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Adam Müller, Philosophisch-kritische Miscellen, 33-39; darin: 1. Vom Organismus in Natur und Kunst, 33-37

V. Philosophisch-kritische Miscellen.
1. Vom Organismus in Natur und Kunst.

Man hat alle Kunstforderungen in der einzigen vereinigt: das wahre Kunstwerk müsse organisch sein. In diesem Ausdrucke liegt die Forderung: ein unsichtbares, geheimnißvolles, magisches Band müsse alle Theile eines Kunstwerks zusammen halten, so wie die einzelnen Organe des Thiers oder der Pflanze sich zu einer unergründlichen Einheit organisch verbinden. Indeß sind bei der Idee des Organismus zwei Irrthümer mit großer Vorsicht zu vermeiden.
a. Daß man die organische Verbindung der mechanischen, chemischen, architektonischen, nicht unbedingt entgegen setze. Die organische Verbindung muß bei allen Gegensätzen des Universums möglich sein: die organische Einheit des menschlichen Körpers scheint blos complicirter. Wie es aber keine anatomische Zerlegung und Unterscheidung, ohne physiologische Verbindung der Organe, die die Anatomie getrennt hat, zu einer einzigen Lebenserscheinung, giebt; so kann überhaupt nirgends, an keiner Stelle in der Natur, im Menschen, im Geiste, ein Unterschied, eine Trennung, Zerlegung, Spaltung, Differenz wahrgenommen werden, ohne das unmittelbare Bedürfniß diese Differenz aufzulösen, die getrennten Theile wieder organisch zu einem Ganzen, zu einer Einheit zu verbinden. Man pflegt im gemeinen Leben gar zu gern den mechanischen Zusammenhang einer Maschine, eines Gebäudes, gegen die Einheit z. B. des menschlichen Körpers, zurück zu setzen. Man nennt verächtlich das agens in einer Maschine todte Kraft, vergessend, daß wie wir auch für das gemeine Leben dieses agens bezeichnen mögen, Wasser, Wind, Dampf, Schwere – dennoch die eigentlich belebende Kraft eben so unbegreiflich, so völlig unergründlich sei, als die Einheit im organischen Körper, par excellence. Mit Recht bezeichnet man die schlechten Handwerkermotive, die transparente Absichtlichkeit eines Gedichts, durch den verachtenden Ausdruck mechanische Composition oder Einheit; eben weil der Organismus eines Gedichts ein ganz andrer ist, als der einer <34:> Spinnmaschine, und weil der Arbeiter seinen Stoff nicht wie eine unendlich biegsame Sprache, sondern wie ein nur auf gewisse Weise biegsames Räderwerk von Holz behandelt hat. Die richtige Behandlung jedes möglichen Stoffes verdient den Namen Kunst, und die unrichtige den Schimpfnamen Handwerk. Alle sollen das Organische oder die Kunst wollen. Im Begriffe der Einheit liegt zugleich der Begriff der Unendlichkeit: vermöchten wir irgend eine Einheit absolut zu schauen, mit andern Worten, hörte eine Einheit auf Einheit zu sein, so wäre es nie Einheit gewesen. Daß wir uns, so gewiß wir leben, versprechen an keiner Stelle uns mit Trennungen, Unterschieden, Gegensätzen zu beruhigen – dieses offenbaren wir allenthalben durch die Zeichen der Einheit, die wir nach jeder gefundenen Differenz aussprechen. Wir beobachten die Differenz, Mann und Weib, und können nicht umhin, die Einheit beider Menschen zu nennen: wir schauen die arithmet. Differenz 2 und 1, und nennen die Einheit zwischen beiden, Zahl. Vergessen wir doch nie, daß es ein immer tieferes Verständniß jenes Verhältnisses, jenes Gegensatzes von 2 und 1; also auch eine unendliche Erkenntniß der Einheit zwischen