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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Grätzer Zeitung (Graz), 14. 1. 1804, Nr. 8, Sonnabends-Anhang (unpag.)

„Die Familie Schroffenstein“

Theater.
Grätz.

Den 5. d. wurde hier zum erstenmahl aufgeführet: Die Charlatans (ne) oder: Der Kranke in der Einbildung, eine Posse in drey Aufzügen von J. F. Jünger, und: Die Verwechselung der Neujahrsgeschenke, ein Lustspiel in einem Aufzuge nach dem Französischen des Patratvon Herrn Baumann, k.k. Hofschauspieler; und den 9. zum Vortheil des Schauspielers A. A. Crenzin, ebenfalls zum erstenmahl: Die Familie Schroffenstein, ein Trauerspiel in fünf Aufzügen.
Das erste der zwey Lustspiele ist aus dem Nachlasse des Hrn. Jünger; vielleicht von ihm selbst nicht würdig gehalten, an das Licht gebracht zu werden, oder als ein Entwurf durch den Tod des Verfassers der Vollendung beraubt, kommt es den übrigen Werken dieses mit Recht beliebten Lustspieldichters nicht gleich. Gleichwie Jünger durchaus gewohnt war, alte Stoffe oder Charaktere seinen Lustspielen zum Grund zu legen, ihnen aber durch eine neue mit Witz und launichten Wendungen geschmückte Ausführung, neue Reize zu geben: so kömmt auch in diesem ein ziemlich veralteter Hauptcharakter, ein eingebildeter Kranker, in Herrn von Eckstädt vor, der in den Händen eines medicinischen Charlatans, an zu strenger Diät und an den Mitteln gegen Krankheiten leidet, die in seinem Körper gar nicht vorhanden sind. Da er in die Heyrath seiner Tochter mit ihrem Liebhaber dann erst einwilligen will, wenn er von seinen Krankheiten genesen würde, dieses aber nicht eher zu erwarten ist, als wenn er den Händen seines betrügerischen Äsculaps entrissen wird: so übernimmt es der Bediente des Liebhabers, sich bey ihm als ein berühmter Arzt einführen zu lassen, und durch einige quid pro quo und durch Großsprechereyen von seiner Kunst sein Zutrauen zu gewinnen. Er verschreibt ihm unter medicinischen Formeln eine gute nahrhafte Kost und einige Flaschen alten Rheinweins, von welchem begeistert der frohe Alte gern in die Entfernung seines bisherigen Salbaders williget, und sich um die Einwilligung zur Heyrath, und eine beträchtliche Mitgabe betrügen läßt. Dieser Posse fehlt es nicht an treffendem Witz, obschon er nicht in einer so reichen Ader, wie in den übrigen Jüngerischen Stücken fließet, an starkcomischen Zeichnungen, und an lächerlichen Situationen; doch hebt es sich im Ganzen nicht über die Mittelmäßigkeit. Durch die Lebhaftigkeit der Aufführung gewann es einiges Interesse. Herr Vetter als eingebildeter Kranker und Hr. Schosleitner als der Bediente, welcher die Intrigue führt, verdienen eine auszeichnende Erwähnung.
Auf Unkosten der Wahrscheinlichkeit, über die man bey einer Posse, wie das zweyte Lustspiel ebenfalls ist, gern ein Auge zudrückt, gewinnt man in selbem durch ein leicht eingeleitetes Mißverständnis, und den hieraus entstehenden, gut angelegten und natürlich durchgeführten Doppelsinn ein Paar sehr lustige Auftritte. Ein junges Fräulein schickte ihrem bejahrten Bräutigam in einem Korbe die Briefe zum Neujahrsgeschenke, welche sie mit dessen Neffen, ihrem Geliebten, gewechselt hatte; und dieser legt eine von ihm verfaßte Comödie, die er seinem Onkel zum Neujahrsgeschenk dediciret, bey. Noch vor der Zustellung legt der Bediente vom Hause in eben diesen Korb ein Kind von seiner Mutter, welche es ihm zum Aufbewahren gegeben hatte. Der Onkel, der dasselbe findet, wird durch den Brief des Fräuleins, der auch eine solche Auslegung zuläßt, verleitet, das Kind für eine Frucht ihrer Liebe mit seinem Neffen, und als einen Beweis ihres Zutrauens zu ihm zu halten. Sein Irrthum bestärkt sich noch mehr, als das Fräulein mit ihrem Vater, und der Neffe selbst kommen, und die erstere von ihrem Neujahrsgeschenke, und der letzte von seinem Werke, seinem jüngsten (Geistes) Kinde, sprechen. Aber durch die wahre Mutter, welche ihr Kind abzuholen kommt, entdeckt sich der Mißverstand; die beyden Liebenden weisen auf die wahren, von ihnen geschickten, Neujahrsgeschenke, und der Onkel tritt seine Braut dem Neffen ab.
