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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil. Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885]) (Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, XXXV-XXXIX

Thun

Inzwischen wurde der Aufenthalt in Bern aus politischen Gründen unerquicklich. Die Patrizier bekamen die Oberhand, Junker und Pfaffen ergriffen die Zügel des verfahrenen Staatswagens, und ihr Anführer, der tapfere Landammann Reding, kutschierte ihn noch tiefer in den alteidgenössischen Sumpf. Der verdächtig gewordene Zschokke und seine zwei norddeutschen Freunde Wieland und Kleist wurden von der Berner Polizei scharf beobachtet. Als Zschokke einst seinen Bekannten Kleist, Geßner, Wieland,  Pestalozzi u. a. ein Nachtessen gab, fand die heimkehrende Gesellschaft vor der Hausthüre eine Polizeiwache, welche ehrlich gestand, der Herr Polizeidirektor wolle wissen, wer bei ihm speise. Kein Wunder, daß Kleist, der noch immer seinen Gedanken, sich in den Schweizer Bergen anzukaufen, nicht aufgeben mochte, sich von Bern hinweg sehnte. Gewiß drängte es ihn, seine poetischen Pläne in ländlicher Stille auszuführen, aber der Schwester verriet er noch nichts davon. „Ich will Dir wohl sagen,“ schreibt er, „wie ich mir das letzte Jahr erkläre. Ich glaube, daß ich mich in Frankfurt zu übermäßig angestrengt habe; denn wirklich ist auch seit dieser Zeit mein Geist seltsam abgespannt. Darum soll er für jetzt ruhen, wie ein erschöpftes Feld; desto mehr will ich arbeiten mit Händen und Füßen. Ich glaube nun einmal mit Sicherheit, daß mich diese körperliche Beschäftigung wieder ganz herstellen wird.“ Er begann in der That, sich nach kleinen Bauerngütern umzusehen, die Landleute auszufragen und landwirtschaftliche Bücher zu lesen; und Zschokke förderte ihn eifrig in seinem Vorhaben. Er verweilte einige Wochen in Thun, wo er die alte Lust zur Arbeit wieder bekam, oft und weit spazieren ging und Zschokkes Gesellschaft sehr vermißte, denn außer den Güterverkäufern kannte er wenige angesehene Männer, wie den Haupt- <XXXVI:> mann von Mülinen\1\ und dessen Hofmeister. Er ließ sich von seinem Schwager von Pannwitz den Rest seines Vermögens überschicken. Jedoch der Plan, den er bereits gefaßt hatte, ein etwas verfallenes Gut am Thunersee für ungefähr 3500 Thaler und später ein anderes in dem Gwat bei Thun, unweit der Mündung des Kanderflusses, zu kaufen, scheiterte, wie er später meldet, an den unsicheren Zuständen und der drohenden Gefahr, französischer Unterthan zu werden. „Mich erschreckt die bloße Möglichkeit, statt eines Schweizerbürgers durch eines Taschenspielers Kunstgriff, ein Franzose zu werden“, schreibt er am 2. März an Zschokke. „Sie werden von den Unruhen in Simmenthal gehört haben, es sind bereits Franzosen hier eingerückt, und nicht ohne Bitterkeit habe ich ihrem Einzuge beigewohnt.“ Er entschloß sich, den Rest seines baren Vermögens ohne weiteres zu verzehren und sich für die Zukunft auf seine nun endlich zu Tage getretene Schriftstellerei zu verlassen. Nach kurzem Aufenthalt in Bern begleitete er auf einige Tage mit Wieland seinen Freund Zschokke in den Aargau, wo letzterer das Schloß Biberstein bei Aarau gepachtet hatte, und zog sich dann in die tiefste romantische Einsamkeit zurück, um sich wieder an der höchsten Aufgabe seines Ehrgeizes zu versuchen. Nachdem er einige Wochen in Thun gewohnt, mietete er „eine Insel in der Aare mit einem wohleingerichteten Häuschen“, die am Ausfluß der Aare aus dem Thunersee belegene sogenannte Delosea-Insel.\2\ In einem schwärmerischen Briefe an die Schwester vom 1. Mai beschreibt er sein dortiges idyllisches Leben: „Jetzt leb’ ich auf einer Insel in der Aare am Ausfluß des Thunersees, recht eingeschlossen von Alpen, eine Viertelmeile von der Stadt. Ein kleines Häuschen an der Spitze, das wegen seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war, habe ich für sechs Monate gemiethet und bewohne es ganz allein. Auf der Insel wohnt auch weiter Niemand als nur an der anderen Spitze eine kleine Fischerfamilie, mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht und auswirft. Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirthschaft führt: ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt wie ihr Taufname, Mädeli. Mit der Sonne stehen wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite; dann essen wir zusammen; Sonntags zieht sie ihre schöne Schweizertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über, sie geht <XXXVII:> in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, und nach der Andacht kehren wir Beide zurück. Weiter weiß ich von der ganzen Welt nichts mehr. Ich würde ganz ohne alle widrigen Gefühle sein, wenn ich nicht, durch mein ganzes Leben daran gewöhnt, sie mir selbt erschaffen müßte. So habe ich zum Beispiel jetzt eine seltsame Furcht, ich möchte sterben, ehe ich meine Arbeit vollendet habe … Übrigens muß ich hier wohlfeil leben, ich komme selten von der Insel, sehe Niemand, lese keine Bücher, Zeitungen, kurz, brauche nichts als mich selbst. Zuweilen doch kommen Geßner oder Zschokke oder Wieland aus Bern, hören etwas von meiner Arbeit und schmeicheln mir; – kurz, ich habe keinen anderen Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht und eine große That. Denn das Leben hat doch immer nichts Erhabeneres, als nur dieses, daß man es erhaben wegwerfen kann. – Mit einem Worte, diese außerordentlichen Verhältnisse thun mir erstaunlich wohl, und ich bin von allem Gemeinen so entwöhnt, daß ich gar nicht mehr hinüber möchte an die anderen Ufer, wenn Ihr nicht da wohntet. Aber ich arbeite unaufhörlich um Befreiung von der Verbannung; – Du verstehst mich. Vielleicht bin ich in einem Jahre wieder bei Euch. Gelingt es mir nicht, so bleibe ich in der Schweiz, und dann kommst Du zu mir. Denn wenn sich mein Leben würdig beschließen soll, so muß es doch in Deinen Armen sein.“
Der Brief ist nicht wörtlich zu nehmen, sondern wie ein verhaltenes Gedicht. Das damals noch nie erstiegene Schreckhorn soll in dieser Schweizeridylle Stimmung machen, und auch das Zusammenleben mit Mädeli – sie hieß Elisabeth Magdalena Stettler, geboren 20. Juli 1777\1\, also einige Monate älter als Kleist – scheint nicht viel mehr als eine Fiktion zu sein, so herzlich man auch dem unglücklichen Dichter ein nicht bloß erträumtes Liebesglück gönnen könnte.
Kleists Lage hatte sich äußerlich also sehr verändert. Wohl war ihm wegen der politischen Unruhen sein Entschluß, ein Gut zu kaufen, leid geworden, so daß er jetzt Wilhelminens Weigerung, ihm in die Schweiz zu folgen, für ein Glück ansah, aber die Berner Freunde hatten seinen schon halb aufgegebenen Ehrgeiz wieder erweckt; er hatte seine idealen Bedenken gegen das „Bücherschreiben“ aufgegeben, verdiente mit seiner Feder Geld und hoffte schon „vielleicht in einem Jahre“ seine Rückkehr in die Heimat als ruhmgekrönter Dichter erwirken zu können. Trotzdem knüpfte er mit seiner Braut nicht wieder an. In diese Zeit fällt <XXXVIII:> sogar sein Bruch mit ihr. Um die Jahreswende hatte sie ihm noch einmal brieflich all ihre Bedenken wiederholt und war ohne Antwort geblieben. Kleist entschuldigte sich später, er habe es in einer Menge von vorhergehenden Briefen an Bitten und Erklärungen von seiner Seite nicht fehlen lassen, so daß von einem neuen Briefe kein besserer Erfolg zu erwarten war, und da es ihm selbst schien, als erwarte sie keine weiteren Bestürmungen, so ersparte er sich und ihr das Widrige einer bestimmten Antwort. Ein vom 10. April aus Frankfurt datierter liebevoller Brief Wilhelminens, der keine Ahnung von der nahen Lösung des Verhältnisses verrät, schien nun aber doch Kleist eine schriftliche Erklärung notwendig zu machen. Es erfolgte sein auf der Aarinsel am 20. Mai geschriebener letzter Brief an Wilhelmine, der fast hart und kalt klingt und nicht einmal ein Wort des Trostes enthält über den Tod ihres Bruders Karl und ihre eigene schwere Erkrankung. „Ich werde wahrscheinlich niemals in mein Vaterland zurückkehren“, setzt er ihr auseinander. „Ihr Weiber versteht in der Regel ein Wort in der deutschen Sprache nicht, es heißt: Ehrgeiz. Es ist nur ein einziger Fall, in welchem ich zurückkehre, wenn ich der Erwartung der Menschen, die ich thörichter Weise durch eine Menge von prahlerischen Schritten gereizt habe, entsprechen kann. Der Fall ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Kurz, kann ich nicht mit Ruhm im Vaterland erscheinen, geschieht es nie. Das ist entschieden, wie die Natur meiner Seele.“ Er meldet ihr, daß er sich nun, mit Lust oder Unlust, gleichviel, an die Schriftstellerei machen muß. „Indessen geht, bis mir dieses glückt, wenn es mir überhaupt glückt, mein kleines Vermögen gänzlich drauf, und ich bin wahrscheinlicher Weise in einem Jahre ganz arm. Und in dieser Lage, da ich noch außer dem Kummer, den ich mit Dir theile, ganz andre Sorgen habe, die Du gar nicht kennst, kommt Dein Brief und weckt wieder die Erinnerung an Dich, die glücklicher, glücklicher Weise ein wenig ins Dunkel getreten war. Liebes Mädchen, schreibe mir nicht mehr! Ich habe keinen anderen Wunsch, als: bald zu sterben!“ Damit war das Verhältnis gelöst.\1\
