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[ APPENDIX: MATERIALIEN ]

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Percy Matenko, Tieck and Solger. The Complete Correspondence (New York, Berlin: Westermann 1933), 375-379

Karl Wilhelm Ferdinand Solger an Ludwig Tieck, Berlin, 4. 10. 1817

Berlin, den 4ten Okt. 1817.

Eigentlich, mein theuerster Freund, sollten Sie wohl, als der Abgegangene, zuerst schreiben. Ich will es aber so genau nicht nehmen, und meinem Herzen folgen; denn es ist mir gar zu traurig, Sie, sogleich nach der Trennung, als einen Verschollenen anzusehn, wie Schütz, von dessen Existenz man auch keine Kunde erhält, wenn er nicht hier ist. Durch H. von Burgsdorf habe ich wenigstens erfahren, daß Ihnen die Reise im Ganzen gut bekommen ist, und das hat mich sehr gefreut. Er wird Ihnen von den Büchern, die Sie wünschten, die mitgebracht haben, welche ich von der Bibliothek erhalten konnte. Southey und Walter Scot waren, wie ich gleich vermuthete, dort nicht zu finden. Vielleicht hat sie Spieker, ich habe nur noch nicht Zeit gehabt mich bei diesem danach zu erkundigen. Auch Ihre Six old plays werden Sie wieder erhalten haben. Ich wollte, wie Sie wissen, diese alten Englischen Sachen nach der Ordnung lesen, bin aber nicht dazu gekommen, und muß dieses, so wie eine neue zuusammenhangende Lesung des Shakspeare bis zu einer Zeit aufsparen, wo ich mehr Muße habe.
Die Ferien sind für mich nicht so fruchtbar gewesen, wie sie sollten. Es ist aber fast gewöhnlich so. An die regelmäßige Arbeit der Collegien gewöhnt, arbeite ich neben dieser in der Regel mehr, als wenn ich ganz frei bin. Diesmal war auch <376:> meine Unpäßlichkeit hinderlich. Jetzt befinde ich mich, Gott Lob, um vieles besser, obwohl ich noch immer nicht das frohe Gefühl der Gesundheit wieder habe, wie wohl sonst. Indessen bin ich doch wieder heiterer und frischer. Auch die vielen mir sehr lieben Besuche haben mich etwas zerstreut. Wäre der Ihrige nur nicht allzu kurz gewesen. Mit Raumer und Hagen habe ich nachher noch schöne Stunden genossen. Nicht lange nach Ihrer Abreise kam gar ein Franzose an, Mr. Cousin, Professor der Philosophie bei der Universität zu Paris, der eine philosophische Reise durch Deutschland machte, um sich in der Kürze von dem Stande der Sachen hieselbst zu unterrichten. Es war ein recht greller Abstich gegen unsren wackeren Green, der einen Tag nach Ihnen abgereist war. Eine der ersten Fragen des H. Cousin war: Monsieur, quel est votre système? Er hat mich, während der 8 bis 14 Tage seines Aufenthalts, oft besucht, und es ist mir blutsauer geworden, in französischer Sprache mit ihm zu philosophiren. Doch war mir seine Bekanntschaft nicht unlieb: er war ernster als die meisten Franzosen, und hat mir manches Interessante von Staats- und gelehrten Sachen aus Frankreich erzählt.
Wie steht’s nun mit Ihren Arbeiten? Machen Sir nur, daß Sie mit dem Werk über Shakspeare bald fertig werden. Jetzt ist es doch wohl zur Ausarbeitung reif? Auch bitte ich Sie, die Vorrede zum Kleist zu beschleunigen. Dazu sollte ich nun freilich mein Scherflein geben, und doch fühle ich mich jetzt nicht recht aufgelegt dazu, und besonders deshalb, weil ich nicht recht weiß, in welcher Form ich es thun soll. Es wird mir schwer, mich hinzusetzen, um ein Urtheil zu elaboriren. Ich gestehe, daß ich anfänglich gegen Kleist das Mißtrauen hatte, welches uns jetzt vohl gegen jeden angehenden, und die Töne der Zeit stark anschlagenden Dichter natürlich ist. In der Penthesilea, im Käthchen von Heilbronn fand ich immer ein sehr hervorstechendes poetisches, aber wenig eigentlich dramatisches Talent. Was ihn mir den Dichtern der Zeit gleichstellte, war der große Werth, den er auf gesuchte Situa- <377:> nen und Effekte, und besonders auf den Gehalt einzelner Charaktere legte, wie auch ein absichtliches Streben, über das Gegebene und Wirkliche hinwegzugehn, und die eigentliche Handlung in eine fremde, geistige oder wunderbare Welt zu versetzen, kurz ein gewisser Hang zu dem willkührlichen Mysticismus, der am Ende