Diese Zweydeutigkeiten sind mit dem Anscheine einer so großen Naivetät vorgetragen, daß sie auch die Ohren einer gebildeten Gesellschaft nicht beleidigen. Man lachte recht sehr darüber, und verließ vergnügt das Theater.
Da wir von dem vorne angezeigten Trauerspiele zu reden anfangen, müssen wir den Ton unserer Sprache ändern. Von den Spielereyen des Witzes, von den Scherzen der Fröhlichkeit und dem Muthwillen der Laune wenden wir uns zu dem Schrecken des Trauerspiels. In Shackespears hohem Cothurne tritt mit diesem Werke ein neuer Dichter Deutschlands aus der Dunkelheit hervor, eben so überraschend, wie der verkannte und geneckte Collin mit seinem Regulus, aber eben so herrlich und groß. Der tragische Schrecken, nicht jener kleinlichte, der auf überraschenden Vorfällen beruht, sondern ein durchgeführter, immer mehr und mehr sich vergrößernder, jener moralische, der aus dem Anschauen der Schwäche alles menschlichen Selbstvertrauens entsteht, waltet durchaus in diesem Trauerspiele, einem großen, frappant ähnlichen, bis auf die kleinsten Züge wahren Bilde menschlicher Schicksale. Der Gegenstand ist groß und ausgebreitet. Nicht ein einzelner Mensch, nicht eine beschränkte Familie, ein ganzes, großes, mächtiges, wohlgegründetes Haus, das der Schroffensteine, findet seinen Untergang, nicht in einer aufbrausenden Leidenschaft, nicht in einer Cabale der Bösen, sondern in einer Verbindung, die nur die Befestigung und die Größe desselben zum Zwecke hat, und in der allgemeinen, jedem Individuum eigenen, Schwäche der Menschheit.
Die Handlung fängt klein und unbedeutend an, wie die Flocke, die sich am Gipfel des Schneegebirges los macht; allein sie vergrößert sich mit jedem Schritte, den sie macht, bis sie endlich als Lavine fortstürzet, und alle Theile des großen Hauses zerstöret. Die beyden Zweige des Hauses Schroffenstein, zu Rossitz und zu Warwand, hatten eine Familienverbindung unter sich errichtet, vermög welcher, im Falle des Abgangs eigener Erben, eines das andere beerben soll. Diese Verbindung, zur Vergrößerung und Verherrlichung des Stammes errichtet, ward, statt die Quelle des Glückes und der Eintracht zu werden, bald die Quelle des Mißtrauens. Man fieng an sich zu beobachten; das Mißtrauen stieg bald zum Verdacht; die Klätscherey beschäftigte sich mit jedem Umstand; jede Kleinigkeit wurde aufgefangen, bekritelt, geändert, vergrößert, gedeutet, und an Behörde gebracht. Der Kaltsinn wuchs zum Haß, die erhitzten Gemüther mutheten sich gegenseitig nicht mehr Wünsche und Hoffnungen zu; sondern Thathandlungen, Gewaltthätigkeiten und Verbrechen; zufällige Unglücksfälle wurden für Werke der Bosheit des anderen Theiles angesehen. Ein Kind stirbt in Warwand, sogleich schreibt der Verdacht den Vorfall dem Gifte aus Rossitz zu; der Verdacht schleicht von Ohr zu