V. Apologie der französischen
dramatischen Literatur.
Aus A. Müllers Vorlesungen über dramatische Poesie.
Nachdem wir den Geschlechtsunterschied
des antiken und des modernen Theaters, jenes repräsentirt
durch die Griechische, dieses repräsentirt durch die Spanische
Bühne, gemeinschaftlich betrachtet haben, bliebe uns,
um das Wesen des Dramas überhaupt zu umfassen, nur noch
die Characteristik gewisser Mittelzustände übrig. Durch
welchen großen Mittelzustand hindurch mußten Drama und
Welt schreiten, damit die eigenthümliche Gestalt des Äschylus
und Aristophanes verschwinden, und eine ganz entgegengesetzte
eigenthümliche, die der Spanier und vornehmlich des Calderon,
auftreten konnte?
Wenn
die Natur auf einzelnen schönen Stellen der Erde ein Zeitalter
eigenthümlich harmonischen Lebens hat aufblühn und reifen
lassen, wenn der Character der Menschheit sich hier und
dort lokal und national entwickelt hat, so zieht sie,
ich meine die Natur, die das allgemeine will, alle jene
eigenthümlichen Bildungen wieder in einen großen gemeinschaftliche
Zustand zusammen; alle die unendlichen, jeder Natur besonders
und eigenthümlich zugetheilten Farben, die den Frühling
und Sommer verherrlichen, läßt der Herbst wieder zusammensterben
in ein gemeinschaftliches Braun; es ist ein gemeinschaftlicher
Untergang, ein gemeinschaftliches Grab, dahinein alles,
was sich auf den Tummelplätzen des antiken Lebens in Syrien
und Kleinasien, in Griechenland, Italien und Sicilien,
in Carthago und Ägypten, eigenthümliches erzeugte und
bewegte, mit einander versinken muß. – Dieses Mausoleum,
dieses gemeinschaftliche Grab der alten Welt, war Rom,
war die Universalherrschaft der Römer. Was das Alterthum
mit letzter höchster Gewalt zusammen- <35:> bauete,
nemlich Rom, war ein Pantheon, wie ich es neulich nannte,
und ein Grabmahl zugleich, wie ich es heute nenne.
Ein
zweites großes Jahr der Menschheit brach an, ein neuer
Frühling mit Roland und Carl dem Großen, ein neuer Sommer
mit Dante und Bokkaz, mit den Troubadours und den Minnesingern,
mit Cervantes, Calderon und Shakespear, ein neuer Herbst
mit dem Jahrhundert Ludwig XIV. und das Mausoleum
in Gestalt eines Pantheons der Kunst und des Lebens, das
sich die neue Welt erbauete, brauch ich nicht zu
nennen. – Man würde mich sehr mißverstehn, wenn man
diesen Worten Absichten, auch selbst des erhabensten Partheigeistes,
unterlegte. Es ist so, wie ich gesagt! und von dem Stande
aus, auf den wir uns heute gestellt, wo Tod und Untergang
betrachtet und die allgegenwärtige, ewiglebende Natur
oder Kunst, die sich bisher uns in ihren Blüthen zeigte,
nun in der Asche geschaut werden soll, von diesem Stande
aus schweigen alle Klagen über die einzelnen Unbequemlichkeiten
der Gegenwart von selbst, von hier aus werden die Zerstörungs-
wie die Erbauungswerkzeuge der Natur mit gleicher Ruhe
und Andacht erwogen.
