter seinen Stoff nicht wie eine
unendlich biegsame Sprache, sondern wie ein nur auf
gewisse Weise biegsames Räderwerk von Holz behandelt
hat. Die richtige Behandlung jedes möglichen Stoffes
verdient den Namen Kunst, und die unrichtige den Schimpfnamen
Handwerk. Alle sollen das Organische oder die Kunst
wollen. Im Begriffe der Einheit liegt zugleich der
Begriff der Unendlichkeit: vermöchten wir irgend eine
Einheit absolut zu schauen, mit andern Worten, hörte
eine Einheit auf Einheit zu sein, so wäre es nie Einheit
gewesen. Daß wir uns, so gewiß wir leben, versprechen
an keiner Stelle uns mit Trennungen, Unterschieden,
Gegensätzen zu beruhigen – dieses offenbaren
wir allenthalben durch die Zeichen der Einheit, die
wir nach jeder gefundenen Differenz aussprechen. Wir
beobachten die Differenz, Mann und Weib, und können
nicht umhin, die Einheit beider Menschen zu nennen:
wir schauen die arithmet. Differenz 2 und 1, und nennen
die Einheit zwischen beiden, Zahl. Vergessen wir doch
nie, daß es ein immer tieferes Verständniß jenes Verhältnisses,
jenes Gegensatzes von 2 und 1; also auch eine unendliche
Erkenntniß der Einheit zwischen beiden, nemlich der
Idee der Zahl giebt. Verleugnen wir nur nie dieses
Bestreben, nach immer höherer Vereinigung,
Vermittlung im Leben, in Wissenschaft und Kunst,
so werden wir ohne Ende organisches produciren und
ein künstlerisches Leben führen. Nur wenn der Dichter,
der Philosoph etc. meint, einen absoluten, endlichen
und letzten Ausdruck der Einheit gefunden zu haben,
und dieser abscheuliche Todesgedanke allenthalben
aus seinen Versen oder aus seinem System, dem Fichteschen
z. B. hervorschimmert, oder was dasselbe sagt,
wenn er eine absolute Differenz zwischen Vernunft
und Unvernunft, Poesie und Unpoesie gefunden zu haben
glaubt, und zu predigen strebt, nur dann verdient
er Handwerker, mechanischer Arbeiter zu heißen. Macht
den Shakespear etwas anderes so groß, als das unendliche
Streben, Welt und Natur als Ganzes zu umfassen, bei
dieser Unergründlichkeit der Differenzen von Characteren,
Helden und Situationen? Wenn der Mensch glaubt, unauflösliche
Collisionen, Alternativen vom Himmlischen und Irdischen,
vom Hange zum Guten und Hange zum Bösen u. s. w.
gefunden, oder wenn er glaubt, sein höchstes, letztes
und einziges Gut erreicht und ergriffen zu haben,
dann ist es am Ende mit ihm und seiner organischen
Kraft. Deshalb hatte Friedrich Schlegel recht die
organische Ganzheit und Geschlossenheit, und dann
wieder die Unendlichkeit im Kunstwerk, mit andern
Worten, die unendliche Zergliederung im Kunstwerk
(den Körper desselben) und den unendlichen Zusammenhang
(die Seele desselben) als eins und dasselbe zu betrachten.
Nicht blos aber als eins, als identisch, sondern auch
als unendlich getrennt und entgegen gesetzt. Die wahre
Kritik der Poesie, sagte er, müsse Poesie über die
Poesie sein. Indem er über das Kunstwerk spricht,
muß er selbst künstlerisch handeln, ein Kunstwerk
hervorbringen. Vor sich hatte er die Einheit des Kunstwerks
(die Seele), und die unendlichen Gegensätze im Kunstwerk
(den Körper). Er sagte, beide sind eins, und ward
durch dieses Wort eine höhere Seele oder Einheit für
die vorige Differenz von Körper und Seele, von Mannichfaltigkeit
und Einheit des Kunstwerks. Er mußte <35:> also
in dem Geiste des Satzes handeln, den er aussprach,
die neue höhere Seele mußte ihren Körper, den vorigen
Gegensatz von Körper und Seele auf dieselbe richtige
Weise beseelen, als auf welche der vorige Körper nach
ihrer Behauptung von seiner Seele beseelt wurde. Die
Einheit zwischen Körper und Seele, oder zwischen zwei
und eins, durfte keine absolute sein, denn sonst hätte
er behauptet, die Zwei, die Trennung, die Differenz
existirte gar nicht. Er mußte demnach, obschon mit
andern Worten behaupten, eine gegensätzische Indentität,
d. h. behaupten, Körper und Seele des Kunstwerks,
seien eins in sofern und in dem Maße als sie entgegengesetzt
und getrennt sein: man könne die Theile des Kunstwerks
nur betrachten mit Rücksicht auf das Ganze, aber auch
umgekehrt, das Ganze nur mit Rücksicht auf die Theile.