Ohr, eines jeden Witz spielt seine Rolle, und findet einen neuen Grund, und der Verdacht erhöhet sich zur vermeintlichen Gewißheit. Die Wuth hierüber glimmt unter der Asche, und nur die Mäßigung Sylvesters, des regierenden Grafen auf Warwand, hält den Ausbruch der Flamme zurück. Ein Sohn Ruprechts, der regierenden Grafen zu Rossitz, fällt in einen Gebirgsstrom, und ertrinkt. Eine Todtengräbers Wittwe fängt den Leichnam auf, und schneidet ihm einen Finger ab, um einen Zauberbrey daraus zu kochen; Männer aus Warwand thun an ihm ein gleiches. Ruprecht trifft sie bey dieser blutigen Handlung, und da er heftiger, als die in Warwand ist, erwacht bey ihm der Verdacht größer, als dort, und sein Zorn steigt zur Wuth. Sein Schwert trifft zwar die Männer, doch einer bleibt am Leben; er wird gefoltert, sterbend nennt er Sylvesters Nahmen. Dieß gilt dem Argwohn zur Bestätigung, Sylvester habe die Mörder gedungen, und entfesselt die Wuth der Rache. Ruprecht beschwört mit den Seinigen blutige Fehde gegen Warwand. Ein Herold wird abgesendet, den Krieg in den beleidigendsten Ausdrücken anzukünden.
Indessen der Verdacht die Gemüther der Häupter der Familie entzweyet, wirket die Liebe ein Wunder, und spinnet einen Faden an, der die beyden Familien aus ihrem Labyrinthe herausleiten sollte. Der edle Ottokar, des Grafen Ruprechts Sohn, und die schöne Agnes, Sylvesters einzige Tochter, haben sich im Gebirge gesehen. Die stillen Reize der Natur, die Hoffnungen weckenden Schimmer der Morgensonne, die ruhigen Dämmerungen des Abends, die rührende Stille der Haine, die sanften Schattirungen der Fluren sind den neidischen Leidenschaften nicht hold, sie erwecken nur zärtliche Gefühle. Im Arm der Natur erwachte die Liebe. Die schönen Seelen sprachen sich an, und faßten einander unerkannt, ohne die Nahmen sich zu sagen; was frägt die Liebe nach Nahmen, sie hat ihre eigenen Benennungen, die aussprechendsten. Über dem Schlunde der Gefahr vertändelten die Glücklichen schöne Stunden der Liebe, unbewußt, welch ein Vulkan unter ihnen glühe, und wie bald der schwache Boden einbrechen werde, auf den sie sorglos umher hüpften. Denn schon war der Herold, der Bothe des Krieges, in Warwand angekommen. Der Vorwurf, die beleidigenden Ausdrücke desselben, empören in Warwand alles, nur nicht den ruhigen Sylvester, und bliesen in die Glut des alten Verdachtes. Endlich erlag auch jener unter den Vorwürfen Jeronimus, eines dritten Gliedes des Hauses der Schroffensteine, der in beyden Schlössern den Zutritt hatte, und durch den Anschein für Rossitz eingenommen ward. Den edlen Sylvester verließ die Kraft des Lebens, er fiel in Ohnmacht. Die Abwesenheit des besänftigenden Hauptes ließ der Wuth seiner Leute den Zügel, sie fielen über den Bothen aus Rossitz her, und opferten ihn ihrer Rache. Zu spät erholte sich