Die romantische Idylle auf der Aarinsel sollte jäh mit einer Katastrophe enden. Die vorangegangenen Erschütterungen seines Gemütes und die geistige Überanstrengung führten, wie man annehmen muß, gemeinsam die heftige Erkrankung herbei, die ihn im Juni ergriff und nach Bern zurücktrieb, wo er von Zschokkes Freund, dem Arzt und Apotheker Dr. Wyttenbach, behandelt wurde. Erst im August, nachdem er die Seinigen ein Vierteljahr ohne Nachricht gelassen hatte, schrieb er an seinen Schwager von Pannwitz, er liege seit zwei Monaten krank in Bern, und seine Mittel seien aufgezehrt. „Ich bitte Gott um den Tod und Dich um Geld, das Du auf meinen Hausantheil erheben mußt. Ich kann und mag nichts weiter schreiben als das Allernothwen- <XXXIX:> digste … Lebet wohl, lebet wohl, lebet wohl!“ Auf diese Nachricht hin eilte die treue Ulrike zu ihm und pflegte ihn, bis er genesen war. Eben als sie nach Bern kam, hatte der politische Wind wieder gewechselt. Die freisinnige helvetische Partei, die, während Kleist in Thun war, wieder an die Spitze des Landes getreten, mußte einer Verschwörung der Patrizier weichen, und in Bern herrschte gerade damals ein kopfloses Regiment der Willkür und Rache. Der Schweizer Ehrenbürger Zschokke fand es geraten, auf einige Zeit in den Schwarzwald zu reisen, Geßners Nationalbuchdruckerei wurde geschlossen und versiegelt, und auch Kleist und Wieland müssen zu den Mißliebigen gehört haben. Unter solchen Umständen war es Ulrike nicht schwer, ihren Bruder von der Notwendigkeit zu überzeugen, das unsichere Land zu verlassen. Nach Frankfurt, wohin Ulrike zurück mußte, wollte Heinrich unter keinen Umständen, denn seine Krankheit hatte ihn ja an der Vollendung seiner Arbeit gehindert, die ihn vom Exil befreien sollte. Die Geschwister beschlossen also, zunächst nach dem preußischen Neuchâtel, dann nach Jena und Weimar zu reisen, als ein unvorhergesehenes tragikomisches Ereignis ihren Abschied beschleunigte und ihnen den jungen Wieland als Reisebegleiter aufdrängte. Unter dem Vorwande, daß Wieland und Kleist vor dem Generalquartier gestanden und gelacht hätten, erhielt ersterer vom Polizeidirektor den Befehl, innerhalb zwölf, dann binnen zwei Stunden, endlich in einer, die Stadt zu verlassen. In der vorgeschriebenen Zeit fuhren Kleist, Wieland und Ulrike, der letzteren Koffer und Mäntel bei Geßner zurücklassend, zum Thore hinaus gen Basel.

\1\ Niklaus Friedrich von Mülinen (1760-1833), nachmals Schultheiß der Stadt und Republik Bern und Stifter der Schweizerischen Geschichtsforschenden Gesellschaft. Er wohnte damals auf seinem Gute zu Hochstetten an der Einmündung des Thunersees in die Aare und konspirierte von dort aus gegen die helvetische Regierungspartei. Wenige Monate nach Kleists Aufenthalt auf der Insel kamen die Mitglieder der aristokratischen Partei daselbst nächtlicherweile zusammen und beschlossen den unverzüglichen Aufruf des schlagfertigen Volkes unter die Fahnen. Vgl. Der Schweizerische Geschichtsforscher (von C. L. Wurstenberger) 1837, IX, 118ff.
\2\ Das Häuschen, das damals oft zum Sommeraufenthalt vermietet wurde, steht noch heute in unverändertem Zustande. Vgl. Zolling 63ff. mit Abbildung.
\1\ Die Meinung des Ortsgeistlichen von Thun, daß Kleists Mädeli Magdalena Furer geheißen, ist durch neuerliche Untersuchungen des Professors Arnold Hidber in Bern widerlegt worden. Dieser hat die „Bürgerrodel“ von Thun und Bern durchgesehen und das Mädeli, die Fischerstochter auf dem Delosea-Inseli, in Elisabeth Magdalena Stettler eruiert. Ebenso bestimmt hat derselbe das wohl durch Kleists schwärmerischen Ausruf: „ein Kind, ein schön Gedicht und eine große That“ hervorgerufene Gerücht, der Dichter sei hier Vater geworden, urkundlich ins Gebiet der Fabel verwiesen. Die Standesregister wissen nichts davon. Warum Biedermann Mädeli (Diminutiv von Magdalena) „Maideli“ nennt, ist uns unerfindlich.
\1\ Bülows S. 24 gegebene Inhaltsangabe des letzten Briefes von Kleist an seine Braut stimmt mit dem jüngst veröffentlichten Texte keineswegs überein.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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