mehr interessant als wahr und tief sein will. Was ihn mir dagegen weit über unsere Dichterlinge erhob, das wahr sein tiefes und oft erschütterndes Eindringen in das Innerste des menschlichen Gefühls, das er mir nur oft zu hart und fast roh an das Licht riß, und die außerordentliche energische und plastische Kraft der äußeren Darstellung, wovon wir in den Schattenspielen unsrer Fouqués bei allem Bombast so wenig finden. Diese Eigenschaften äußerte er vorzüglich in seinen Erzählungen, welches Fach ich daher für seinen eigentlichen Beruf hielt. Auch zeigte sich hier seine Behandlung der Charaktere bedeutender; er schien seine Hauptrichtung, diese ganz aus den Begebenheiten zu entwickeln, welches auch der Erzählung angemessen war; und dieser Hang begünstigte auch seine Neigung zu trüben, ja bitteren, zerreißenden Ausgängen. Die Bekanntschaft mit den beiden noch ungedruckten Dramen hat mich nun erst über ihn auf den wahren Standpunkt gesetzt, und meine Achtung für sein Genie unendlich erhöht. Alles, was mir in seinen Anlagen vorher einzeln und abgerissen erschien, vereinigt sich hier, vorzüglich im Prinzen von Homburg, zum schönsten Ganzen, und sein Beruf erscheint mir nun um so entschiedener, je mehr er dem Charakter der Zeit angehört, und nur diesen in seiner edelsten und höchsten Bedeutung darstellt. Auch im Prinzen von Homburg liegt alles im Charakter, auch hier bildet sich dieser vor unseren Augen in den Situationen und durch sie, aber die Wechselwirkung, die Gleichung zwischen beiden Seiten, die zu den höchsten dramatischen Aufgaben gehört, ist vollkommen erreicht. Es schwebt über dem ganzen Sein und Werden des Menschen der ruhige, großartige, dramatische <378:> Blick. Der Prinz, dessen Heldenthum uns zuerst nur als eine Träumerei erscheint, wiewohl als eine hoffnungs- und ahndungsvolle, wird durch die Begebenheiten niedergeworfen und erhoben, er wird erst durch das Leben, was er ist, ein Mensch in jeder Bedeutung. Ein herrlicher, ächt dramatischer Gedanke, und höchst befriedrigend ausgeführt! Am meisten ist die Heiterkeit zu bewundern, die im ganzen Stücke vorherrscht. Sie rührt besonders daher, daß alles in seinem wirklichen, gegenwärtigen Leben aufgefaßt, nichts idealisirt oder mit leeren Redensarten aufstolzirt ist. Daher auch das liebe, heimathliche Gefühl, das uns hindurch begleitet. Welche Wirkung müßten auf ein einigermaßen fühlendes Publikum Stellen machen wie die: »Seltsam! Wenn ich der Dey von Tunis wäre u.s.w.« – Das ist etwas anderes, als die hohle Großsprecherei und alberne Treuherzigkeit, die uns sonst für Patriotismus verkauft wird. – Was den Herrmann betrifft, so ist das Charakteristische da noch überwiegender, und außerdem die politische Richtung sehr vorherrschend. Dennoch hat das Stück eine sehr dramatische Wirkung, und weil es so sehr aus der Wirklichkeit geschöpft ist, deren Abbild es sein soll, so wirkt es beinah, wie ein historisches. Im Herrmann sieht man fast am meisten, wie es dem wahren Genie des Dichters gegeben war, auch das Kühne und scheinbar Ungeschickte mit Glück zu wagen, eine Gabe, die sich beinah in allen seinen Werken zeigt, und oft glänzend bewährt.
Ist Ihnen dies genug, oder soll ich mich ausführlicher und bestimmer ausdrücken? Ich kann nicht ohne Wehmuth Kleists Sachen lesen.
Ich habe angefangen an den Briefen über Philosophie, Religion und Geschichte. Nächstens schicke ich Ihnen eine Probe. Urtheilen Sie dann scharf und bestimmt, damit ich, wenn es nicht dem Zwecke zu entsprechen scheint, einen andren Weg nehme.
Grüßen Sie herzlich Ihre Frau Gemahlin, Dorothee, Agnes, Gräfin Henriette, die sämtlichen Burgsdorfschen und Finken- <379:> steinschen Herrschaften, Schütz, welcher ja wohl wieder da ist, und Kadachs. Behalten Sie mich lieb, und schreiben Sie mir ja bald recht ordentlich. Von mir erhalten Sie auf jeden Fall nächstens wieder einen Brief. Die Meinigen grüßen und befinden sich wohl, nur daß meine Frau manchmal etwas Zahnweh hat.
Ganz der Ihrige
Solger.

H: PSB, folio 72, 4 pp.

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