Sylvester, um die That seiner Leute zu hindern; aber bald hatte er Kraft genug, um Jeronimus von seiner Unschuld zu überzeugen. Um bey Ruprecht ein gleiches zu thun, wollte er selbst nach Rossitz hin; allein die Gefahr war zu groß, unangefragt zu gehen. Es wird also Jeronimus vorausgeschickt. Allein ein neuer Vorfall vereitelte auch dieses Vorhaben, und statt die Verwirrung zu heben, vergrößerte es die Verwickelung. Ottokar hatte Agnesen nicht allein gesehen, auch Johann, ein Verwandter der von Rossitz, und da auf Übung in der Ritterschaft. Er sah sie, da er einst mit einem scheuen Rosse in den Fluß stürzte, in dem Kleide der Grazien, nur allein umgeben mit allen ihren Reizen, im Bade; wurde von ihr aus dem Flusse gerettet, aber in die heftigsten Flammen der Liebe gestürzt. Ohne Gegenliebe, und hinter einem mächtigern Geliebten, stieg seine Leidenschaft bis zum Wahnsinn. In verliebter Wuth hatte er Agnesen überraschet, verfolgte das zur Heimath fliehende Mädchen, erreichte, umschlang es, nahe bey Warwand, mit wüthenden Armen, raubte feurige Küsse, both ihm den entblößten Dolch, ihn zu durchbohren, während die erschreckte Agnes betäubt zur Erde sank. Man sah von Warwand die Flucht der Tochter, man erkannte den Mann aus Rossitz, man sah das Ringen, den blitzenden Dolch, Agnesens Fall. Noch tönte das Drohen des Herolds in den Ohren; schon erblickte man in dem verliebten Johann einen Mörder aus Rossitz. Jerome stürzet herbey, und sein Schwert trifft Johannen. Die Wunde und die Leidenschaft versetzen diesen in Wahnsinn, und seine irren Reden besiegeln den Verdacht.
Durch diesen Vorfall wird die Liebe aufgeklärt. Mit Schrecken erkennt Agnes in ihrem Gelieben ihren Feind, der ihren Tod geschworen. Was hat das Leben bey der verrathenen Liebe noch für einen Werth? aber von der Hand des Gelieben sterben, enthält noch viele bittere Süßigkeit. Agnes liefert sich selbst ihrem Feinde aus, sie geht zu Ottokarn in das Gebirge. Aber Ottokars Gesicht hatte sie nicht getäuscht; er theilet nicht den Haß des Vaters, er wanket in dem Vorurtheil gegen Sylvestern; dafür vergütet Agnes ihr Mißtrauen gegen sein Herz durch eine höher aufwallende Flamme. Die Liebenden schwören sich ewige Treue, schwören sich, durch Aufklärung der Verwickelung das Gewitter ober ihren Häuptern zu zertheilen. Ottokar eilt an den Ort des Todes seines Bruders; das Glück leitet seine Schritte, er findet die Tochter der Todtengräberin beym Kochen des Zauberbreyes, er erfährt den wahren Hergang der Geschichte und Sylvesters Unschuld; froh läßt er Agnesen in das Gebirge rufen, um die Freudenspost selbst ihr zu sagen, froh eilt er dem väterlichen Schloße zu, um auch da durch Verkündung seiner Nachricht Ruhe und Frieden und Freude zu verbreiten. Allein er findet da die Verwirrung auf das höchste gestiegen.
