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Percy Matenko, Tieck and Solger. The Complete Correspondence (New York, Berlin: Westermann 1933), 380-384

Ludwig Tieck an Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Ziebingen, 22. 10. 1817

Ziebingen, den 22tn Octbr. 17.
Mein theurer, treuer Freund: vor allen Dingen muß ich um Verzeihung bitten, und Sie müssen mir auch verzeihen, daß ich gegen alles Versprechen so lange geschwiegen, und selbst ihren Brief so lange unbeantwortet gelassen habe. Wie viel ich hier zu kramen fand, zu ordnen, können Sie nicht glauben, ich schreibe ungern meinen Freunden, vor allen Ihnen, wenn ich nicht heiter bin, und habe die Unart, mich zu leicht verstimmen zu lassen. So war es mir, seit ich hier bin, denn meine Engl. Bücher, die ich schon bei meiner Ankunft in Berlin zu finden hoffte, sind noch nicht da, kommen vielleicht noch in Wochen nicht, dies sezt mich für den Shaksp. nicht  nur auf lange zurück, sondern  macht sogar vieles überflüssig, was ich gearbeitet hatte, weil ich nun doch nicht fortrücken kann. Wenn die Bücher nun endlich ankommen, wann soll ich die <381:> Zeit finden, sie zu lesen und das Nöthige zu exercipiren? Dazu hatte ich mir die ersten 4 bis 6 Wochen gesezt: von meinen Abschriften in London höre ich auch nichts; über alle diese Hindernisse bin ich sehr verdrießlich. Seither habe ich auch mehr Zeit damit verlohren, als ich dachte, daß es mich kosten würde, die neue Ausgabe des B. Jonson von Gifford durchzugehn, die gantz gegen meine Ansicht hat, und alles, was B. J. Verhältnis zu Shaksp. betrifft, wieder mit  großer Dreistigkeit und schwachen Sophismen zurück stellt. So ist die Zeit vergangen, und ich verzweifle manchmal an mir selbst, daß das Studium und die Vorliebe für einen Geist so mein Leben einnimmt, und daß ich am Ende doch auch das Rechte nicht von ihm und über ihn werde sagen können. Ich seh recht gut, wo alle irren, aber die wahre Wahrheit – ist es denn andren wohl auch schon so ergangen?
Für den Beitrag zum Kleist danke ich Ihnen von Hertzen, da Ihre Laune nicht vergönnt, mehr niederzuschreiben, so sind mir diese Worte auf jeden Fall sehr erwünscht, auch erinnre ich mich noch deutlich unsers Gespräches, als ich Sie nach Frankfurt begleitete. Nur bitte ich Sie noch, was ich in Berlin, wie so manches in der Verwirrung der vielen Besuche vergaß, mir den Kl. Prinzen Homburg und Herrmann recht bald zu senden, um beide noch einmal aufmerksam zu lesen, legen Sie doch auch die kleinen Bücher bei, die Burgsd. Ihnen über die Pariser Kunstsammlungen gegeben hat, ich zweifle, daß sie Ihnen gehören, ich denke sie sind das Eigenthum eines Bekannten hier in der Nähe, auf jeden Fall werde ich sie gleich wieder erkennen, auch brauche ich sie wegen der Erinnrung: können Sie mir von Spieker Southeys Reisen, oder andre Bücher dieses Autors schaffen, so wie einiges von W. Scott, so ist es mir sehr erwünscht: haben Sie die kleine Ausg. des Shaksp. Sonette mit Venus und Lucretia
von mir? Ist es der Falle, so legen Sie sie gefälligst dem Pakete bei, und da Sie einmal so viel schicken, bitte ich Ihre Frau <382> Schwiegermutter noch einmal um Saly’s Revoluzionszeit und die Molkencur, Sie sollen beides durch Schütz, der bald nach Berlin geht, oder durch die Post zurück erhalten. Lauter Aufträge und Bitten. – Um die six old Plays ängstigte ich mich schon, ich hatte vergessen, daß ich sie Ihnen gegeben hatte; gern studirte und spräche ich mit Ihnen, mit Ihnen am liebsten von allen Menschen den Shaksp., da Sie der unbefangenste sind, und doch auch unterrichtet genug, um bald die Stelle allenthalben zu finden, und Kleinigkeiten interessant zu finden; es giebt in Deutschland kein Studium, wahrlich kein ächtes, des Dichters, auch bei den Schlegeln nicht und in England ein egarirtes, ich weiß nicht gleich einen Ausdruck dafür, der das falsche und aberwitzige zugleich ausdrückte, wir Deutsche sind aber seit Wieland in recht saumseliger und bequemer