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Allgemeine Literatur-Zeitung (Halle), 22. 8. 1805, Nr. 224, Sp. 373-376 (Antiqua)

„Die Familie Schroffenstein“

BERN u. ZÜRICH, b. Geßner: Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. 1803. 265 S. 8. (1 Rthlr.)
Der höchste Zweck aller Poesie, also auch der dramatischen, ist – Darstellung des Rein-Schönen. Alles, was den Geist in unharmonische Stimmung, in heftige Leidenschaft versetzt, bleibt von ihrem Gebiete mit Recht ausgeschlossen. – Ernste schöne Ruhe ist besonders der Charakter der griechischen Tragödie. Und neuere deutsche Dichter, vom Studium der Griechen geleitet, suchten, indem sie die Kraft und Einfachheit der Alten zum höchsten Ziel nahmen, durch Beymischung des modernen Romantischen ihren Schöpfungen ein neues und höheres Interesse zu geben.
Ob der Vf. des vorliegenden Trauerspiels diese und die griechischen Muster bey der Abfassung seines Werks vor Augen gehabt, oder ob er nach eigenen willkürlichen Ideen gearbeitet, und in wie fern ihm seine Arbeit gelungen sey – dürfte hier eine etwas nähere Untersuchung verdienen.
Das Ganze, wenn man seinen Inhalt mit wenigen Worten andeuten wollte, besteht aus einem dramatisirten Gemälde schrecklicher Begebenheiten, die sich zuletzt sehr unbefriedigend auflösen. Dieß ist gegen die Idee der alten und neuen Tragödie. – Große furchtbare Verkettungen des Schicksals, gegen welches aber heroische Menschen und menschliche Heroen – entweder mit Kraft und tapferm Muthe kämpfen, oder sich ihm mit stiller Größe und Entschlossenheit ergeben – diese stellt uns auch die griechische Tragödie dar. – Eine Reihe bloß schrecklicher Auftritte, wo das Schicksal mit den Menschen, wie mit Puppen spielt – mag wohl in der wirklichen Welt nachzuweisen seyn, – eignet sich indeß nicht für die Kunst. Die Hauptpersonen aber dieses Stücks, Rupert, Johann, Sylvester u. s. w. – erfahren wir mehr von ihnen, als daß sie – ihren Leidenschaften blind gehorchend – dem schrecklichen Schicksal, das sie verfolgt, die Waffen selbst gegen sich in die Hände geben?
Die Familie Schroffenstein nämlich, seit langer Zeit in zwey Hauptstämme getheilt, hatte ehemals einen Erbvertrag unter sich festgesetzt, kraft dessen nach dem gänzlichen Aussterben des einen Stamms der gänzliche Besitzthum desselben an den andern fallen sollte. Unglücklicherweise vereinigen sich nach und nach mehrere Umstände, die beiden Häusern, Rossitz und Warwand, den gegenseitigen Verdacht beybringen, man suche ihren Ruin, um die schrecklichste Habsucht zu befriedigen. (Eine einzige vernünftige Untersuchung hätte indeß den ganzen Verdacht beseitigen können.) Im Hause Warwand stirbt plötzlich der Sohn des Grafen Sylvester, und – wie man argwöhnt – an Gift. Die Vermuthung fällt auf das Haus Rossitz. In Rossitz wird der Sohn des Grafen Rupert todt gefunden, und da zwey Männer aus Warwand, neben dem Todten ergriffen, auf der Folter schrecklich gepeinigt, im Sterben noch das Wort„Sylvester“ aussagen, wird dem ergrimmten Vater der Glaube zur Gewißheit, Sylvester habe die Mörder gedungen. Der lang verhalt’ne Zorn bricht aus. Der Herold Rupert’s wird in Warwand von dem Pöbel erschlagen; in Rossitz zur Vergeltung der Ritter Jeronimus. Johann, ein natürlicher Sohn des Grafen von Rossitz, verliert seinen Verstand aus Liebe zu Agnes, der Tochter Sylvesters. Agnes liebt Ottokar, Ruperts ältesten Sohn. Beide kommen heimlich im Gebirge zusammen. Rupert wirft Ottokarn in den Kerker; dieser entspringt mit Lebensgefahr; in einer Höle finden sich die Liebenden wieder. Sie verwechseln die Kleider, um sicherer zu entkommen. Rupert, im Wahn, Agnes zu morden, ersticht seinen Sohn; Sylvester, der Agnes in der Kleidung des sterbenden Ottokars über diesen hingebeugt findet, ersticht sie – während er an dem Mörder seiner Tochter das Vergeltungsrecht auszuüben glaubt. So endigt die Erbitterung mit einer furchtbaren Verwirrung. Es ergiebt sich durch einen Zufall, daß Peter von Rossitz ertrunken, Philipp von Warwand eines natürlichen Todes gestorben, und der Verdacht beider Familien ungegründet ist. Die Begebenheiten sind geschehen. Doch reichen sich Rupert und Sylvester die Hände, und Rupert sagt: Der Knoten ist gelöst. So endigt sich das Stück.