Das tausendzüngige Gerücht hatte die Vorfälle von Warwand bereits dahin gebracht; geändert, vergrößert, gedeutet; der Leidenschaft hingegeben, entflammten sie diese wieder auf den höchsten Grad; Ruprecht, der heftige Ruprecht, kennt für seine Rachsucht keine Schranken; Jerome war zu Rossitz angekommen, er schien ein Freund von denen zu Warwand und eine Art Herold von ihnen. Er sollte für den Herold zu Rossitz und Johann das Opfer seyn. Was zu Warwand ein Zufall war, wird zu Rossitz zur That. Jerome fällt, auf Ruprechts Befehl, unter den Streichen des Gesindes von Rossitz. Dieser wilde Streich zerstört alle Wege zur Aussöhnung, gießt Öhl in die Flamme, bewaffnet die zu Warwand, verhärtet Ruprechts Herz, und das Verbrechen führt ihn zu neuen Verbrechen. Unglücklicher Weise hatte Jerome, von Johann unterrichtet, die Liebe Ottokars und Agnesens zu Rossitz entdecket, und den Ort ihrer Zusammenkünfte bezeichnet. In der Wuth des Lasters erblickt Ruprecht sogleich hierin den Ort seiner Rache, sein Schwerdt zielt nach dem Herzen Agnesens. Ottokar, statt der willkommene Bothe des Friedens zu seyn, wird ungehört in den Thurm geworfen, und Ruprecht eilt in das Gebirge. Glücklich entspringt noch Ottokar seinem Behälter; erreicht, vor seinem Vater, Agnesen in der Grotte der Liebe, aber dieser ist ihr schon auf der Spur. Zurückweisen kann er die Gefahr nicht, aber von Agnesen sie ableiten, das will er. Unter verstellter Ruhe und bey den Scherzen der Zärtlichkeit tauschte er mit ihr die Kleider, und sendet sie in den seinigen fort. Ruprecht war in die Höhle gedrungen, er erblickt in der Dunkelheit der Nacht eine Gestalt in weiblicher Kleidung, und ehe Ottokar ohne Agnesens Gefahr sich zu erkennen geben kann, fällt er von seinem eigenen Vater, als Agnes durchbohrt. Der Mord treibt den Mörder weg, aber nahende Fackeln schrecken Agnes in die Höhle zurück, wo sie über ihren gemordeten Gelieben hinstürzet. Die Fackeln sind aus Warwand. Sylvester sucht an ihrer Spitze seine Tochter im Gebirge. Johann hatte ihm die Höhle bezeichnet. Seine Angst treibt ihn weit voran; beym fernen Schimmer der Fackeln erblickt er einen Leichnam in Agnesens bekanntem Gewande, eine Gestalt in Ottokars Kleidern über ihr. Es ist Agnesens Mörder, glaubt der entflammte Vater, und sein Schwerdt durchbohrt seine eigene Tochter. Die Fackeln nähern sich, und bringen Ruprecht gefangen mit, ihr Licht verbreitet sich über die Unglücksscene, und zeigt den Vätern ihre schröcklichen Thaten, während Leute aus Rossitz nachkommen, und durch Aufklärung der Richtigkeit des ersten Verdachts ihre Verzweiflung vollenden.
Aus dieser Auseinandersetzung der Geschichte ersieht man, in welcher Stufenleiter und in welcher genau verbundenen Folge die Vorfälle immer steigen, sich erweitern, immer blutiger, tragischer werden, bis der letzte Streich geschieht; daß durch eine schreckliche Lenkung des Schicksals die Väter in ihrem eigenen Blute wüthen, und selbst ihr ganzes Geschlecht in ihren einzigen Kindern morden. Man sieht zugleich, wie nahe diese Vorfälle jeden Zuschauer, die ganze Menschheit angehen und im Innersten erschüttern müssen, weil sie einen Spiegel vorhalten, in welchem jeder Mensch seine eigenen Schicksale erblicken kann; seine eigenen, indem er darin sieht, wie das Geschick oft die kleinsten Umstände ergreift, um sie zum Saamen der größten Unglücksfälle zu gebrauchen; und wie, durch den Zusammenfluß kleiner Umstände, der rechtlichste Charakter verdorben, und gute Menschen zu Lasterthaten hingerissen werden können. Und in dieser Hinsicht ist dieses Trauerspiel ein eben so philosophisches als moralisches Werk.