Bevor
wir in die Betrachtung des Römischen und Französischen
Theaters eingehn, die beide in und neben einander dargestellt
werden müssen, lassen Sie uns eine Bemerkung vorausschicken,
deren Richtigkeit gefühlt werden wird. Wenn in unsern
Tagen Menschen von bloser Welt- und Geschäftsbildung,
deren Werth keinesweges hier herabgesetzt werden soll,
vom Alterthume reden, oder an dasselbe denken, so haben
sie meistentheils Rom oder etwas Römisches im Auge; eben
so, wenn von neuer, moderner Welt die Rede ist, so verstehn
sie im Zweifelsfalle darunter immer Paris, oder etwas
Französisches. Wenn z. B. von der Poesie des Alterthums
gesprochen wird, so denken sie viel eher an Horaz und
Virgil, als an Äschylus und Homer; redet man ihnen dagegen
von Dichtern neuerer Zeit, so tritt ihnen Racine und Voltaire
viel früher, als Dante und Cervantes vor die Seele. Dies
hat seinen tiefen und wichtigen Grund, der schlechterdings
aufgesucht werden muß; denn in einer wahren Reichsversammlung
der Künstler und Kunstrichter müssen die Stimmen, die
sich für die einzige Schönheit des Racine erklären,
eben sowohl gehört werden, als diejenigen, welche nicht
müde werden, die einzige Schönheit des Calderon zu preisen.
Als
vor einiger Zeit in Deutschland das Studium der Griechen
und der romantischen Dichter einen neuen herrlichen Schwung
nahm, meinte man den göttlichen Künstlern der Griechischen
und Romantischen Zeit nicht besser dienen zu können, als
indem man auf ihrem Altar alles, was die Römer und die
Franzosen gedichtet, in Flammen aufgehen ließe, und so
wurde die große Majorität der Gebildeten in Europa, nehmlich
alle, die eine Französische Bildung genossen, einerseits,
und die meistentheils in der Schule des Römischen Rechts
erzogenen Geschäftsmänner andrerseits, von dem Genuß der
wieder aufgefundenen Schätze abgeschreckt. Mein Streben
und <36:> der Zweck, den ich mir (bei meiner gegenwärtigen
Arbeit vornehmlich) vorgesetzt, ist etwas anders: in meinen
Augen ist, wer sich, wenn der Poesie der neuen Welt gedacht
wird, blos Cervante’s, Dante’s, Calderon’s u. s. w.
erinnert, eben so einseitig als der, welcher nur von Racine
und Voltaire hören will. – Im gemeinen Leben kommen
dieselben beiden Einseitigkeiten unter einer ganz andern
Gestalt wieder vor. Ein Theil der Welt will nur umgehen
mit Menschen, die durch Rang, Geburt, Stand in der bürgerlichen
Gesellschaft etwas bedeuten; ein andrer Theil will nur
mit dem Menschen als solchen zu thun haben; er frägt nur,
was bist du in der Welt und als Mensch, nicht aber was
bedeutest du? – Die ersteren respectiren am Menschen
blos den abgeleiteten, den repräsentativen Character,
die andern blos den persönlichen. Beide haben Unrecht! –
Göthe hat es treffend dargestellt, wie Racine besonders
vornehmen Personen gefallen müsse; auf dem von ihm so
herrlich angedeuteten Wege gehe ich fort und erkläre:
die Poesien der Römer und der Franzosen haben einen repräsentativen,
abgeleiteten Werth; die Poesien der Griechischen und der
Romantischen Zeit haben einen persönlichen Werth. Mir
gnügt keines von beiden allein für sich, mir werden die
persönlichen Dichter erst recht deutlich durch die repräsentativen
und so umgekehrt; niemand kann sagen, daß er die Griechen
und die Romantischen Dichter begreife, der die Römer und
Franzosen verächtlich bei Seite setzt und so umgekehrt;
es ist nur Ein Sinn, ein ewiger Sinn der Kunst, und dieser
muß ruhig und belebend durch die Kunstformen aller Zeiten
hindurchzuschreiten vermögen.