Und welche Wirkung kann und mag ein solches Stück auf den Zuschauer hervorbringen? Steht er vor der Bühne, um sich vor einer rohen Wirklichkeit zu entsetzen, oder erfordert es nicht vielmehr das Wesen der Kunst, eine Handlung, die schon an sich Interesse haben muß, in ein harmonisches Ganzes zu bringen, und dem Hörer den ruhigen Genuß des Schönen zu gewähren?
Aber auch Wahrheit vermißt man in den meisten hier aufgestellten Charakteren, die dem Tragiker über alles heilig seyn muß, weil aus ihr das höchste Interesse hervorgeht. Wäre es nicht mehr im Charakter eines so tief erbitterten, und zum Theil durch eigne Schuld bis zur Verzweiflung gebrachten Mannes, wie Rupert, sich selbst auf den Trümmern seines zerstörten Glücks zu begraben, als – wenn auch nur scheinbar – sich mit dem Manne, und so schnell, zu versöhnen, der ihm alles genommen, dem er alles nahm? Gertrude’n, die als theilnehmende sanfte Gattin und Mutter geschildert wird, könnte man leicht für eine Giftmischerin halten, wenn sie, um ihrem Gemahl Sylvester – Verdacht gegen Eustache, Ruperts Gemahlin, beyzubringen, sich also ausdruckt:
– Du wirst dich der Krankheit vor
Zwey Jahren noch erinnern. Als du der
Genesung nahtest, schickte dir Eustache
Ein Fläsch’chen eingemachten Ananas.
Sylvester.
Ganz recht, durch eine Reutersfrau aus Rossiz.
Gertrude.
Ich bat dich unter falschem Vorwand, nicht
Von dem Geschenke zu genießen, setzte
Dir selbst ein Fläsch’chen vor aus eig’nem Vorrath
Mit eingemachtem Pfirsich; aber du
Bestandest drauf, verschmähtest meinen Pfirsich,
Nahmst von der Ananas, und plötzlich folgte
Ein heftiges Erbrechen.
Sylvester.
Das ist seltsam.
Denn ich besinne mich noch eines Umstands.
Ganz recht –. Die Katze war mir über’s Fläsch’chen
Mit Ananas gekommen, und ich ließ
Von Agnes mir den Pfirsich reichen. Nicht?
Sprich, Agnes!
Agnes.
Ja so ist es.
Sylvester.
Ey so hätte
Sich seltsam ja das Blatt gewendet. Denn
Die Ananas hat doch der Katze nicht
Geschadet, aber mir der Pfirsich, den
Du selbst mir zubereitet.
Gertrude.
Drehen freylich
Läßt alles sich! u. s. w.
Und dabey bleibt es. Was soll man davon denken? Doch auch das einzelne Gute, was dieses Stück vor vielen andern voraus hat, muß gewissenhaft angezeigt werden. Trefflich sind die Scenen zwischen Johann, Ottokar und Agnes. Schon die Entstehung der Liebe Johann’s zu Agnes, die er im Anfange der Begebenheiten Ottokarn selbst erzählt, ist äußerst romantisch und interessant. Sein wüthendes Roß hatte ihn in einen Strom geschleudert. Agnes rettet ihn. Er erwacht, und –
ach! ein Engel
Schien sie, als sie verhüllt nun zu mir trat.
Denn das Geschäft der Engel that sie, hob
Zuerst mich Hingesunk’nen, löste dann
Von Haupt und Nacken schnell den Schleyer, mir
Das Blut, das strömende, zu stillen –
Ottokar.
Und sprach sie nicht?
Johann.
Mit Tönen, wie aus Glocken; fragte, stets
Geschäftig, wer ich sey? woher ich komme?
Erschrack dann lebhaft, als sie hört’, ich sey
Aus Rossiz u. s. w.
Trefflich dargestellt ist ferner die Scene, wo der halb wahnsinnige Johann seine Geliebte verfolgt, ihr den Dolch reicht, um von ihren Händen zu sterben, wie sie – im Wahn, daß er sie ermorden wolle, um Hülfe ruft, und unschuldig den Verdacht gegen Rossiz nur noch häuft.
Überhaupt sind die Scenen gut angelegt, die Begebenheiten richtig geordnet, das Interesse gut vertheilt, so daß, wenn die Idee des Ganzen nicht fehlerhaft wäre, dieses Stück gewiß unter die bedeutendsten in seiner Art gehören würde.
Auch die Sprache ist im Ganzen genommen edel, kaftvoll – und nur selten matt und prosaisch. Sprachwidrig ist es indeß, zu sagen:
Niedersteigen
Glanz umstrahlet
Himmelshöhen zur Erd herab (?)
Sah ein Frühling
Einen Engel,
Nieder trat ihn ein frecher Fuß.
Der Vf., dem es gewiß nicht an Dichtertalent fehlt, scheint Aufmunterung zu verdienen; sonst würden wir bey der Anzeige dieses Werks sicher nicht so weitläufig geworden seyn.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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