Das Kunstwerk sei einfach, in sofern es unendlich
mannichfach, aber auch nur wahrhaft unendlich mannichfach,
in sofern es recht geschlossen, ganz und einfach sei. –
Auf das allernatürlichste scheiden sich die kritisirenden
Kunstfreunde hiernach in zwei einseitige Classen.
1) In solche, die den Körper der Kunst isoliren, die
aus der Idee der absoluten Nothwendigkeit, der historischen
Causalität, die ganze Kunst sich entwickeln, und die
Göthe unter der Figur ihres Repräsentanten des Characteristikers
in der Familiengeschichte des Sammlers und der Seinigen
so treffend dargestellt. An dem dagewesenen und dem
nothwendigen Ausdruck desselben soll sich die Kunst
allein halten. Sie stehn da, das Auge beständig rückwärts
nach dem Vergangenen gerichtet, und sind die Realisten
in der Kunst. 2) Die andre Classe einseitiger Kunstkritiker
bilden natürlich die, welche allein und ausschließend
den Begriff, die Seele der Kunst beachten, und ihren
Blick beständig vorwärts nach einem zukünftigen Höchsten
richten, das sie fälschlich mit dem Namen des Ideals
bezeichnen. Wie die Characteristiker beständige Geschichtler
der Kunst, so sind die Idealisten in der gewöhnlichen
Erscheinung beständige Gesetzgeber. – Beide verhalten
sich wie die Nützlichkeitsmenschen zu den Moralisten.
Bei den Nützlichkeitsmenschen wird der Zweck der Handlung
zu ihrem Motiv gemacht, auch sie handeln beständig
rückwärts zurück, gleichsam von hinten herein, deshalb
ist ihnen Erfahrung alles. Dem Moralisten hingegen
ist der Entschluß, die Absicht alles, und so handeln
sie durchaus von vorne herein auf die Zukunft hin,
deshalb ist ihnen der Grundsatz das Höchste. Es ist
offenbar, daß wenn jede dieser beiden Classen consequent
und universell fortschreitet, beide endlich zu einem
Punct kommen müssen, wo der Begriff und die Regel
die Realität durchdringt, und wo andrerseits das Reale
und die Geschichte sich zur Idee erhebt. Wenn der
Characteristiker z. B. den Idealisten fragte:
Ist ein Schiff, welches in vollen Segeln bei dir vorübergeht,
ein schöner Gegenstand? und jener es bejahte: der
Characteristiker dagegen weiter fragte: giebt es eine
schöne Schiffbaukunst, wie es eine schöne Baukunst
giebt? – so würde der Idealist seine Classifikation
der schönen Künste fragen, die schöne Schiffbaukunst
nicht darunter finden, und er würde die Frage verneinen.
Hier siehst du, erwiederte der Characteristiker, daß
die Schönheit nichts anders ist als Zweckmäßigkeit.
Ein Gebäude auf festem Lande kann auch unzweckmäßig,
d. h. unschön sein, aber auf dem Wasser steht <36:>
auf jede Unzweckmäßigkeit die Todesstrafe. Dem Schiffsbaumeister
braucht ihr die Verhältnisse und Regeln eurer Schönheit
gar nicht weiter zu lehren: er producirt, weil er
immer zweckmäßig sein muß, beständig Schönes.
Beide
verhalten sich wie der practische oder realistische,
und wie der theoretische oder idealistische Erzieher. –
Der practische Erzieher behauptet in letzter
Instanz, er könne aus seinem Zögling nichts machen,
eine innerlich schöne Form nicht erzeugen, darüber
walteten die Natur, die Nothwendigkeit und die Umstände,
er gehe indeß richtig, wenn er ihn zum nützlichen
Menschen, zu einem in Zeit und Umstände zweckmäßig
eingreifenden Gliede der Gesellschaft mache: es komme
nur darauf an, daß dieser jugendliche Stoff
auf bestimmte wesentliche Zwecke hingerichtet werd,
daß er der Zeit und ihren Bedürfnissen genüge, so
würde er von selbst auch gut und schön sein. Der idealistische,
theoretische Erzieher hingegen, will nach Grundsätzen
und Regeln seinen Zögling für jede mögliche Zeit,
eigentlich über alle Zeit hinaus erziehen. Er behauptet,
berauscht von der Idee der Freiheit, der Mensch könne
aus dem Menschen alles machen, wofern er nur auf die
Ausbildung der Absichten, und den moralischen Ideen
unmittelbar ausgehe.