Der
Hauptfehler in der Beurtheilung der Römischen und Französischen
Autoren, welchen die jungen enthusiastischen Bewunderer
der Griechischen und Romantischen Poesie begingen, war
der, daß sie Griechen und Römer, Romantiker und die Franzosen
mit einem und demselben Maasstab zu messen unternahmen;
daß sie für die blühende männliche Jugend, die sich in
den Griechen und Romantikern darstellt, und für das überreife
sinkende Alter, welches die Römer und Franzosen abbilden,
nur den einzigen Maasstab der Kraft und der Lebensfülle
statuirten, wo denn das Alter sehr im Nachtheil gegen
die Jugend, die Römer gegen die Griechen, die Franzosen
sehr im Nachtheil gegen die Romantiker erscheinen mußten,
und wo denn nothwendig in der Römischen und Französischen
Poesie nichts wahrzunehmen blieb, als Erinnerungen, Reminiscenzen,
Nachahmungen, Nachkänge der vorangegangenen jugendlichen
Zeiten. – Die zu enthusiastischen Freunde der Franzosen
und Römer begingen auf ihrer Seite den nehmlichen Fehler,
indem sie wieder die gesellschaftliche Geschliffenheit,
die starre Regelmäßigkeit, die Correctheit, die poetische
Tournure, die Convenienz und den guten Ton
als alleinigen Maasstab der Kunst gelten lassen wollten,
und so die gewaltige, freie, üppige Natur (minder der
Griechen, als besonders) der Romantischen Dichter, es
keinesweges mit den umsichtigen, eleganten, tactvollen
Römern und Franzosen aufnehmen konnte. – Ich bin
überzeugt, daß zum Heil der Kunst überhaupt, im ganzen
Gebiete der Literatur und des gesellschaftlichen Lebens,
wenige Gegenstände eine gründ- <37:> liche Untersuchung
so sehr verdienen, als dieser sonderbare Zwiespalt in
den Kunsturtheilen zuerst der wahren Gelehrten
unsrer Zeit, und sodann der wirklich vornehmen
Leute, worunter ich diejenigen verstehe, die nicht mit
Affectation, auch nicht um dem Rechte des Stärkern zu
huldigen, sondern aus fast angebornem und durch die ganze
Erziehung recht ausgebildetem Instinkt eine Vorliebe für
den Geist der Französischen Literatur hegen.
Die
ausschließenden Freunde der Griechischen und Romantischen
Poesie wollen die Werke der Kunst vornehmlich sehn;
die Anschauung, gleichviel die innere, oder die äußere
ist bei ihnen das Entscheidende, der Richter; die ausschließenden
Freunde der Römer und Franzosen ihrerseits wollen die
Werke der Kunst vielmehr schmecken; daher nicht
blos dem Worte, sondern wirklich der Sache nach geht alles
Urtheil bei ihnen vom Geschmack aus. – Hiernach
sollte man wirklich den Freunden der Griechen und Romantiker
eine Art von Vorzug einräumen, denn blos der größern Allgemeinheit
des Gesichtssinns nach, sollte man glauben, daß sie ein
viel größeres Gebiet umfassen müßten als ihre Gegner,
da es ihnen viel leichter sein müßte, den Werth und die
Eigenthümlichkeit eines Virgil, Racine oder Voltaire sich
abzusehn, als es ihren Gegnern sein möchte, den
Werth und die Vortreflichkeit des Homer, des Ariost und
des Dante herauszuschmecken. –Nichts destoweniger
giebt es Kunstfreunde in unsern Tagen, die mit hoher Gerechtigkeitsliebe,
wie sehr auch Geburt und Erziehung das bloße Geschmacksurtheil
in der Kunst in ihnen befestigt haben mögen, dennoch,
auch geleitet von diesem dunkleren Sinn, die Herrlichkeit
des Göttlichen, was die griechische und romantisch-germanische
Zeit hervorgebracht, zu kosten wissen. Möge es mir eben
so gelingen zu zeigen, daß es auch Gelehrte gebe, deren
Auge in die Eigenthümlichkeit der Römischen und Französischen
Dichter dringt: dann, wenn jeder auf seinem eigenthümlichen
Wege, wir mit dem Gesicht, jene mit dem Geschmack, ein
allgemeines erkannt; wenn wir beide den in uns durch Natur