Was die Zusammenstellung dieser Begebenheiten in ein großes Bild, die Gruppirung der einzelnen Vorfälle, die Zeichnung der Personen, die allgemeine Farbengebung und die besondere Ausmalung betrifft; so findet man in diesem Trauerspiele nur wenige Schwächen. Der Umfang der Handlung, die Menge der Vorfälle, die durch das Ganze gewissermaßen fortlaufenden Hauptgemälde zu Rossitz, zu Warwand und in der Höhle im Gebirge, machten eine öftere Verlegung des Ortes der Handlung nothwendig. Shakespeare, Göthe, Schiller gaben hiezu Beyspiel und Rechtfertigung; aber doch schadet diese öftere Veränderung der Scene der Wirkung bey der Aufführung; allein sie ist so durchdacht, so klug angeordnet und vertheilet, daß immer ein Auftritt den andern vorbereitet, erkläret oder entwickelt. Die Zeichnung der Charaktere ist mit fester, sicherer Hand ausgeführet; sie verändern sich nur aus hinlänglichen Motiven, und tragen den Saamen dazu schon in ihrer Anlage; der einzige Jeronimus ist schwächer und unbestimmter. Die Ausmalung ist kühn, stark, oder zart und weich, wie es die Umstände erfordern. Die Scenen der Liebe zwischen Ottokar und Agnes sind eine sehr liebliche Parthie, und ergötzen das Auge mit angenehmen Schmelz zwischen den grellen Farben wilder Leidenschaften des Zornes, des Hasses, der Rachsucht, unter welchen die häuslichen Scenen zu Warwand eine besänftigende Mitteltinte halten. Vielleicht hat sich aber doch der Dichter zuweilen zu sehr dem Reichthume der Phantasie überlassen, und einige Auftritte zu weitläufig ausgesponnen. Jene zum Beyspiel, in welchem Jerome ermordet wird. Die letzten Auftritte im Gebirge sind von höchster Wirkung, und durchschauern das Gemüth des Zusehers. Noch giebt es mehrere einzelne scharfe Züge, wie die Mahler sie in Gemälden Drucker nennen, die das Gemälde frappant erhöhen, und unzweifelbare Zeugen des Genies sind. Das Ganze ist in Jamben geschrieben, nicht in fünffüssigen, sondern von verschiedenen Längen, wodurch der Ausdruck oft an Stärke ungemein gewinnt.
Für die hierortige Aufführung hat man sich einige Veränderungen vorzunehmen erlaubt; man wollte den Versbau auflösen, wie man sagt, ein Unternehmen, wofür der Dichter wenig Dank wissen wird; aber doch hörte man in der Declamation ein buntes Gemische von Jamben und Prose. Bey einem Werke der höhern Poesie ist eine richtige, genaue, deutliche Declamation ein Hauptbedürfniß, denn nur durch diese entsteht Verständlichkeit, und nur durch diese entwickelt sich die Schönheit der Diction für den Zuhörer vernehmlich; fehlt es daran, so thut eben diese Schönheit der Dunkelheit Vorschub, und der Zuhörer muß mit dem Vergnüglichen auch noch das Nothwendige entbehren. Allein selten finden sich für die höhere Poesie in unsern prosaischen Zeiten Schauspieler und Publicum; und unsern Schauspielern scheint überhaupt selten die Zeit gelassen zu werden, zu memoriren, und noch weniger zur genauen Auffassung des Sinnes und treuen Wiedergebung desselben. Darum gehen auch gewöhnlich für den Genuß des Zuhörers die schönsten Stellen verloren; dieser hört leeren Schall, statt sinnevoller Worte, und liebt also mehr solche Werke zu lesen, als aufführen zu sehen. Hiezu kömmt auch das geflissentliche Herabziehen der Charaktere in das Gemeine, Natürliche, wie man es vielleicht gerne nennen mag, wobey aber die Natur von den gemeinsten Individuen abstrahiret ist; das Zerren des Dialogs und das Verwässern desselben mit platten, überflüßigen Einschiebseln, die Auflegung des Accentes auf bezeichnende Beywörter, während die bezeichnete Sache darüber verlohren geht; Dinge, welche bey Aufführung eines höheren Werkes von viel größerem Belange sind, als bey den Alletagsproducten unserer Zeit. Demungeachtet wurden einige Charaktere und Scenen gut gegeben, zum Beyspiel, die Unterredung Ruperts mit Jerome, in welcher Herr Vetter ein erboßtes Gemüth und das gräuliche Vorhaben in Miene und Sprache bezeichnete. Nach der Vorstellung wurde Herr Crenzin, der die Rolle des Sylvesters mit Beyfall gegeben hatte, unter allgemeinen Beyfallsbezeugungen hervorgerufen.

Emendationen
das] daß J
zu reden] zureden J
sie] sich J
Opfer] Ofer J

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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