beiden, nemlich der Idee der Zahl giebt. Verleugnen wir nur nie dieses Bestreben, nach immer höherer Vereinigung, Vermittlung im Leben, in Wissenschaft und Kunst, so werden wir ohne Ende organisches produciren und ein künstlerisches Leben führen. Nur wenn der Dichter, der Philosoph etc. meint, einen absoluten, endlichen und letzten Ausdruck der Einheit gefunden zu haben, und dieser abscheuliche Todesgedanke allenthalben aus seinen Versen oder aus seinem System, dem Fichteschen z. B. hervorschimmert, oder was dasselbe sagt, wenn er eine absolute Differenz zwischen Vernunft und Unvernunft, Poesie und Unpoesie gefunden zu haben glaubt, und zu predigen strebt, nur dann verdient er Handwerker, mechanischer Arbeiter zu heißen. Macht den Shakespear etwas anderes so groß, als das unendliche Streben, Welt und Natur als Ganzes zu umfassen, bei dieser Unergründlichkeit der Differenzen von Characteren, Helden und Situationen? Wenn der Mensch glaubt, unauflösliche Collisionen, Alternativen vom Himmlischen und Irdischen, vom Hange zum Guten und Hange zum Bösen u. s. w. gefunden, oder wenn er glaubt, sein höchstes, letztes und einziges Gut erreicht und ergriffen zu haben, dann ist es am Ende mit ihm und seiner organischen Kraft. Deshalb hatte Friedrich Schlegel recht die organische Ganzheit und Geschlossenheit, und dann wieder die Unendlichkeit im Kunstwerk, mit andern Worten, die unendliche Zergliederung im Kunstwerk (den Körper desselben) und den unendlichen Zusammenhang (die Seele desselben) als eins und dasselbe zu betrachten. Nicht blos aber als eins, als identisch, sondern auch als unendlich getrennt und entgegen gesetzt. Die wahre Kritik der Poesie, sagte er, müsse Poesie über die Poesie sein. Indem er über das Kunstwerk spricht, muß er selbst künstlerisch handeln, ein Kunstwerk hervorbringen. Vor sich hatte er die Einheit des Kunstwerks (die Seele), und die unendlichen Gegensätze im Kunstwerk (den Körper). Er sagte, beide sind eins, und ward durch dieses Wort eine höhere Seele oder Einheit für die vorige Differenz von Körper und Seele, von Mannichfaltigkeit und Einheit des Kunstwerks. Er mußte <35:> also in dem Geiste des Satzes handeln, den er aussprach, die neue höhere Seele mußte ihren Körper, den vorigen Gegensatz von Körper und Seele auf dieselbe richtige Weise beseelen, als auf welche der vorige Körper nach ihrer Behauptung von seiner Seele beseelt wurde. Die Einheit zwischen Körper und Seele, oder zwischen zwei und eins, durfte keine absolute sein, denn sonst hätte er behauptet, die Zwei, die Trennung, die Differenz existirte gar nicht. Er mußte demnach, obschon mit andern Worten behaupten, eine gegensätzische Indentität, d. h. behaupten, Körper und Seele des Kunstwerks, seien eins in sofern und in dem Maße als sie entgegengesetzt und getrennt sein: man könne die Theile des Kunstwerks nur betrachten mit Rücksicht auf das Ganze, aber auch umgekehrt, das Ganze nur mit Rücksicht auf die Theile. Das Kunstwerk sei einfach, in sofern es unendlich mannichfach, aber auch nur wahrhaft unendlich mannichfach, in sofern es recht geschlossen, ganz und einfach sei. – Auf das allernatürlichste scheiden sich die kritisirenden Kunstfreunde hiernach in zwei einseitige Classen. 