und Umstände besonders begünstigten Sinn zum allgemeinen
Sinn erhoben haben, dann können wir einander die Hand
reichen und uns über dasjenige, was geschehen müsse, damit
in Zukunft die Kunst, vornehmlich die Deutsche gedeihe,
gemeinschaftlich und vorurtheilsfrei berathen. –
Ihr
habet vollkommen Recht, Ihr jungen enthusiastischen Freunde,
Liebhaber mögte ich sagen der Griechischen und Romantischen
Poesie! auf den ersten Blick verschwindet allerdings die
elegante Gestaltlosigkeit des Virgil neben der Unschuld,
Fülle und Deutlichkeit des Homer; verschwindet die gezirkelte,
geschweifte, geschliffene Geschwätzigkeit eines Cicero
neben der Majestät und der gehaltvollen Einfalt des Demosthenes
oder Isokrates; verschwindet die zugespitzte, frivole
Liederlichkeit des Lafontaine neben der reinen, süßen
und üppigen Lüsternheit des Boccaz; verschwindet die flache,
lebenslose Harmonie des Racine neben der tiefen, unergründlichen
Klangfülle des Calderon. Ihr habt Recht, aber nur auf
den ersten Blick. – Lebet nur weiter mit der Welt!
Versucht es mit den großen Geistern der Griechischen und
<38:> Romantischen Zeit, die Ihr als Lieblinge mit
Recht um Euch her versammelt, in wahrem Frieden zu leben:
Ihr werdet bald inne werden, daß die Französische und
Römische Poesie Euch keine Ruhe läßt; daß sie nicht blos
ihre vornehmen Beschützer, sondern ein sonderbarer, zuerst
unbegreiflicher Geist der in ihnen wohnt, Euch zu ihnen
zurücknöthigen wird; daß Ihr Eurer Lieblinge nicht gewiß
sein könnt, bevor Ihr die Ansprüche jener nicht mit Euerm
Herzen und Geiste befriedigt, kurz, wie Euch die Jugendzeitalter
der Welt bezaubern mögen, daß dennoch das Alter auch seine
eigenthümliche Schönheit hat, und daß Ihr von beiden Euch
erfüllen, Euern Sinn beleben lassen müßt, wenn Ihr ein
wahrhaft männliches Urtheil aussprechen wollt. –
Ich habe noch keinen feurigen Bekenner der Romantischen
Poesie gesehn, der berauscht von Cervantes, ja von Shakespear
gewesen wäre, dem die Dramen des Shakespear vielleicht
wie huldreiche Genien durchs Leben gefolgt wären, und
der bei alle dem (wofern nicht der Rausch alle Besinnung
aus ihm fortgeschwemmt, wofern nicht der Sturm jener großen
Geister ihn ganz zu Boden gestreckt hat,) mehreren Repräsentationen
des Französischen Theaters auf die Dauer hätte widerstehen
können. – Bei der ersten Darstellung vielleicht widersteht
ihm alles am Französischen Theater, er nennt es den Gipfel
der Unnatur, des Manierirten, der Ziererei, des Unpoetischen
– bei der letzten Darstellung hat sich das ganze gewendet,
und, ich weiß, was ich sage, nun findet er etwas
unwiderstehliches darin. Ich darf es nicht weiter
bemerken, daß ich weit davon entfernt bin, jener kalten
Engherzigkeit das Wort zu reden, mit der beschränkte Seelen
jenes Französische Theater für den einzigen dramatischen
Genuß halten. Ich spreche zu jenen reinen, unverdorbenen
Gemüthern, die jugendlich voll und kräftig, zuerst dem
jugendlich vollen und kräftigen sich hingegeben haben,
aber dennoch für jeden noch so fremdartig gestalteten
Genuß offen geblieben sind, und denen allein das Französische
Theater wegen seiner wesentlichen Vorzüge werth sein kann:
was die verstockten, in Convenienz und Modethorheiten
grau gewordenen Bewunderer darin sehn, ist der Rede nicht
werth; diese sind dem Französischen Theater zugethan aus
Gewohnheit, aus Herzensarmuth, aus Verwöhnung, aus Verzärtelung,
aus Faulheit. – Wir hingegen wollen ganz andre Dinge
daran erheben, nehmlich das Maas, die Ganzheit, die Geschlossenheit,
die Künstlichkeit, das Technische, die Verständlichkeit,
die Allgemeingültigkeit.