Bewundrung, die falschen Nachahmungen sind doch noch das Beste, was wir über und durch ihn hervorgebracht haben. Aber Sie haben jezt nicht Zeit, und auch die six Plays nicht gelesen: wie wichtig wäre mir sonst Ihr Urtheil! Ich bin jezt fast überzeugt, daß Shaksp. als junger Mensch sehr viel, und viel mittelmäßiges, ja hie und da Schlechtes geschrieben hat, wahrscheinlich für die Subsistenz, wenn die Engländer ihm die Bürgerkriege und Titus Andr. und Pericles, so wie die andren Cromwell, London Prodigal, oder gar den alten K. John absprechen, so ist die Sache bald abgemacht – dies aber eingesehn, daß diese von ihm sind, so zieht uns die Consequenz viel weiter, und jene Sachen bekommen auch erst dadurch Zusammenhang und Haltung, der Dichter wird uns nun erst individuell, der sonst fast wie ein blendendes Meteor dasteht.
Sie haben mir die   versprochenen ersten Briefe zu unserm Journal noch nicht geschickt, auf die ich mich schon freut[e]. Sie sind gewiß böse: – schlage, nur höre, wie Them[i]stocles sagte – so schicken Sie  diese, wenn Sie auch noch böse bleiben; ich denke auch an diese Arbeit immer, und fürchte nur, daß ich Ihnen meine Unfähigkeit zu philosophiren, und viel- <383:> leicht die Formen der Darstellung ein Aergernis geben werden. – Friedr. Schlegel hat endlich Ihre neuen Gespräche gelesen – (ein Brief von Schütz spricht davon) er findet sie schön geschrieben, meint aber die Form führe freilich zu Wiederholungen, gegen das Ende wären Sie und er sich wieder näher gekommen. – Vielleicht sollte ich dies nicht verrathen, es ist aber so unschuldig: er bittet Sie an der Concordia Theil zu nehmen, deren Ankündigung ich beilege: ich sehe nicht ein, was dergleichen geben soll. – Ich muß zweifeln, daß Schlegel Ihre Dial. gantz verstanden hat; ich kann mich gar nicht genug daran erbauen und unterrichten; jezt ist mir alles lieb, auch die kleinen Stylabweichungen die ich tadelte; ordentlich ist mir jenes angefochtene ordentlich jezt unentbehrlich, es ist eine Nuance, die wir nicht aufgeben dürfen, es war auch in mir nur mein übertriebener Haß gegen alles Berlinische was mich den Anstoß daran finden ließ. –
Noch eine Bitte und Frage, die ich auch in Berl. vergaß, und die Sie mir gantz aufrichtig beantworten müsse: – ist es Ihnen nicht  entgegen, wenn ich meine Bemerkungen von der Reise in Briefe an Sie kleide? Natürl. sehn Sie aber das gantze Mcpt. vorher, ehe ich es herausgebe, und  haben unumschränkte Macht, wegzustreichen. – Ich habe den 1" Band von Hallers Rest. durchgeblättert: er ist ungeheuer weitschichtig, und scheint kaum einen Begriff von Philosophie zu haben; das Polemische und Historische in der ersten Hälfte mag für manchen Mittelschlag von Lesern nützlich seyn, besonders für unsre jetzigen jungen Leute, die gar nichts gelernt haben.
Ich hoffe Sie und die Ihrigen sind gantz gesund, ich hatte mich um Sie theur. Fr. recht geängstigt; grüßen Sie hertzlich Ihre liebe Frau und verehrte Schwiegermutter. Hier ist alles wohl, und dankt für Ihre Grüße und läßt sich Ihnen und den Ihrigen wieder empfehlen, so meine Frau und Kinder, die alten und jungen Burgsdorf, und die Gräfinn Henriette: alle bedauern (so wie ich!) daß Sie nicht haben kommen können: ich konnte Sie gar nicht einmal einladen, denn das Haus ist so voll, daß wir uns umrennen.
Noch ein: meinen Dank für Hanbraken, Von Monde und Derianys: – aber von Hanbraken habe ich nur den 2" und 3" Band erhalten, der 1" muß also ausgeliehen gewesen sein, der mir gerade der brauchbare war. – Leben Sie glücklich, verzeihen Sie die Mühe, die ich Ihnen mache, legen Sie Ihren Aufsatz dem Paket und einem recht weitläufigen Briefe von Ihnen bei, erhalten Sie mir Ihre Liebe, und bleiben Sie so mein Freund, wie ich immer
Der Ihrige.
L. Tieck.
 
Auch Ihre Bücher aus Paris bleiben mit den meinigen noch aus. Alles geht verdrießlich langsam in der Welt, außer die Zunahme der Confusion.

H: PSB, folio 73, 4 pp

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