1) In solche, die den Körper der Kunst isoliren, die aus der Idee der absoluten Nothwendigkeit, der historischen Causalität, die ganze Kunst sich entwickeln, und die Göthe unter der Figur ihres Repräsentanten des Characteristikers in der Familiengeschichte des Sammlers und der Seinigen so treffend dargestellt. An dem dagewesenen und dem nothwendigen Ausdruck desselben soll sich die Kunst allein halten. Sie stehn da, das Auge beständig rückwärts nach dem Vergangenen gerichtet, und sind die Realisten in der Kunst. 2) Die andre Classe einseitiger Kunstkritiker bilden natürlich die, welche allein und ausschließend den Begriff, die Seele der Kunst beachten, und ihren Blick beständig vorwärts nach einem zukünftigen Höchsten richten, das sie fälschlich mit dem Namen des Ideals bezeichnen. Wie die Characteristiker beständige Geschichtler der Kunst, so sind die Idealisten in der gewöhnlichen Erscheinung beständige Gesetzgeber. – Beide verhalten sich wie die Nützlichkeitsmenschen zu den Moralisten. Bei den Nützlichkeitsmenschen wird der Zweck der Handlung zu ihrem Motiv gemacht, auch sie handeln beständig rückwärts zurück, gleichsam von hinten herein, deshalb ist ihnen Erfahrung alles. Dem Moralisten hingegen ist der Entschluß, die Absicht alles, und so handeln sie durchaus von vorne herein auf die Zukunft hin, deshalb ist ihnen der Grundsatz das Höchste. Es ist offenbar, daß wenn jede dieser beiden Classen consequent und universell fortschreitet, beide endlich zu einem Punct kommen müssen, wo der Begriff und die Regel die Realität durchdringt, und wo andrerseits das Reale und die Geschichte sich zur Idee erhebt. Wenn der Characteristiker z. B. den Idealisten fragte: Ist ein Schiff, welches in vollen Segeln bei dir vorübergeht, ein schöner Gegenstand? und jener es bejahte: der Characteristiker dagegen weiter fragte: giebt es eine schöne Schiffbaukunst, wie es eine schöne Baukunst giebt? – so würde der Idealist seine Classifikation der schönen Künste fragen, die schöne Schiffbaukunst nicht darunter finden, und er würde die Frage verneinen. Hier siehst du, erwiederte der Characteristiker, daß die Schönheit nichts anders ist als Zweckmäßigkeit. Ein Gebäude auf festem Lande kann auch unzweckmäßig, d. h. unschön sein, aber auf dem Wasser steht <36:> auf jede Unzweckmäßigkeit die Todesstrafe. Dem Schiffsbaumeister braucht ihr die Verhältnisse und Regeln eurer Schönheit gar nicht weiter zu lehren: er producirt, weil er immer zweckmäßig sein muß, beständig Schönes.
Beide verhalten sich wie der practische oder realistische, und wie der theoretische oder idealistische Erzieher. – Der practische Erzieher behauptet in letzter Instanz, er könne aus seinem Zögling nichts machen, eine innerlich schöne Form nicht erzeugen, darüber walteten die Natur, die Nothwendigkeit und die Umstände, er gehe indeß richtig, wenn er ihn zum nützlichen Menschen, zu einem in Zeit und Umstände zweckmäßig eingreifenden Gliede der Gesellschaft mache: es komme nur darauf an, daß dieser jugendliche Stoff auf bestimmte wesentliche Zwecke hingerichtet werd, daß er der Zeit und ihren Bedürfnissen genüge, so würde er von selbst auch gut und schön sein. Der idealistische, theoretische Erzieher hingegen, will nach Grundsätzen und Regeln seinen Zögling für jede mögliche Zeit, eigentlich über alle Zeit hinaus erziehen. Er behauptet, berauscht von der Idee der Freiheit, der Mensch könne aus dem Menschen alles machen, wofern er nur auf die Ausbildung der Absichten, und den moralischen Ideen unmittelbar ausgehe.