Ich
nannte den Character der Französischen und Römischen Poesie
einen repräsentativen, den der Griechischen und
Romantischen einen persönlichen. – Hier erlauben
Sie mir Ihrem innersten Gefühl eine Frage vorzulegen:
sind es nicht zwei ganz verschiedne Arten der Schönheit,
die, welche wir empfinden in der Betrachtung einer jugendlichen
Natur, die sich in voller Frische und Freiheit und Fülle
bewegt, die durch jede ihrer noch so unconventionellen
Bewegungen ergötzt, die, wo sie etwa die Formen und den
Anstand verletzt, sogleich wieder einen schönen Eindruck,
nemlich den des Naiven macht, und die andre, welche wir
in der Betrachtung des weltklugen, gewandten Mannes empfinden,
der mit künstlicher durch- <39:> aus berechneter
Grazie, weniger bezaubert, aber desto sichrer gewinnt.
Es sind die beiden Schönheiten die Göthe in seinem unsterblichen
Gedichte unter den durchaus auf die Anschauer und auf
die Schmecker der Poesie passenden Gestalten von Taßo
und Antonio in den Streit geführt hat, worin nothwendig
keiner von beiden untergehn noch zurückstehn durfte, sondern
beide endlich einander gegenseitig halten, und durch ihre
vom Schicksal herbeigeführte Versöhnung, den allgemeinen
Sinn, den die Kunst verlangt, ausdrücken mußten. –
Welcher wesentliche Unterschied ist nun wohl zwischen
beiden Gattungen der Schönheit? – Jene jugendliche
Schönheit, die in der Verletzung des Anstandes sogar noch
einen schönen Eindruck, nemlich den des Naiven machte,
wird nur von ihren näheren Freunden und Bekannten, von
ihrer Familie gehörig gewürdigt; was diese naiv nennen,
erscheint einem besuchenden Fremden vielleicht wie Ungezogenheit –
dahingegen das Betragen jenes Mannes mit der künstlichen
Grazie, wenn auch einen minder tiefen, aber dafür allgemeingültigen,
von jedermann, den alten Bekannten sowohl als den fremd
hinzukommenden anerkannten schönen Eindruck macht. Ich
muß von neuem dagegen protestiren, als wollte ich einen
von diesen beiden Schönheiten vorzugsweise den Siegerkranz
reichen; sie müssen beide gekrönt werden, wie die Herme,
sowohl des Virgil als des Ariost im Götheschen Taßo, sie
müssen uns beide in ihrer Bekränzung wohlgefallen haben,
damit jener dritte unerreichbare Kranz, den derselbe Taßo
zwischen den Wolken verklärt vor sich herschweben sah,
immer sichrer uns durchs Leben führen könne. –
Der
Mensch soll werden wie Gold: durch Glanz, Gediegenheit,
Geschmeidigkeit, durch seine Persönlichkeit, wenn ich
so sagen darf, den näheren Besitzer entzücken, und dann
auch wieder durch die Allgemeingültigkeit seines Werths,
durch seinen anerkannten, allen Besitz der Welt repräsentirenden
Character alle übrigen und die entferntesten selbst reizen.
Hier haben Sie die eigenthümlichen Schönheiten der Griechisch-Romantischen
und der Römisch-Französischen Poesie; nicht um eine von
beiden als ausschließendes Vorbild vor sich hinzustellen,
sondern damit aus den Wechselblicken, die Sie von der
einen auf die andere werfen, sich eine Gestalt bilden
könne, die wahres Ideal zu heißen verdient, weil in ihr
sich das entgegengesetzteste harmonisch verbindet, weil
in ihr alle Einseitigkeiten des Kunstgeschmacks wie der
Kunstanschauung sich in höherer reinerer Gestalt wieder
finden, und in ihre Ganzheit, in den Kreis ihrer ruhigen
Fülle und in seine Bewegung mit fortgezogen werden.