Lassen
Sie den Characteristiker diese Theorie der Zweckmäßigkeit
bis in die Tiefen der Natur fortsetzen, er wird vielleicht
eine Zeitlang als Teleolog oder Eudämonist uns indigniren;
wir werden seine Kunstkritik oft als eine handwerksmäßige,
mechanische, gemein historische verwerfen müssen –
endlich aber muß er offenbar zu der Ahndung eines
glückseligen Ganzen, einer unendlichen Harmonie gelangen,
die der wahren Vorstellung vom Ideale, von der organischen
Kunst und von der Schönheit sehr nahe liegen wird.
Und so umgekehrt, muß über kurz oder lang, der Idealist
zur Ehrfurcht vor der Nothwendigkeit, vor der historischen,
genetischen Erzeugung der Kunst gelangen. Der Punkt
nun, an welchem sich beide berühren, das ist der Standpunkt
des wahren Künstlers, in welchem sich Idealismus und
Realismus, Freiheit und Nothwendigkeit, Kunst und
Natur, Ideal und Studium vereinigen, der immer organisches,
d. h. schönes producirt, weil er immer nach dem
Unendlichen strebt, und deshalb allein recht Endliches
und Geschlossenes erzeugt. Ihm, diesem wahren Künstler,
ist es nicht einmal eine Paradoxie, wenn ich die Widerlegung
des ersten Irrthumes vom absoluten Gegensatz, des
mechanischen und organischen beschließe, mit der Behauptung:
das Organische, was die Menschen in der Natur sehen,
ist nichts anderes als ihre in die Natur hineingetragene
Kunst. Weil der Mensch allenthalben organisches
erzeugt, so sieht er auch allenthalben organisches.
Wo er die Natur betrachtet und behandelt, wird sie
immerfort unter seinen Augen und Händen zum Kunstwerk,
sein Organismus im natürlichen, gesunden Prozeß, sein
Körper ist in beständiger Erweiterung begriffen,
und so nimmt auch seine ganze ewig bewegte Sphäre,
der roheste und der zarteste Stoff darin, die Natur
seines Organismus an. – Hieraus folgt die Unstatthaftigkeit
des zweiten Irrthums, dessen Widerlegung ich mir vorgesetzt,
von selbst, die Unstatthaftigkeit <37:>
b.
der Meinung, als wenn es irgendwo einen absoluten
Organismus gebe. Die Lebensgränze, die wir um irgend
eine Pflanze, ein Thier ziehen mögen, ist durchaus
keine absolute: eine Gränze ist es nur von unsers
des Beschauers Standpunkt aus angesehen. Nichts verdient
den Namen des Organismus, als das Wachsende,
in unendlicher Erweiterung begriffene. Wie ein Trauerspiel
des Shakespear, jedesmal, daß wir von neuem zu demselben
zurückkehren, größer erscheint, wie wir an und in
demselben gleichsam uns selbst, oder unsern Shakespear
ganz deutlich wachsen sehen, so mit allen Erscheinungen
der Welt überhaupt; ihr Wachsthum an sich, ihr Fortschritt,
ihre absolute Bewegung, mag den Augen Gottes sichtbar
sein. Wir wollen und können nichts anderes sehn als
unser Wachsen, unsre Bewegung auf und mit ihnen. In
das Sonnensystem unsers Lebens soll eingreifen was
wir berühren; wenn wir von irgend einem Wesen sagen:
es wachse und bewege sich, so heißt das immer: es
gehe mit uns Hand in Hand. Es heißt nicht wie der
Idealist sagen würde: die Dinge, die Welt, die Natur
stehen stille, und ich (mein reines Ich) bewege mich
anschauend und wachsend um sie her: noch wie der Realist
sagen würde: ich stehe stille, und die Natur wächst
und bewegt sich um mich her. – Sondern, mein
ewig organisches Leben erzeugt ohne Ende organisches
Leben, und erzeugendes und erzeugtes Leben wandelt
gemeinschaftlich zu einem höheren Leben verbunden,
höheren Erzeugungen entgegen u. s. f. Das
organische Wesen reißt sich loß vom Schooße seiner
Mutter, unabhängig pochend auf sich selbst und seine
Freiheit, wächst aber in demselben Augenblick dem
Antorganismus entgegen, der ihn und seine Unabhängigkeit
verzehren will, der Streit beider lößt sich endlich
mit ihrer Vermählung. Sie versenken ihre Unabhängigkeit
in einander, sie opfern sich einander, damit sich
neues Unabhängiges aus ihrer Vermählung erzeugen könne. –
Wenn wir demnach von einem absolut geschlossenen Organismus
sprechen, so liegt darin ein absoluter Widerspruch.
Organismus ist der einfache unendliche Trieb zum Fortschreiten,
zur Bewegung, zum Wachsen, der aber in jedem Augenblick
ein relativ geschlossenes einfaches voraussetzen wird;
damit das Organische immerfort etwas bestimmteres
werden könne, muß es in jedem Augenblick etwas relativ
Bestimmtes sein.