Lassen Sie den Characteristiker diese Theorie der Zweckmäßigkeit bis in die Tiefen der Natur fortsetzen, er wird vielleicht eine Zeitlang als Teleolog oder Eudämonist uns indigniren; wir werden seine Kunstkritik oft als eine handwerksmäßige, mechanische, gemein historische verwerfen müssen – endlich aber muß er offenbar zu der Ahndung eines glückseligen Ganzen, einer unendlichen Harmonie gelangen, die der wahren Vorstellung vom Ideale, von der organischen Kunst und von der Schönheit sehr nahe liegen wird. Und so umgekehrt, muß über kurz oder lang, der Idealist zur Ehrfurcht vor der Nothwendigkeit, vor der historischen, genetischen Erzeugung der Kunst gelangen. Der Punkt nun, an welchem sich beide berühren, das ist der Standpunkt des wahren Künstlers, in welchem sich Idealismus und Realismus, Freiheit und Nothwendigkeit, Kunst und Natur, Ideal und Studium vereinigen, der immer organisches, d. h. schönes producirt, weil er immer nach dem Unendlichen strebt, und deshalb allein recht Endliches und Geschlossenes erzeugt. Ihm, diesem wahren Künstler, ist es nicht einmal eine Paradoxie, wenn ich die Widerlegung des ersten Irrthumes vom absoluten Gegensatz, des mechanischen und organischen beschließe, mit der Behauptung: das Organische, was die Menschen in der Natur sehen, ist nichts anderes als ihre in die Natur hineingetragene Kunst. Weil der Mensch allenthalben organisches erzeugt, so sieht er auch allenthalben organisches. Wo er die Natur betrachtet und behandelt, wird sie immerfort unter seinen Augen und Händen zum Kunstwerk, sein Organismus im natürlichen, gesunden Prozeß, sein Körper ist in beständiger Erweiterung begriffen, und so nimmt auch seine ganze ewig bewegte Sphäre, der roheste und der zarteste Stoff darin, die Natur seines Organismus an. – Hieraus folgt die Unstatthaftigkeit des zweiten Irrthums, dessen Widerlegung ich mir vorgesetzt, von selbst, die Unstatthaftigkeit <37:>
b. der Meinung, als wenn es irgendwo einen absoluten Organismus gebe. Die Lebensgränze, die wir um irgend eine Pflanze, ein Thier ziehen mögen, ist durchaus keine absolute: eine Gränze ist es nur von unsers des Beschauers Standpunkt aus angesehen. Nichts verdient den Namen des Organismus, als das Wachsende, in unendlicher Erweiterung begriffene. Wie ein Trauerspiel des Shakespear, jedesmal, daß wir von neuem zu demselben zurückkehren, größer erscheint, wie wir an und in demselben gleichsam uns selbst, oder unsern Shakespear ganz deutlich wachsen sehen, so mit allen Erscheinungen der Welt überhaupt; ihr Wachsthum an sich, ihr Fortschritt, ihre absolute Bewegung, mag den Augen Gottes sichtbar sein. Wir wollen und können nichts anderes sehn als unser Wachsen, unsre Bewegung auf und mit ihnen. In das Sonnensystem unsers Lebens soll eingreifen was wir berühren; wenn wir von irgend einem Wesen sagen: es wachse und bewege sich, so heißt das immer: es gehe mit uns Hand in Hand. Es heißt nicht wie der Idealist sagen würde: die Dinge, die Welt, die Natur stehen stille, und ich (mein reines Ich) bewege mich anschauend und wachsend um sie her: noch wie der Realist sagen würde: ich stehe stille, und die Natur wächst und bewegt sich um mich her. – Sondern, mein ewig organisches Leben erzeugt ohne Ende organisches Leben, und erzeugendes und erzeugtes Leben wandelt gemeinschaftlich zu einem höheren Leben verbunden, höheren Erzeugungen entgegen u. s. f. Das organische Wesen reißt sich loß vom Schooße seiner Mutter, unabhängig pochend auf sich selbst und seine Freiheit, wächst aber in demselben Augenblick dem Antorganismus entgegen, der ihn und seine Unabhängigkeit verzehren will, der Streit beider lößt sich endlich mit ihrer Vermählung. Sie versenken ihre Unabhängigkeit in einander, sie opfern sich einander, damit sich neues Unabhängiges aus ihrer Vermählung erzeugen könne. – Wenn wir demnach von einem absolut geschlossenen Organismus sprechen, so liegt darin ein absoluter Widerspruch. Organismus ist der einfache unendliche Trieb zum Fortschreiten, zur Bewegung, zum Wachsen, der aber in jedem Augenblick ein relativ geschlossenes einfaches voraussetzen wird; damit das Organische immerfort etwas bestimmteres werden könne, muß es in jedem Augenblick etwas relativ Bestimmtes sein.

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