Göthe
und Schiller haben beide die Nothwendigkeit eingesehn,
das Deutsche Theater, welches vielleicht allzusehr nach
der Romantischen Seite hinüberschwankte und eben wegen
dieser Einseitigkeit nie im Stande war, auch im Fache
des Romantischen selbst, etwas vollständiges und allgenügendes
zu leisten, durch eine kluge Benutzung des Französischen
Theaters in ein besseres Gleichgewicht zu bringen, und
so sind die Übersetzungen des Tankred, des Mahomet und
der Phädra entstanden, <40:> und haben schöne Früchte
getragen. Auf dieser Stelle kann auch nicht unerwähnt
bleiben, Ifflands großes Verdienst, der selbst Schauspieler
aus der Französischen Schule, das Wesen der Griechisch-Romantischen
Bühne, wenn auch mit weniger glücklichem Erfolg, doch
mit großem ungewöhnlichen Fleiße sich anzueignen bemüht
ist. Hätte der seltene Wetteifer zwischen ihm und Fleck,
dem grade fehlte, was Iffland besaß, und der mit Genie
und Romantischer Fülle in hohem Maaße von der Natur begabt
war, hätte dieser Wettstreit fortdauern können, so würde
die Deutsche theatralische Kunst vielleicht von der ächten
Verbindung ihrer wesentlichen Elemente, des Romantischen
und des Französischen Princips nicht mehr gar weit entfernt
sein. Eben so bilden noch jetzt Friederike Bethmann Unzelmann
und Betty Koch, jetzige Madame Rose in Wien, unter einander
einen höchst lehrreichen Gegensatz, jene durch ihr großes,
den göttlichsten Poesien der Romantischen Zeit gewachsenes
Genie; diese durch ihre klugen, sinnvollen Bewegungen,
und durch den freien Tact, mit dem sie die höchsten Vorzüge
der Französischen Bühne ohne Verletzung der Deutschen
Eigenthümlichkeit geltend zu machen weiß.
So
wäre nun, darf ich mir schmeicheln, das wahre Verhältniß
zwischen der Schönheit, die wenigen, aber diesen wenigen
dann um so mehr gefällt, und der andern Schönheit, die
allgemein gefällt, aber dafür weniger entzückt, bestimmt.
Die sinnvollen Mitglieder dieser verehrungswürdigen Versammlung,
werden sich freilich, wenn sie durchaus einer von diesen
beiden Schönheiten den Preis zuerkennen sollen, für die
erste erklären, wie ich; immer aber mit dem geheimen Wunsch,
daß die nicht zu verachtende Eigenschaft der zweiten,
nemlich, die Allgemeingültigkeit auch auf die erste übertragen
werden könnte; sie werden einen unwiderstehlichen Drang
fühlen, die Schönheit, das Gedicht, den Freund, welche
Sie bewundern und lieben, auch vor andern geltend zu machen.
Wenn man nun betrachtet, wie nach Jahrtausenden, die das
Alterthum, eben so wie nach Jahrtausenden, welche die
neue Welt durchlebte, nachdem freilich alle die schönen
besondern Farben der Poesie schon ausgestorben und verblichen
sind, nun endlich das Allgemeingültige aus den Geisteswerken
der Alten in Gestalt der Römischen Literatur und Kunst,
und das Allgemeingültige aus den Geisteswerken der neuern
in Gestalt der Französischen Literatur und Kunst zurückbleibt,
so kann man freilich zuerst jugendlich schaudern vor der
Starrheit, der Lebenslosigkeit, der Ohnmacht, ich möchte
sagen, vor dem herausstehenden Knochengebäude dieser Werke,
man kann schaudern vor der todten Regelmäßigkeit, vor
dem kraftlosen Gleichgewichte derselben, wie man in der
Jugend vor dem Gedanken des Alters schaudert; aber da
der lebendige Blick nicht lange beharren kann bei dem
Gedanken eines poetischen Alters und eines kraftlosen
unpoetischen Alters in einem und demselben Leben,
so fängt er erst damit an, sich den Gedanken des
Alters, worin der Mensch mehr bedeutet als er wirklich
ist, zu verschönern, dann sich mit ihm und dem Gedanken
des Hinsterbens und des Untergangs allmählich zu versöhnen,
endlich je mehr er sich selbst dieser Zeit mit seiner
Persön- <41:> lichkeit nähert, einzusehen, daß Wachsen
und Sinken, die schwellende Blume und die trocknende Frucht
nichts sind, als entgegengesetzte Formen desselbigen herrlichen
Lebens, und daß diese trocknende Frucht zur reichen Entschädigung
für die Farben, die sie entbehrt, für die herrlichen Lebenssäfte,
die eingegangen oder verflüchtigt sind, für allen Reiz
unmittelbarer Schönheit, daß sie den vollen Ersatz dafür
in sich trägt, in dem herrlichen Saamen, den sie
umschließt, und der ein neues und schöneres Leben verkündigt.
Sehen Sie auf Rom, wie tragisch oder wie sentimental sein
Untergang uns dargestellt werden mag, ob Tacitus oder
Gibbon ihn beschreiben: wer einsieht, wie Römischer Sinn
und selbst die unbedeutendern Werke Römischer Kunst nachher
Früchte trugen, wie Cicero sogar in seiner trocknen Gestalt
den Saamen verbarg, der in den vom Norden und Asien her
so schön befruchteten Boden fiel, und den Petrarcha erzeugte,
der wird das Ehrwürdige in Römischer Kunst, wie gering
auch ihr unmittelbarer Werth sein möge, zu schauen wissen.
Es würde mich zu weit führen, von dieser Seite auch die
Andeutungen, die in der Französischen Literatur liegen,
zu würdigen; dem recht historischen Blick werden sie nicht
entgehn.
Jetzt
bin ich hinlänglich gerechtfertigt, vielmehr habe ich
mir ein Recht erworben, zu erklären, daß ich die Römische
Poesie und die Französische, in sofern sie sich neben
die Griechische Poesie und die Romantische stellen, und
vielleicht gar ihnen vorgezogen werden wollen, unbedingt
verwerfe, daß ich den Vergleich zwischen Homer und Virgil,
oder zwischen Shakespear und Racine eben so lächerlich
finde, als ich es lächerlich finden würde, wenn es ein
alter Mann mit einem Jünglinge, an Schönheit der Glieder,
an Kraft und Lebensfülle aufnehmen wollte. Jeder von beiden
soll gelten in seiner Art und seinem Wirkungskreise, kein
Wetteifer ist zwischen ihnen möglich, aber schöne friedliche
Wechselwirkung, etwa wie Alter und Jugend im stillen Familienleben,
zu beider Erhöhung und Beglückung, und vor allen zur Bildung
des Mannes, der zwischen beiden mitten inne steht. –
Betrachten Sie die Werke des Plautus, des Terenz und des
Seneka, betrachten Sie ferner Racine, Voltaire, Corneille
und Moliere, sie werden in ihrem Bau, in den Materialien,
in den Charactern durchaus nichts finden, was nicht entlehnt
sei; nur einzig eigenthümlich ist der Sinn, in dem alle
diese Dinge zusammen gestellt sind, der durch alle Werke
hindurch sichtbare, unzerstörbare Glaube an eine Regel
der Kunst, der Glaube an Allgemeingültigkeit, der wie
aller tüchtige Glaube auch in gewissem Sinne und
Maaße das hervorbringt, woran er glaubt. –
Emendation:
zusammensterben]
susammensterben D